Europäische Utopien in ästhetischen Formen

Was Populär- und Alltagskultur über unseren Kontinent verraten

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was die meisten Bürger:innen laut Umfragen mit der EU verbinden, ist überwiegend negativer Natur – wenn sie überhaupt etwas damit verbinden. EU-Befürworter:innen argumentieren dagegen meist mit dem Verweis auf europäische Kunst und Kultur als einigendes Element. Neben Politik und Zivilgesellschaft muss diese die institutionelle Arbeit an der Idee „Europa“ sowie Beiträge für die Bewahrung einer europäischen Erinnerungskultur übernehmen.

Zwischen high und low

Mit ihrem Band Europa in Literatur, Sprache, Kulturtheorie und Populärkultur. Interkulturelle Transfers und Grenzverläufe zwischen High und Low aus der Schriftenreihe der Brandes-Gesellschaft für Literaturvermittlung und Kulturtransfer, der auch Ergebnis der Jahrestagung „Europa im Übergang“ ist, zeigen Matthias Bauer (Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg), Reto Rössler (Juniorprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft ebenda) sowie Anna Scharzinger (wissenschaftliche Mitarbeiterin ebenda), dass Europa in den Zwischenräumen von vermeintlich „hoher“ und „niederer“ Kunst zu verorten ist. Das für das Erkenntnisinteresse dieses Bandes so bedeutungsvolle Begriffspaar high & low stammt vom amerikanischen Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler, der literaturwissenschaftliche Gegenstände nicht nur in der „Höhenkammliteratur“, sondern gleichermaßen in populäreren Formaten wie Film, Serien oder Werbung verortet.

Nietzsche als Prophet für das moderne Europa

In 15 Beiträgen (unterteilt in die drei Kapitel („Literarische und popkulturelle Poetiken“, „Sprachwissenschaft, Diskursanalyse und Deutsch als Fremdsprache“ und „Literatur- und Kulturtheorie“) zeigen die hier versammelten Autor:innen, dass „ästhetische Darstellungen der Moderne und Postmoderne von Hugo von Hofmannsthal bis Sibylle Lewitscharoff immer wieder auf zeitgenössische Narrative und Figurationen Europas aus der Populär- und Alltagskultur zurückgreifen.“ So wird in einem Beitrag Nietzsches Figuration des „guten Europäers“ als Kritik an tradierten Zuschreibungen des Europäischen sowie als utopischer Humanismus interpretiert (mit dem Schluss, dass seine Gedanken und Überlegungen sowie seine philosophischen Überlegungen von hoher Aktualität seien und viele seiner Äußerungen prophetischen Charakter hätten); in einem anderen werden die sich wandelnden Einstellungen gegenüber (Homo)sexualität in der indischen Literatur untersucht (ein Wandel sei deutlich sichtbar, die Rolle von Literatur für den gesellschaftlichen Wandel nicht hoch genug anzurechnen). Die Autor:innen Blockh und Aleshina beschäftigen sich mit Metaphern für Transformationsprozesse am Beispiel von politischen Reden in Russland und Großbritannien. Die Autorin Gravholt wiederum lotet aus, wie sich die Kultur- und Museumsarbeit dem Thema des Übergangs annimmt und es damit für breitere Schichten der Zivilgesellschaft in der deutsch-dänischen Grenzregion öffnet.  

Interkultureller Übungsraum

Viele detaillierte literatur- und sprachwissenschaftliche sowie kulturtheoretische Analysen mit oft regionalem Fokus also, die in der Summe zweierlei zeigen: 1. Europa „ist“ nicht, sondern Europa „wird gemacht“ und 2. zeitgenössische Narrative in der Populär- und Alltagskultur weisen hierfür den Weg. In ihnen, so heißt es im Klappentext, würde ein interkultureller und medialer Übungsraum zwischen High und Low sichtbar. Die Zusammenstellung der Texte ist thematisch derart breit gefächert, dass die übergeordnete Klammer mitunter aus dem Lesefokus gerät. Dennoch gelingt diesem Band letztendlich ein gelungener erster Überblick über mögliche Analyseeinheiten. 

Dass Europa in den Zwischenräumen von „hoher“ und „niederer“ Kunst verortet werden kann, wird so in diesem Band klarer. Und auch der Sprachwandel als Beitrag zu einem offenen und durchlässigen Europa ist nachvollziehbar dargestellt. An einigen Stellen dieses Bandes mangelt es an Tiefe. Offensichtliche Verbindungen zu anderen Disziplinen und Forschungsergebnissen sowie aktuellere Beispiele hätten der Bedeutung dieses Bandes sicher gut getan. Dem breiten Publikum dürfte das Verständnis möglicherweise schwer fallen – zu wenig holt der Band diese mit einleitenden Begriffsklärungen ab. Der hier angesprochenen Zielgruppe (Forschende in den Bereichen Literatur-, Sprach- Kultur- und Politikwissenschaft) dürften mit den vorgelegten Gedanken jedoch wertvolle Inspiration für weiterführende Forschung erhalten. 

Hier werden die Einflüsse der Herrschaft der Engländer bis 1857 offenkundig, deren eingeführte Normen und Regeln die diverse und heterogene Nation Indiens zähmten und die Polarität zwischen Okzident und Orient weiter förderte. 

Titelbild

Matthias Bauer / Reto Rössler / Anna Schwarzinger (Hg.): Europa in Literatur, Sprache, Kulturtheorie und Populärkultur. Interkulturelle Transfers und Grenzverläufe zwischen High und Low.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2023.
186 Seiten , 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783732909179

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