Verschlagen wie ein Wolf

Der kanadische Autor Kevin Major erzählt in „Caribou“ zutiefst humanistisch von Schicksalen im U-Boot-Krieg

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Cabotstraße ist eine im atlantischen Kanada gelegene Meeresstraße zwischen der Insel Neufundland und der Kap-Breton-Insel. Benannt wurde sie nach dem italienischen Seefahrer Giovanni Caboto, der im Jahre 1497 das Gebiet im englischen Auftrag erkundete. Die wichtige Schiffsroute schafft die Verbindung zwischen dem Atlantik und den Binnenhäfen der Großen Seen. Täglich verkehren Fähren zwischen den beiden Städten North Sydney auf der Kap Breton-Insel und Port-aux-Basques auf Neufundland. Hier war am 14. Oktober 1942 die Passagierfähre Caribou unterwegs. Ohne Vorwarnung wurde sie von dem deutschen U-Boot U69 torpediert und sank innerhalb von fünf Minuten. Dabei kamen 136 Passagiere und Besatzungsmitglieder ums Leben.

Der kanadische Schriftsteller Kevin Major wurde 1949 auf der Insel Neufundland geboren und lebt dort. Er ist Autor von Romanen, Theaterstücken, Kinder- und Jugendbüchern und ein profunder Kenner seiner Heimat sowie Verfasser eines Sachbuchs über ihre Geschichte. Das sind ideale Voraussetzungen, die größte Katastrophe in der Geschichte Neufundlands literarisch zu gestalten. Dies tat Kevin Major zunächst mit einem Theaterstück, ehe er sich zum Roman entschloss.

Gleich zu Beginn wird klar, welch kühne Entscheidung der Verfasser getroffen hat: Der deutsche U-Boot Kommandant Ulrich Gräf, 26-jähriger Kapitänleutnant, trägt seine Erlebnisse als Ich-Erzähler vor. Die kanadische Sicht hingegen wird auktorial erzählt. Ulrich Gräf hat es leichter als die Personen auf der Gegenseite, literarisches Profil zu gewinnen. Ein Autor mit der Erfahrung Kevin Majors räumt dem ehemaligen Kriegsgegner nicht zufällig diesen literarischen Vorteil ein. Respekt!

Gräf ist von Neufundland fasziniert. Er sieht eine majestätische Insel mit gigantischen Klippen, eine wilde, einmalige Eruption der Natur. Der Mann ist kein Nazi. Ihn fasziniert nicht das Hakenkreuz, sondern, wie gleich zu Beginn deutlich wird, die Aussicht auf das Ritterkreuz. Der junge U-Boot-Kommandant fühlt sich als Auserwählter. Ein U-Boot, findet er, ist verschlagen wie ein Wolf. Ulrich Gräf hat in Dresden bei Wilhelm Lachnit das Zeichnen gelernt und ist von den Malern Otto Dix und Franz Marc beeindruckt. Der Glaube an den heldenhaften Kampf der deutschen Kriegsmarine ist ihm jedoch wichtiger als die Kunstakademie. Er gibt sich der trügerischen Hoffnung hin, beide Neigungen verbinden zu können. „Ein Mann ist erst ein Mann, wenn er die unterschiedlichsten Qualitäten in sich vereint.“

Auf der Caribou (so heißt in Nordamerika das Rentier) prägen sich bei raschen Perspektivenwechseln vor allem drei Personen ein: die in die Jahre gekommene Chefstewardess Bride und ihr junger Mitarbeiter John Gilbert und ein junger Soldat. Bride war Jahre zuvor auf Arbeitssuche ausgewandert. Großbritannien hatte dem verarmten Neufundland den Status als selbstverwaltendes Dominion wieder entzogen und als Kronkolonie mit finanziellen Beihilfen abgespeist. Nun ist die Armut überwunden – die USA durften Militärbasen eröffnen, was Geld und junge Soldaten auf die Insel brachte. Auf der Fähre haben zwei von ihnen, Buzz und Hank, bei hübschen Krankenschwestern größere Chancen als der pflichtbewusste, aber unsichere John Gilbert. Er ist zunächst alles andere als ein „Held“ und gerade deshalb eine interessante Figur.

Nur knapp umrissen wird das Porträt des Fährenkapitäns Ben Taverner. Er hat bereits das achte Schiff unter seinem Kommando, zwei seiner Söhne sind ebenfalls an Bord. Der wortkarge Seebär fährt diese Strecke dreimal pro Woche und kennt die Cabotstraße wie seine Westentasche. Den Optimismus seines Sohnes, die Fähre sei im Geleitzug gut geschützt, teilt er nicht. Es sind zahlreiche Militärpersonen als Passagiere an Bord – ein lohnendes Ziel für feindliche U-Boote. Am Ende hilft Taverner einigen Leuten ins Rettungsboot. Er kämpft sich zum Bug vor und tut, was er ein Leben lang getan hat: geht dorthin, wohin ihn sein Schiff führt. Auch Bride kommt ums Leben. Hank schafft es wie John in ein rettendes Boot.

Nach dem Untergang der Caribou verliert der Roman zunächst an Fahrt. Gräf erzählt vom historisch zwielichtigen Admiral Dönitz, einst Idol der deutschen U-Boot-Leute, schildert differenziert seine Offiziere, schwärmt von seiner Liebe zur Krankenschwester Elise. Sie beherrscht sein Herz, die Feindfahrten seinen Kopf. Vor allem wegen des nazihörigen Vaters ist Gräf enttäuscht von seinem weihnachtlichen Besuch bei den Eltern in Dresden. Das alles verblasst gegenüber der Dramatik auf See.

John und Hank als Überlebende der Caribou erfüllen sich ihren sehnlichsten Wunsch und rächen ihre toten Kameraden. John Gilbert dient im Konvoi eines Zerstörers, der ein deutsches U-Boot vernichtet. John weiß nicht, dass dies die U29 ist, die die Caribou auf dem Gewissen hatte. Die Gerechtigkeit hat gesiegt. Ulrich Gräf stirbt mit dem Gedanken ‚Zum Teufel mit dem Krieg‘. Hank ist inzwischen First Lieutenant der U. S. Air Force und Bomberpilot. Er fliegt mit 460 anderen Bombern vom Typ B-17, den berühmten „Fliegenden Festungen“, auf eine Stadt zu, die in der Nacht zuvor von der britischen Luftwaffe verwüstet wurde. Ihren Namen hat er noch nie gehört: Dresden. Hank trägt dazu bei, dass der Krieg zu Ende geht, bevor das Jahr vorbei ist.

Das gründlich recherchierte und von Bernd Gockel tadellos übersetzte Buch wird um einen Anhang bereichert, in dem neben Fotos das Nachwort von Christian Adam vom „Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr“ hervorsticht. Er verweist mit Recht darauf, dass der Blick Kevin Majors auf beide Seiten „zutiefst humanistisch geprägt“ ist.

Titelbild

Kevin Major: Caribou.
Aus dem Englischen von Bernd Gockel.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2020.
344 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783865326836

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