Viel Licht, kurze Schatten

Monika Maron bedenkt in „Artur Lanz“ den ‚Postheroismus‘ und dessen individuelle und kollektive Gefahren

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wendung „macht sich gemein mit …“ ist wohl derzeit – zum einen – eine der beliebtesten, wenn es darum geht, sich der Lästigkeit eines differenziert-wägenden Blicks durch sachlich wie moralisch wie intellektuell brandmarkende Ohrfeigen zu entledigen. Diese an Enthemmungspotential nach oben offenen Ohrfeigen handelt man sich ein, wenn man nicht gewillt ist, in den polit-medial erzeugten und angeheizten, öffentliche Belange unterschiedlicher Art betreffenden Mainstream einzustimmen. Der herrscht schon bei lauem Gegenwind rigoros an. Jedoch: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, wusste schon vor annähernd vier Jahrzehnten Michael Schneider mit einer gleichlautenden Essaysammlung zu verkünden. Doch wen interessieren heute schon jene fernen alten Zeiten, die tatsächlich ausnahmsweise auch einmal insofern gute waren, als in ihnen von vielen der dazu Berufenen, der dazu geradewegs Verpflichteten noch kritisches oder auch skeptisch-konservatives Denken (Scheidewege, gerade eingestellt) so oder so hoch geschätzt wurde, dazu eine Streitkultur, die diesen Namen verdiente?

Das Überschreiten, ja Niederreißen von Grenzen und (Unter-)Scheidungen im Namen von Internationalisierung, Fraternisierung (und Sororisierung), Anthropologisierung, offener Gesellschaft, Globalisierung und dergleichen mehr gehört – zum anderen – zu den beliebtesten Berufs- und Freizeitaktivitäten dieses Mainstreams. Der legt sich diesbezüglich nur die allernotwendigsten, die ausschließlich der Verteidigung der individuellen wie „unser aller“ Freiheit dienenden Fesseln an:

Von keinem Selbstzweifel angekränkelt, bestimmt er aus freien Stücken, wer wann wo zu wem über was in welchem Medium in welcher Weise etwas sagen darf und dergestalt als diskurs- und sozusagen satisfaktionsfähig angesehen wird. Diejenigen, die diese Diskurs- und Satisfaktionsfähigkeit schon aufgrund per se empörender Einsprüche – von Schlimmerem (und wirklich Schlimmem) soll erst gar nicht die Rede sein – am klarsten verfehlen, sind dann in der Regel diejenigen, die den Lückenfüller für die eingangs angeführte Wendung „macht sich gemein mit …“ abgeben.

Darf beispielsweise ein in der adenauer-kiesingersch republikelnden BRD aufgewachsener Mann über einen Roman einer Schriftstellerin schreiben, die annähernd 40 Jahre lang in der ulbricht-honeckersch sozialismenden DDR gelebt hat? Darf er dies insbesondere dann, wenn dieser Roman u.a. allerhand vermeintliche Errungenschaften des emancipatory turns der letzten 50 Jahre als Ausdruck „weibliche[r] Selbstüberhöhung“ kritisch unter die Lupe nimmt und – unter expliziter Berufung auf Doris Lessing – für die „entmachteten Söhne der Patriarchen“ „Mitleid“ empfindet und für sie Partei ergreift? Reicht es dann zum das Unterfangen legitimierenden (und diskurspragmatisch eher marginalisierenden?) Grund tatsächlich, dass Rezensent und Schriftstellerin die Pensionsgrenze überschritten haben und damit betriebswirtschaftlich sozusagen abgeschrieben sind? Oder muss auch noch die jeweilige, ja allein moralisch auf ein einer Senkrechten nahekommendes Gefälle (sagt der Mainstream) hinauslaufende staatliche Herkunft und Sozialisation (Rechtsstaat vs. „Unrechtsstaat“) ins Feld geführt werden, um einer prekären Gender-Konstellation zum Trotz dennoch ein Deutungs- und Bewertungsrecht als legitim ableiten zu können? Oder ist dieses Unterfangen ohne Wenn und Aber einfach nur ein – Freiheit hin, Freiheit her, Hauptsache, wir verteidigen sie – No-Go?

