Kein richtiges Leben im falschen

Danielle McLaughlin eröffnet in „Dinosaurier auf anderen Planeten“ Einblicke in menschliche Abgründe

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kurzgeschichte, so sagt man, sei eine Erfindung des frühen Zeitungsgewerbes. In diesem Umfeld benötigte man knappe Erzählungen, die den Leser während der morgendlichen Fahrt zur Arbeit im Zug oder Bus in ihren Bann zu ziehen vermochten; möglicherweise mit einem offenen Schluss, der einen auch noch einige Zeit lang gedanklich beschäftigte. Meister in diesem relativ neuen Genre waren anglophone Autoren, und noch heute bescheinigt man ihnen, gute Geschichten erzählen zu können.

Nicht selten haben sie ihre Erfahrungen zunächst in einem speziellen Berufsfeld gemacht. Hier fallen vor allem Juristen auf, wie etwa Louis Begley und auf deutscher Seite Ferdinand von Schirach oder Juli Zeh und jetzt eben auch die irische Rechtsanwältin Danielle McLaughlin, deren Talent nun in elf Erzählungen zu entdecken ist.

Die Erzählungen beginnen mit Alltagssituationen, oft angesiedelt in anheimelnden Naturszenerien irgendwo in Irland:

Das Zimmer ihrer Mutter lag im zweiten Stock mit Blick auf den Fluss und die Coca-Cola-Abfüllanlage am anderen Ufer, die mit ihren hübschen Reihen rot-weißer Lastwagen aus der Entfernung an die Spielzeugsammlung eines Kindes erinnerte.

Doch sehr bald zeigen sich in diesen scheinbaren Idyllen überaus irritierende, wenn nicht sogar zerstörerische Risse, unerwartet wie eine Naturkatastrophe oder wie das Verbrechen, das in eine ahnungslose Gemeinschaft einbricht, unheilvolle Ereignisse, wie sie etwa auch die Jurisprudenz berühren. Zunächst nur angedeutet in einem Nebensatz, dann aber immer unübersehbarer.

So wird eine Mutter durch das plötzliche Interesse ihrer pubertierenden Tochter an der äußerst schmerzhaften chinesischen „Kunst des Füßebindens“ in Panik versetzt. Spleenige Neigungen von Teenagern sind vielen Eltern nur zu bekannt. Die junge Lehrerin allerdings, der sie zunächst die Marotten der Tochter vehement anlastet, erweist sich als gänzlich unschuldig. Schließlich deutet sich an, dass das Mädchen, äußerst sensibel, aber in seinem Verhalten wenig zielgerichtet, auf die Untreue des Vaters reagiert haben könnte, welche die Mutter bisher ignoriert hatte. Die Geschichte ist einfach erzählt, jedoch sehr fein und nuancenreich arrangiert. Die Spannung steigt langsam, aber stetig.

Ranelagh an einem Samstag im Sommer, die Bürgersteige voller Blütenblätter, das rhythmische Surren der Rasenmäher in der Luft. Kevin stand im Wohnzimmer der Millers am Fenster und sah einem runden Dutzend Mädchen zu, die vor dem Haus für Fotos posierten. Seine eigene Tochter war auch dabei […]

Was wie ein heiterer Kindergeburtstag beginnt, endet mit düsteren Andeutungen. Kevin nämlich ist der ehemalige Liebhaber von Frau Miller, jetzt ein arbeitsloser Alkoholiker, der sich erniedrigt und verachtet fühlt. Es gelingt ihm allerdings, während des Festes die Aufmerksamkeit der Millerschen Tochter auf sich zu ziehen. „Er spürte ihren vorstehenden Hüftknochen, als sie näher an ihn heranrückte […].“ Ein billiger Triumph über die ihm verschlossene Wohlstandsgesellschaft.

Kaum hat man für eine der Figuren ein wenig Sympathie entwickelt, steht man vor einem Abgrund. In Andeutungen oder bewusstem Verschweigen manifestieren sich kommunikative Grausamkeiten, Konflikte, die durch Sprachlosigkeit hervorgerufen bzw. verstärkt werden. Es geht um zerplatzte Hoffnungen und unerfüllte Sehnsüchte, um menschliches Elend, das letztlich selbst verschuldet ist. Die Verknotungen bleiben ungelöst und unerlöst.

Man könnte die Erzählungen an fast jeder Stelle abbrechen, ohne ihnen etwas zu nehmen. Dabei bringt die routinierte Übersetzung von Silvia Morawetz das Geheimnisvolle hinter der glasklaren Sprache der Autorin eindrucksvoll zur Geltung.

Die Autorin zeigt ein waches Gespür für die Katastrophen der bürgerlichen Familie und offenbart deren Lebenslügen. Sie findet in ihren Kurzdramen, wie schon Tennessee Williams in seiner Glasmenagerie (1944) oder Ibsen in der Wildente (1884), für die zwischenmenschliche Leere überzeugende Allegorien, oft Gegenstände, Sammelstücke, mit denen wir unserem Leben einen fragilen Sinn geben: Kristallfigürchen zum Beispiel, Lieblingslektüren oder die mögliche Existenz von „Dinosaurier[n] auf anderen Planeten“. Die irische Natur ist ebenso anziehend wie schrecklich: „Fast zu schön, dachte sie, die Farben zu rein, das Licht zu unwirklich. Es war, als führe sie durch die Landschaft eines Computerspiels.“

Bisweilen enden die Erzählungen auf einem Höhepunkt, vergleichbar dem Cliffhanger einer Netflix-Serie. Manchmal jedoch mündet das Drama, das sich aufzubauen scheint, in Banalitäten. Während einem besorgten, aber hilflosen Familienvater die Frau in die Psychose entgleitet, kann er immerhin ein kleines häusliches Unglück verhindern: „Aber er sah zu, wie er immer zusah, und er war da, genau rechtzeitig, bevor der Dekanter umfiel.“

Gewiss, der Aufbau der Erzählungen folgt einem bestimmten Muster, so wie man es wohl in einem Creative-Writing-Kurs lernen mag. Sei´s drum. Sie geben immerhin Denkanstöße und spannend und unterhaltsam sind sie allemal. 

Titelbild

Danielle McLaughlin: Dinosaurier auf anderen Planeten.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2021.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874920

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch