Ich liebe dich, Mommy

Ex-Nickelodeon-Star Jennette McCurdy enthüllt die toxische Beziehung zu ihrer Mutter, die Auslöser ihrer jahrelangen Essstörung und wie ihr die Schauspielerei Kindheit und Jugend geraubt hat

Von Elena HochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elena Hoch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als impulsive und hitzige Sam Puckett, die gerne Chickenwings isst und mit einer Buttersocke um sich schlägt, hat sich Jennette McCurdy in der Nickelodeon-Serie iCarly schon früh einen Namen gemacht. Bei der Erstausstrahlung vor 16 Jahren ahnte noch niemand, welchen Erfolg die Serie rund um Carly, Freddie, Sam und ihre schräge Webshow iCarly einmal haben würde: sechs Staffeln, 109 Episoden und ein Millionenpublikum weltweit. 2021, fast zehn Jahre nach Ende der letzten Staffel, startet sogar ein Reboot der Serie, dessen dritte Staffel im Juni dieses Jahres angelaufen ist. Sicher ist, kaum eine Person, die um die 2000-Wende geboren und aufgewachsen ist, weiß nicht, was es mit Spaghetti-Tachos, dem Ausruf „Gibbyyy“ und dem kranken Pausentanz auf sich hat. Es sind Running Gags der Serie. Warme Kindheitserinnerungen.

Nicht für Jennette McCurdy. Für sie war die Zeit bei der Erfolgssitcom der Horror, ebenso wie die Jahre davor und viele danach. Das enthüllt sie in ihrem Buch I’m Glad My Mom Died. Eine 381 Seiten lange Biographie über Jennettes Leben im Alter von sechs Jahren bis Ende Zwanzig.  

Der Titel ist bewusst provokant gewählt und erscheint zunächst ironisch. Das kann sie nicht wirklich so meinen! Aber doch: sie meint es. Und mit jeder Seite dieses Buches wird deutlich wieso.

Als Jennette sechs Jahre alt ist, drängt ihre Mutter Debra sie dazu, Schauspielerin zu werden. Der Grund ist der gleiche, aus dem viele Eltern ihre Kinder im Rampenlicht sehen möchten: Debra wollte selbst immer berühmt werden. Diesen unerfüllten Traum soll ihre Tochter nun für sie leben. Deshalb fährt sie Jennette zu Castings, übt mit ihr Texte. Sie duscht sie und macht ihr die Haare. Das wird sie noch mehr als zehn Jahre tun. Auch das duschen. Bis Jennette 17 ist, „untersucht“ ihre Mutter ihre Brüste und ihren Intimbereich auf Veränderungen. Denn Jennettes Mutter hatte Krebs, und davor möchte sie ihre Tochter schützen.

Die bereits einige Jahre überstandene Erkrankung hat aber nicht nur körperlichen Kontakt zur Folge, der Jennette äußerst unangenehm ist, sondern auch wöchentliche Tape-Sessions, in denen sich die ganze Familie das Heimvideo ansehen muss, das Debra am Tag nach ihrer Diagnose aufgenommen hat. Jennette hat den Eindruck, ihre eigene Krankheitsgeschichte erfüllt ihre Mutter mit Stolz. Mit Sinn. „Als wäre sie, Debra McCurdy, auf diese Erde geschickt worden, um Krebs zu überleben und ihr Lebtag lang jeder Menschenseele davon zu erzählen – mindestens zehn- bis fünfzehn Mal pro Person.“ Jennettes Mutter nutzt ihre überstandene Krebserkrankung aber nicht nur dafür, um Mitleid, Bewunderung und Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern auch alles andere, das sie möchte – von Produzent:innen, Agent:innen und ihrer Tochter.

Von klein auf hat Letztere zwei große Wünsche: dass ihre Mutter ein weiteres Jahr lebt (das wünscht sie sich jedes Jahre, während sie ihre Geburtstagskerzen auspustet) und dass sie glücklich ist. Alles, was Jennette tut, was sie sagt, wie sie entscheidet, es geht immer nur darum, ihre Mutter nicht wütend, nicht traurig und zumindest zufrieden zu machen. Sie spielt Rollen vor der Kamera, ihrer Mutter und sich selbst. Das ist viele Jahre selbstverständlich für sie, ihre Mutter ist schließlich der wichtigste Mensch in ihrem Leben, ihre beste Freundin: „Mom beobachtet mich, und ich beobachte sie – so läuft das mit uns. Wir sind immer verbunden, miteinander verflochten, eins.“

Und weil sie sich fühlt, als wären sie und ihre Mutter „eins“ – weil ihre Mutter sie fühlen lässt, sie wären „eins“ – will und kann Jennette lange nicht wahrhaben, was Debra ihr antut. Dass sie nicht das Beste für sie, ihre Tochter, möchte, sondern nur für sich selbst. Dass sie der Hauptgrund dafür ist, dass Jennette ihren Körper hasst und eine Essstörung hat (als Jennette elf ist, bringt ihre Mutter ihr bei, zu hungern, damit sie jünger aussieht und länger Kinderrollen spielen kann) und sie keine langfristigen Bindungen eingehen kann. Dass sie überall erkannt wird und selbst während sie sich auf einer Toilette in Disneyland übergibt, ein Fan ihr ein Autogrammbuch unter der Tür durchschiebt. Ihre Mutter hat ihr eine Karriere aufgezwungen, sie kontrolliert, manipuliert und ihr mehr als zwanzig Jahre jegliche Selbstbestimmung geraubt. Das zu realisieren und nur ansatzweise zu verarbeiten, ist ein langer Weg, den Jennette in ihrem Buch ebenso offen wie schonungslos beschreibt.