Es ist mir eine Freude, den Roman Artur Lanz willkommen zu heißen und mich von daher auch mit ihm gemein zu machen, aufs Ganze gesehen und in der Tendenz jedenfalls. Das ist schon deshalb so, weil der Roman sprachlich durch ein Zugleich von Präzision, Vielgestaltigkeit und Leichtfüßigkeit beeindruckt, kompositorisch weitestgehend überzeugt und eine ganze Reihe ebenso schöner wie bedeutsamer Sätze wie den folgenden enthält: „Freiheit ohne Mut ist nicht viel wert“. Dieser Freude steht auf inhaltlicher Seite auch keineswegs das eine oder andere Stirnrunzeln und die Prognose entgegen, dass sich Monika Maron mit diesem trotz seiner atmosphärischen Stille, seiner Behutsamkeit der littérature engagée zuzurechnenden Roman vermutlich mehr ‚Feinde‘ als ‚Freunde‘ machen wird – bedeutet das erfreulicher Weise doch immer auch, nicht totgeschwiegen, sondern wahrgenommen zu werden und im Gespräch zu sein.

Das ist ja dann nicht ganz ohne Belang, wenn es basal um den als Wohlstandsphänomen begriffenen westlich-bundesrepublikanischen „Postheroismus“ („eine Verschleierung unserer Feigheit“) und eine doch so steile These wie die der Ich-Erzählerin geht, „eine Gesellschaft, die von sich behauptet, postheroisch zu sein“, wolle und müsse „eben untergehen“, auch weil sie verkenne, dass nicht man selbst, sondern „dein Feind“ darüber entscheidet, „ob du einen Feind hast“. Ob im erweiterten Zusammenhang dieser stark an Carl Schmitt erinnernden These der affirmierende, explizite Bezug auf Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes zuträglich ist, mag dahingestellt sein.

Dabei soll gleich angemerkt werden, dass es sich bei Artur Lanz nach bspw. an Theodor Fontane und dessen poetischer Gerechtigkeit geschulten, poetisch-realistischen Maßstäben nicht um ein großes, vermutlich über lange Zeiträume bleibendes bzw. erinnertes Buch handelt. Dazu fallen – leider nicht mit letzter ebenso zu delectare wie zu prodesse führender Konsequenz à la (ups!) Atze Schröder – vor allem eine ganze Reihe von männlichen und insbesondere weiblichen Nebenfiguren, allesamt Vertreter der westdeutschen Nachkriegsgeneration, zu stereotyp, zu karikaturhaft aus.

Gequält von beispielsweise im ach so bedauernswert schmutzigen Indien mit Ayurveda-Luxusurlauben rücksichtslos gegen sich selbst angegangenen Wohlstands,problemen‘ und vom Leben selbst dann noch mit „rätselhafte[m] Aufstieg“ verwöhnt, wenn sich wie im Falle der Figur der ehemaligen Hamburger Kultursenatorin Penelope Niemann das Qualifikationsprofil im Wesentlichem in der „biologisch[n] Tatsache“ des Frauseins erschöpft, unterscheiden sich diese Figuren der Anlage nach doch wesentlich von den beiden Protagonisten. Die nämlich sind u.a. als (Selbst-)Ergründer profilierte Charaktere. In dieser unterschiedlich gearteten Figurenanlage – eher zum ‚Abschuss‘ freigegebene ‚Staffage‘ dort und auf ein Identifikationsangebot hinauslaufende ‚Helden‘ hier – könnte man allerdings eine ästhetische Bruchstelle des Romans sehen und diesen von daher als zweitklassig abqualifizieren.

Man kann freilich auch argumentieren, dass satirisierende und karikierende Eindimensionalität dort und wirklichkeitsnahe Mehrdimensionalität hier als Ausdruck einer generellen und unumwunden eingestandenen Parteilichkeit nicht zwangsläufig in Widerspruch zu Gerechtigkeit und ästhetischer Qualität stehen. Das ist dann der Fall, wenn diese über das Poetische hinausgehende Gerechtigkeit realiter allererst zu erwirken ist, die in Literatur transformierte Wirklichkeit diese (kunstsinnigerseits monierten) ‚Spielvorgaben‘ vielmehr selbst mit freilich vertauschten Rollen liefert und ästhetische Qualität von daher auch funktional zu bestimmen ist. Operativ verfahrende Autoren des Vormärz wie Ludwig Börne, Georg Herwegh, Adolf Glassbrenner oder Georg Weerth, aber auch ein Charles Dickens beispielsweise gäben hier zu befragende Beispiele ab – doch auch sie sind ja allenfalls zweitklassig, oder etwa doch nicht?

