Als ob sich das Motiv jeden Augenblick in Licht auflösen würde

Das Werk des „Intimisten“ Pierre Bonnard wird aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und in das 20. Jahrhundert eingeordnet

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie andere französische Maler auch glaubte Pierre Bonnard, ein früher Anhänger Paul Gauguins und der japanischen Kunst, dass der Aufenthalt am Mittelmeer das einzig Richtige für seine Gemütsverfassung wäre. Nach vielen Malausflügen in das Tal der Seine und überhaupt in den  Süden bezog er schließlich 1926 ein Haus in Le Cannet in der Nähe von Cannes. Während seine Arbeiten – eine verfeinerte und intensivierte Form des Impressionismus auf der Grundlage von schimmernden, leuchtenden Farboberflächen – einerseits viele Bewunderer und Sammler fanden, kamen sie andererseits schon Mitte der 1920er Jahre einigen Künstlerkollegen recht antiquiert vor. Picasso erschienen sie dekadent, „ein Potpourri der Entschlusslosigkeit“, das nicht die Disharmonie und die entschiedenen Kontraste besaß, wie er sie in seinen Bildern schätzte. Die Frage, ob Bonnard „modern“ ist, wird aber gegenstandslos, wenn man sie auf dem Hintergrund der distanzierten, gedankenvollen Schönheit seiner Arbeiten sieht, einer Schönheit von solcher Intimität und bis ins Kleinste reichenden Intensität, dass sie den Vergleich mit dem späten Claude Monet und dessen experimentellen Farbtechniken durchaus nicht zu scheuen braucht.

Von der Modern Tate in London konzipiert, wurden jetzt in einer umfangreichen Schau zunächst in London und Kopenhagen und nunmehr in Wien (Bank Austria, Kunstforum Wien, 10. Oktober 2019 – 12. Januar 2020) Gemälde und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen dieses so publikumsscheuen Künstlers gezeigt, dazu auch Amateurfotografien. Bonnard hat zwar auch Druckgrafiken, Plakate, Bühnenbilder, Kostüme und Illustrationen geschaffen, sein Hauptwerk besteht jedoch aus Genrebildern, Akten und Landschaften in subtil abgestufter Farbigkeit: Figurendarstellungen,  Familienszenen, Pariser Straßenszenen, Darstellungen von Innenräumen, Stillleben, Bad- und Boudoirszenen, Bilder von Stränden, blühenden Gärten und sommerlichen Landschaften.

Bonnard war ein „Intimist“: Ihn inspirierten kleine, einfache Szenen aus dem Privatleben, in Haus und Garten. Wenn er in einem unbewachten Augenblick die Menschen und Dinge beobachten konnte, dann wurden sie unversehens zu Akteuren in einem Drama – manchmal auch einer Komödie – von kleinen Ereignissen. Geradezu obsessiv betrieb er die Beobachtung der Dinge, das zufällige Arrangement von Krügen, Schüsseln und Tellern auf einem Frühstückstisch oder die sich  hier wie unbeabsichtigt aufhaltenden Personen, die mitunter links oder rechts im Bild nur halb zu sehen sind. Bonnard saß ruhig beobachtend und überraschte immer wieder die vertrauten Dinge in seinem Blickfeld, beschnitt sie auf merkwürdige Weise, malte sie von unerwarteten Winkeln aus und ließ sie in plötzlich aufglänzenden Farbschauern von Rosa, Krapprot, Flieder, Chromgelb, Chromgrün und hellem sonnengesprenkeltem Grün zergehen. Fast jedes Bild weist irgendein überraschendes, bisweilen fast paradoxes Moment auf, das man ergründen muss: ein ungewöhnlicher Ausschnitt, das Fragment eines überschnittenen Gegenstandes am Bildrand, einen vereinzelten Farbfleck, der sich dem Gesamtton entgegenstellt, feine vergeistigte Züge von echt französischem Esprit, die an die Erfindungen aus der Frühzeit der Nabis erinnern, jener Künstlergruppe Ende des 19. Jahrhunderts, der Bonnard selbst angehörte. Die Materie erscheint auf diesen Bildern halbgeformt und erweckt den Eindruck, als wolle sie sich jeden Augenblick in dem Licht auflösen, aus dem sie gemacht ist.

Es ist fast immer die gleiche Frau, Marie Boursin, bekannt als Marthe, die Bonnard als Modell für seine eindrucksvollen erotischen Bilder diente – ein Mädchen, das sich in der blauen Dämmerung des Schlafzimmers wollüstig im Schlaf räkelt, das sich animalisch in der Badewanne aalt oder sich – unbeobachtet glaubend – der Körperpflege widmet. Nach einer mehr als 30-jährigen Verbindung heiratete er Marthe schließlich, sie lebten bis zu ihrem Tod zusammen. Er war ihr total ergeben, obwohl sie eine nörgelnde Neurotikerin war. Aber Bonnard war wie besessen von ihr und den Erinnerungen an sexuelle Freuden: der Intimität und flüchtigen Blicke, der Art, wie Paare, die sich lange kennen, den Körper des anderen als selbstverständlich hinnehmen, dem Gefühl, dass das Auge Anteil an allen Geheimnissen hat. Als sie schon 60 war, malte er immer noch ihren 30-jährigen Körper. Bis zuletzt spielte sie ihre Rolle, in sich selbst vertieft, Gegenstand seiner Blicke: Bonnard löste sie in Licht auf, erschuf sie in Farbe neu und besaß sie, aus der Ferne liebend,  wieder und wieder. Ein überweltliches Licht erfüllt den Raum, verwandelt diesen in Perlmutt und Opal.