Einen Teil ihrer Lebensgeschichte, an den Jennette lieber nicht immer wieder erinnert werden würde, den sie in ihrer Biographie aber schlecht aussparen kann, ist ihre Zeit bei iCarly. Sie hält ihn verhältnismäßig kurz dafür, dass sie mehrere Jahre für die Nickelodeon-Serie vor der Kamera stand und die Serie den Hauptteil ihrer bisherigen – wenn auch verhassten – Karriere ausgemacht hat. Es ist aber verständlich, schließlich wollte Jennette McCurdy ein Buch über die toxische Beziehung zu ihrer Mutter schreiben und kein Buch über iCarly. Darum erfahren wir vergleichsweise wenig darüber. Was wir erfahren, ist so einiges Schönes über ihre Freundschaft mit ihrer Serienpartnerin Miranda Cosgrove. Und so einiges Unschönes über die Zusammenarbeit mit Dan Schneider, dem Autoren und Produzenten von iCarly.

„Der Creator“ wie er im Buch nur genannt wird, hat ebenso wie Jennettes Mutter, zwei Seiten:

Die eine ist großzügig und überschüttet dich mit Komplimenten. Er kann jedem das Gefühl vermitteln, der wichtigste Mensch auf der Welt zu sein. Die andere Seite ist fies, kontrollsüchtig und furchterregend.

Wie fies, kontrollsüchtig und furchterregend diese andere Seite sein kann, wird von Jennette nur angedeutet. Der Creator brüllt umher („WARUM DREHEN WIR NICHT?“) und feuert Kinder, weil sie beim Dreh ihren Text vergessen. Er ist sauer, weil Jennette eine Kuss-Szene nicht schafft, authentisch zu spielen, dabei ist es ihr erster Kuss überhaupt. Der Skandal um Dan Schneider, der 2022 öffentlich für Furore sorgte und Nickelodeon-Erfolge wie iCarly, Victorious und Zoe 101 plötzlich in ein ganz anderes Licht rückte, wird nur am Rande thematisiert. Ebenso die Vorwürfe, die sich gegen den Creator richten. Ab einem bestimmten Zeitpunkt darf er aber nicht mehr in direkten Kontakt mit den jungen Schauspieler:innen am Set treten, heißt es im Buch. Es ist von dreihunderttausend Dollar die Rede, die der Sender Jennette nach dem plötzlichen Ende der Serie Sam & Cat – ein Spin-Off von iCarly – anbietet, dafür, dass sie nie öffentlich über ihre Erfahrungen bei Nickelodeon spricht. Speziell in Bezug auf den Creator. Jennette erkennt das „Dankeschön-Geschenk“ sofort als Schweigegeld und lehnt ab.

Alles, was der Dan-Schneider-Skandal vor einem Jahr nicht zerstört hat, enthüllt Jennette McCurdy als grausame Scheinwelt, in der der moralische und ethische Kompass allein Richtung Dollar-Noten zeigt. Das ist im Grunde nichts Neues. Trotzdem ist es hart, bestätigt zu bekommen, dass Kindheitserinnerungen wie die an Spaghetti-Tachos und den kranken Pausentanz, die bei uns ein warmes Gefühl auslösen, für viel Kälte hinter den Kulissen gesorgt haben. Um es milde auszudrücken.

Noch schmerzlicher aber ist es zu lesen, wie sehr iCarly, die Schauspielerei allgemein, die schwierigen Familienverhältnisse, in denen sie aufgewachsen ist, und allen voran ihre Mutter das Leben von Jennette McCurdy zerrüttet haben. Das Buch tut weh, anders kann man es nicht sagen. Immer wieder zwingt es einen zum Innehalten und schwer schlucken. Zum fassungslos darüber sein, was man gerade gelesen hat. Dass diese Grausamkeit wirklich das Leben von einem kleinen Mädchen, einer Teenagerin und später einer jungen Frau gewesen sein soll. Jennette McCurdy sagt heute, dass sie froh ist, dass ihre Mutter gestorben ist. Und nach der Lektüre ihrer Biographie kann ihr das niemand verdenken.

Titelbild

Jennette McCurdy: I‘m Glad My Mom Died. Meine Befreiung aus einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung.
Aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner-Shane und Sylvia Bieker.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
384 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783596708888

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