Aber wer wüsste schon, um auf die zuvor als eher gering angesetzte ‚Halbwertszeit‘ des Romans Artur Lanz zurückzukommen, Verbindliches über die Zukunft und deren Bewertungsmaßstäbe zu sagen? Sollte nicht nach dem auch hier als Kronzeuge aufgerufenen Theodor Fontane der heutzutage weitestgehend vergessene Schriftstellerfürst Paul Heyse, 1910 immerhin als erster deutscher belletristischer Autor mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, für seine Epoche künftig namensgebend werden und auf das „Goethesche“ also ein „Heysesches Zeitalter“ folgen? Und gehört es zu den ja nicht gerade von Humor strotzenden mosianischen Steintafeln, dass zum Schluss treues Hundsgethier auf sonnenbeschienenem Grab zu ruhen und sich ansonsten alles im doch so „weiten Feld“ zu verlaufen hat?

Mag es sich also bei Artur Lanz auch um kein großes Buch handeln, so ist es doch ein wie bereits angedeutet wichtiges: Dies vorab von allem Erzählerischem und Inhaltlichem schon allein deshalb, weil es konsequent der Einsicht folgt, dass zu fragen – punktgenau und unbequem und beharrlich zu fragen – allemal mehr zur auch handlungsanleitenden Klärung von Sachverhalten, Entwicklungen oder auch Charakteren beiträgt als fixe Antworten aus dem gedanklichen Schnellrestaurant „McMainstream“. Wichtig ist das Buch aber auch, weil es – immer gebunden selbstverständlich an literarische Figuren, die einfach mit der Autorin in eins zu setzen sich selbstverständlich verbietet, auch wenn wie in diesem Falle Ich-Erzählerin und Autorin viele Schnittmengen aufweisen – auf die in ihm gestellten Fragen tastend, weder nassforsch noch ehrabschneidend Antworten zu geben versucht, Antworten, die allemal bedenkenswert sind, provokant wie sie für viele auch sein mögen.

Zum dritten erinnert das Buch mittels Erzähl- und Reflexionsminiaturen daran, dass Fragen bspw. nach Gender, „Heldentum“ oder auch Glück – und das Gewicht dieser Fragen im Ensemble privater wie öffentlicher Belange (!) – nicht losgelöst von politisch-gesellschaftlichen Hintergründen und Voraussetzungen betrachtet werden können, konkret, dass es einen fundamentalen Unterschied macht, ob sie etwa aus einer westlichen oder aus einer DDR-Lebenssituation angegangen werden bzw. angegangen werden mussten.

Ein Friedhelm Barthel konnte, so eine Geschichte, in der DDR nicht „seinem Gewissen“ folgen und wurde zum sich ein Leben lang schämenden „Feigling“, „um seine Familie zu schützen“. Andere DDR-Bürger hingegen wurden, so eine weitere, zu „heldenhafte[n] Opfer[n]“. Und die Ich-Erzählerin ihrerseits nimmt an, dass es an ihrer „anderen, östlichen Herkunft lag, warum ich dem Geschlechterkampf nur eine zweitrangige Bedeutung beimaß, jedenfalls im westlichen Europa. Für uns im Osten galt als oberster Feind der diktatorische Staat, unter dem Männer und Frauen gleichermaßen litten, und es war gleichgültig, ob er uns in seinen männlichen Repräsentanten oder ihren weiblichen Helfershelfern gegenübertrat“.

Schließlich thronen über all diesem Wichtigen mehr oder minder direkt die die Ich-Erzählerin seit Jugendzeiten bewegenden Fragen des tragischen Ernst Toller, ob „der Handelnde schuldig werden [muss], immer und immer? Oder, wenn er nicht schuldig werden will, untergehen [muss]?“ Auch hierzu wird skizzenhaft auf ‚Fallstudien‘ aus der DDR zurückgegriffen, die von Menschen erzählen, die aus lauter Idealismus zu den ewig alles schön und richtig redenden Verführten oder vom „Widerstandskämpfer“ selbst zum Täter wurden.