Man hat oft gesagt, dass die Entdeckung des Mittelmeeres Bonnard zur Aufhellung seiner Palette geführt habe.  Doch eine Frau verwandelt sich nicht plötzlich in lebendiges Goldgelb, nur weil sie in mediterranes Sonnenlicht eintaucht. Bonnards Farben wurden über die Jahre zu Farben seines Inneren, sein inneres Auge erblickte sie. Er malte, was er als richtig empfand, und nicht, was er sah, wie es die Impressionisten taten. In Bonnards Farben sind eine Freiheit und eine Kühnheit, zu denen die Impressionisten selten vorstießen. Licht ist nicht etwas, das nur gerade beleuchtet, was vor unseren Augen ist, wie die Impressionisten glaubten. Licht ist wie ein Rauschmittel, das im inneren Auge eine ganz neue Wirklichkeit schafft, die mit der objektiven Welt, die wir um uns sehen, kaum noch etwas zu tun hat.

Im Katalog zu den Ausstellungen in London, Kopenhagen und Wien wird der „Intimist“ Bonnard aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und in das 20. Jahrhundert eingeordnet. Mattthew Gale, Kurator für moderne Kunst und Ausstellungsleiter der Tate Modern, London, geht von der Feststellung Bonnards aus: „Irgendwie blieben wir in der Luft hängen“, als Bonnard und die Gruppe der Nabis vom Kubismus und dann vom Surrealismus überholt wurden  und dieser um 1912 die Wende vollzog, die dann seine Position als Künstler des 20. Jahrhunderts bestimmen sollte. Während sein Freund Henri Matisse vor dem Motiv malte, stützte sich Bonnard ausschließlich auf seine Erinnerung: „Seine Gemälde sind Wiedererweckungen und Übersetzungen ursprünglicher Eindrücke“ (M. Gale). Der Autor verfolgt die künstlerische und politische Entwicklung Bonnards über die beiden Weltkriege hinweg, konstatiert eine Annäherung an die abstrakte Malerei und sieht in Die Terrasse im Sonnenlicht (1939–1946), einer Auseinandersetzung des Künstlers mit seinem Platz in der Welt, das Testament eines Künstlers, „der sich bewusst war, dass diese Zukunft anderen  gehören würde“.

An den beiden Interieurs Der Spiegel im Toilettenzimmer und Akt im Gegenlicht (beide 1908) stellt Evelyn Benesch, stellvertretende Direktorin und Chefkuratorin am Bank Austria Kunstforum Wien, fest, dass diese Arbeiten am Ende einer Entwicklung stehen, aber auch viele zukunftsweisende Elemente enthalten. Die hier ersichtlichen Raumverschleifungen, unklaren Verortungen, perspektivischen Sprünge wird Bonnard in seinem späteren Werk weiterentwickeln. Veronique Serrano, Chefkuratorin am Musée Bonnard, Le Cannet, fragt, wie ein Maler, der den Ruf hatte, „das Glück zu malen“, so melancholisch und voller Selbstzweifel sein konnte. Bonnards Liebschaften sprechen eine andere Sprache, aber vor allem hat seine Lebensgefährtin Marthe eine einzigartige Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Er gab sich den Effekten von Licht und Farbe – dem Abbild der Welt – hin. Als Monet 1926 in Giverny starb, nahm Bonnet in Le Cannet einen ununterbrochenen Dialog mit der Natur auf und bannte den „immerwährenden Sommer“ auf die Leinwand. Line Clausen Pedersen, Kuratorin aus Kopenhagen, wendet sich der Esszimmer-Serie in Bonnards Haus in Vernon, vor allem dem letzten Gemälde, Esszimmer, Vernon (1925), zu, die sein Spiel von „Raum in Räumen“ spiegelt, während sich Juliette Rizzi, Assistenzkuratorin an der Tate Modern, mit Bonnards Tageskalendern und Fotografien beschäftigt. Welche Rolle spielen sie für seinen besonderen Umgang mit Erinnerungen, was sagen sie über das Verhältnis dieses scheinbar so introvertierten Künstlers zur Mitwelt und zum Zeitgeschehen aus?

Bonnards ungewöhnliche Herangehensweise, eine einzigartige Sicht auf das so Wohlvertraute zu entwickeln, erläutert Matthew Gale an den Selbstporträts, in der Art und Weise, wie sich Bonnard mit dem Prozess des Alterns auseinandersetzte. Stimmen von Künstlern und Kritikern (Helen O’Malley) wie die Chronologie des Künstlers (Juliette Rizzi) sind genauso unentbehrlich wie der großzügig ausgebreitete Tafelteil, der die in den Ausstellungen gezeigten Arbeiten wiedergibt.

Bonnards  ungewöhnlich komplizierten Kompositionen und Blickwinkel, Spiegelungen und seine raffinierte Farbigkeit sind wohl nicht mehr mit dem Begriff des Post-Impressionismus zu fassen. Im Nie-Ganz-Ausgesprochenen, im Nur-Angedeuteten liegt der sich immer wieder erneuernde Zauber seiner Kunst.

Titelbild

Matthew Gale (Hg.): Pierre Bonnard. Die Farbe der Erinnerung.
Hirmer Verlag, München 2019.
240 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783777431987

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