„Warum mich Artur Lanz umtreibt? Ja, warum?“, so antwortet die Ich-Erzählerin kurz nach der Mitte des Romans zunächst auf eben diese Frage des mit ihr seit den frühen 1990er Jahren befreundeten ‚Wessis‘ Adam Bergmann. Das ist ein pensionierter Germanist, der in Gerhard Köpfs jüngst erschienenen Roman Palmengrenzen zusammen mit dem Großteil seines privaten Umfeldes wohl den „Prosecco-Intellektuellen“ (Köpf) zugerechnet worden wäre, jenen, die bei Speis und Trank gehobener Art meist „über die Hölle wie mit Engelszungen“ zu reden vermögen. Die Ich-Erzählerin fährt dann mit Blick auf Artur Lanz jedenfalls fort: „Zunächst dachte ich, er könnte eine Geschichte hergeben, dann fand ich ihn eher durchschnittlich, und dann fragte ich mich, ob nicht gerade das Durchschnittliche an ihm das Interessante sein könnte, und ich wollte wissen: was ist los mit dem Kerl, was ist los mit den Männern?“

Gibt uns diese Passage aus der Romanmitte u.a. zu den – zutreffenden – Vermutungen Anlass, dass es sich bei der Ich-Erzählerin um eine durchaus auch eigennützige, ebenso neugierige wie selbstreflexive wie dialektisch geschulte Schriftstellerin ‚handfester‘ Natur handeln könnte, die (auch) in Kontakt zu bildungsbürgerlichen Kreisen steht, so sind diese Vermutungen vom Roman her u.a. dahingehend zu ergänzen, dass die Ich-Erzählerin: Charlotte Winter heißt, im „gottlosen Osten Berlins“ als „Kind großzügiger, aufgeklärter“ und „in ihrer Ehe nicht unzufriedenen“ Eltern aufgewachsen ist, plus/minus Mitte 70 Jahre alt sein dürfte, gesund und aktiv ist, als „autonomiesüchtig“ zweifach geschieden ist und nunmehr alleine lebt, früher für einen Buchverlag gearbeitet hat, im Wesentlichen liest und nachdenkt und nur noch gelegentlich für Zeitungen schreibt, eine in Amerika verheiratete und nicht allzu häufig gesehene, fünfzigjährige Tochter Anni hat, seit der Studienzeit vor mehr als 50 Jahren mit der Figur Lady befreundet ist, einer schon zu DDR-Zeiten unerschrocken-couragierten Frau von ausgemachter innerer „Zartheit“ und wahrhaften Type zugleich, mit dieser Lady „seit jeher“ die Ansicht teilt, dass „zwischen Frauen und Weibern“ zu unterscheiden ist, Lady darin recht gibt, dass es „zu viele Sorten von Helden [gibt], um ein eindeutiges Bekenntnis für oder gegen sie abzulegen“, an Männern seit langem kein erotisches, ihre Autonomie potentiell gefährdendes Interesse mehr hat, von daher erleichtert ist, dass es, obwohl sie ihr als solche „nicht einmal besonders“ gefallen, noch Männer gibt, die nicht das Ergebnis einer „Umerziehung“ zu „weiblicheren Menschenwesen“ sind, als Schriftstellerin trotz Schamgefühlen wie ein „Vampir“ nicht vor „schamlose[r] Ausbeutung fremder Biographien“ wie derjenigen von Artur Lanz zurückschreckt, sich in diesem Falle aber „professionelle Neugier mit Anteilnahme, sogar Sympathie verbunden hatte“, „den Einzug des Islam in Deutschland“ nicht so ohne Weiteres gut heißt, ihre Schwierigkeiten mit der westlich dominierten ‚Kulturschickeria‘ um sie herum hat, insbesondere mit deren hedonistischen, gerne auch „Lust am eigenen Ekel“ heraufbeschwörenden und sich in „wohlige[] Unmündigkeit“ begebenden Vertreterinnen, daran erinnert, dass „auch die Frauen kreischend und glückstrunken Hitler zugejubelt“ haben, nichts von der These hält, „Frauen empfänden die Welt eben ganzheitlicher und reagierten empathischer“, von ihrer eigenen „Heldensehnsucht“ überrascht ist, nicht wie so viele glaubt, dass wir „in der besten aller Zeiten“ leben – – –

Ganz gewiss ließe sich noch mehr Aussagekräftiges zum Profil der Ich-Erzählerin zusammentragen. Aber da ist ja auch noch Artur Lanz, den die Ich-Erzählerin nach einigem ‚Umkreisen‘ – damit hebt der Roman an – eines Tages dann doch auf jener Parkbank an unattraktivem Ort anspricht, auf der er, der „elegant“ gekleidete ca. 50jährige, wundersamer Weise mehr oder minder regelmäßig „gedankenverloren“ anzutreffen ist. Daraus entwickeln sich über einen längeren Zeitraum jene zugleich anstößigen wie anstoßenden, unregelmäßigen (Selbst-)Gespräche, die anfangs einer Lebensbeichte von Artur Lanz gleichen und deren Wiedergabe und Bedenken im Fortgang den nicht eben handlungsreichen Roman im Kern ausmachen.

Artur Lanz, eine „zerrissene[] Seele“, hat schwere, von Trennung, Scheidung und Herzinfarkt dominierte Monate hinter sich. Ein (erzählerisch überflüssiger, auf bloße Akkumulation aktueller Themen hinauslaufender; s.u.) Urlaub auf Samos hat ihn, einen Physiker, angesichts erlebten Flüchtlingselends und hoher Arbeitslosigkeit dort auch nicht wirklich aufbauen können, und so versucht er, der nach wie vor „verzagt[]“ und „verloren[]“ ist und sogar die „Säufer“ auf einer gegenüberliegenden Bank beneidet, grübelnd ins Leben zurückzufinden.

Wie sich Stück für Stück herausstellt, „tobt“ ein „Drama“ in der „Männerseele“ des in einer süddeutschen Kleinstadt als Kind eines verschlossenen, früh versterbenden Flüchtlingsvaters aufgewachsenen Artur Lanz. Das rührt aus einem bis in die Gegenwart nachwirkenden „Kindheitstrauma“ her. Seine „heldenverliebte Mutter“ Maria nämlich hat ihn nach König Artus benannt, da die assoziative Nähe zu Lancelot ja bereits durch den Nachnamen gegeben war. Doch Artur Lanz ist weder „Kämpfer“ noch „Held“ und wächst zudem in eine Gesellschaft hinein, die Kampf und Heldentum nicht nur pauschal abgeschworen hat, sondern diese obendrein auch noch stigmatisiert. So reicht es bei ihm allenfalls zu einer selbst die große doch leider außereheliche Liebe einschließenden, auf Selbstverleugnung und Verzicht hinauslaufenden Ritterlichkeit – die Geschichte um Artus, Ginevra, Lancelot, Mordred und Gawan und deren Auslegung spielt von daher, wen würde es wundern, für ihn wie dann später auch für Charlotte Winter eine nicht unerhebliche Rolle.

Doch dann kommt der (von ihm nacherzählte) Tag, wo dieses „typische[] Exemplar des zeitgenössischen Mannes“ seine von Charlotte Winter beinahe bis zum Romanschluss immer wieder einmal in Frage gestellte „Literaturwürdigkeit“ auch dadurch gewinnt – Artur Lanz ist jener Roman, dessen Für und Wider die Ich-Erzählerin häufiger bedenkt – , dass er seine Durchschnittlichkeit durchbricht. Um der Rettung seines Hundes willen nämlich riskiert er sein Leben und entdeckt in diesem Zusammenhang, dass seiner Ehefrau vorbehaltlos darin zuzustimmen ist, dass er den Hund mehr liebt als sie.

Indem Artur Lanz den Hund rettet und sich ohne jede ‚Hängematte‘ aus seiner mit psychologischem Feinschliff erzählten Ehedrama verabschiedet, wird er endlich zu einem Helden. Das aber gewiss nicht im Sinne der Mutter und eines überkommenen Verständnisses von Heldentum, sei dieses romantischer, draufgängerischer, waffenklirrender oder aufopferungsvoller Natur. Weder „Ritter“ noch „Heroe“, besteht sein Heldentum vielmehr in dem mit Schmerz und Verlust einhergehenden Wagnis, er selbst zu sein bzw. sich zu sich selbst durchzukämpfen, und dies nicht nur im rein Privaten, sondern auch im semi-öffentlichen Raum des Beruflichen.

Dies zu zeigen, unternimmt das (etwas lang geratene) letzte Drittel des Romans, dass mit dem ‚Ossi‘ und Arbeitskollegen Arturs Gerald Hauschildt das Pendant zu Charlotte Winters Lady einführt und zugleich mit „Klimawandel“ (mit eingeschränkter innerer Notwendigkeit; s.o.) ein weiteres aktuelles Thema in die Debatte wirft. Hauschildt steht als Wissenschaftler und Entwickler von Umwelttechnik den diesbezüglichen Szenarien skeptisch gegenüber – polit-medial würde er umgehend als Verschwörungstheoretiker abgestempelt werden – und macht daraus als Privatmann via facebook auch keinen Hehl. Als er dort sprachlich fahrlässiger Weise vor einem kommenden „Grünen Reich“ warnt, wird er von einer intriganten Mitarbeiterin mit Anzeichen krimineller Energie denunziert.

Das ist für Hauschildt insofern fatal, als seine Firma von den mit „Klimawandel“ belegten Szenarien lebt. Schnell kommt es bei einem außerordentlichen „Scherbengericht“ zu einem (von der Firmenleitung nicht gewollten) erbarmungslosen Kesseltreiben auf Hauschild, dem sich bis auf Artur Lanz alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anschließen. Eifrige oder ängstliche oder ehrgeizige oder heuchlerische Gutmenschen allesamt, äußern sie in moralinsaurer Blockwartmanier Vorbehalte gegenüber Hauschildt, die sie immer schon gehabt haben wollen. Selbstverständlich kommt dabei auch zur Sprache, dass Hauschildt die Genderisierung eben dieser nicht mitgemacht hat, was „irgendwie ein Zeichen für [s]ein rechtes Gedankengut“ sei, und kaum wundert es von daher, dass dann irgendwann auch von Rassismus bei ihm die Rede ist.

Das Kesseltreiben endet damit, dass Artur Lanz, der in der Sache „Klimawandel“ Hauschildts Ansichten ausdrücklich nicht teilt, wutentbrannt auch über „die eigene Hilflosigkeit“ mit „heroische[r] Pose“ eine flammende, auch Voltaire zitierende Verteidigungsrede für den Angegriffenen hält. Daraufhin verlassen beide wortlos den Saal und kündigen anschließend.

Bei einem letzten Treffen, das Charlotte Winter, Lady, Artur Lanz und Gerald Hauschildt zusammenführt, wird all das gerade Vorgetragene auf den Tisch gebracht. Danach dann kommt es zur gelinden Enttäuschung Charlotte Winters zu keiner weiteren Begegnung zwischen ihr und Artur Lanz mehr. So macht sie sich daran, jenen Roman zu schreiben, den wir mit Artur Lanz vor uns haben. Als sie an der Stelle angelangt ist, „als Gerald in der Geschichte auftauchte“ und – eine zu Spekulationen Anlass gebende Formulierung – „damit Arturs Suche nach Glück endlich ihre Aufgabe fand“, trifft eine Postkarte von Lanz ein. Aus dieser stets von „wir“ sprechenden und damit Spekulationen weiter anheizenden Postkarte, die den Roman beschließt, erfährt der Leser schließlich, dass Lanz und Hauschildt beim CERN in Meyrin ein neues Betätigungsfeld gefunden, zusammen „ein kleines Haus gemietet haben“ und sich über einen Besuch Charlotte Winters freuen würden. Ob es zu diesem Besuch kommen wird? Und ob uns dann Charlotte Winter auch von diesem Besuch erzählen wird?

Titelbild

Monika Maron: Artur Lanz. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
224 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974058

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch