Von der Heilkraft des Erzählens

Kenntnisreich berichtet Monika Melchert „Im Schutz von Adler und Schlange“ über Anna Seghers‘ mexikanisches Exil

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1933 war der Familie Radvanyi – Anna Seghers, ihrem Mann Laszlo Radvanyi und ihren beiden Kindern – die Flucht über die Schweiz nach Paris gelungen, wo sie zu einer zentralen Figur im Schutzverband Deutscher Schriftsteller (im Exil) wurde. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurde Laszlo Radvanyi vom Januar 1940 bis März 1941 in Le Vernet und Les Milles interniert, mit ihren Kindern gelang Anna Seghers in letzter Minute die Flucht aus Paris vor der herannahenden Wehrmacht. In Marseille begann die zermürbende Arbeit zur Beschaffung aller nötigen Ausweispapiere. Nach Anna Seghers fahndete bereits die Fremdenpolizei unter ihrem Schriftstellernamen, während der Pass und alle Papiere auf Netty Radvanyi lauteten. Ende März 1941 gelang es der Familie, Frankreich zu verlassen. Während der dreimonatigen Schiffsreise kam es zu einer mehrwöchigen Internierung auf Martinique sowie zu weiteren erzwungenen Aufenthalten auf Santo Domingo und Ellis Island vor New York. In den USA durfte sie jedoch nicht bleiben, weiter ging es ins unbekannte Mexiko, für das sich Familie Radvanyi Notfall-Visa besorgt hatte.

Mexiko sei ihr „wie ein anderer Stern“ vorgekommen, hat Seghers rückblickend gesagt. Das Trauma der tödlichen physischen und psychischen Gefahr, das sie mit ihrer Familie durchlitten hatte, suchte sie noch lange nach ihrer Ankunft in Mexiko zu bewältigen. Bis 1943 arbeitete Seghers an ihrem großen, schon in Marseille begonnenen Emigrationsroman Transit, in dem sie ihren Ich-Erzähler sagen lässt: „Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird. Erst dann hat er diese Wüste für immer durchquert, wenn er seine Fahrt erzählt hat.“ Der Erzähler ist ein Mitbetroffener dieser alptraumhaften Transitwelt und zugleich sucht er diese Betroffenheit durch das Erzählen der Geschehnisse zu überwinden. Diese Hoffnung auf die Heilkraft des Erzählens zeichnet das Schreiben der Anna Seghers aus. Nach den vergangenen Turbulenzen hatte sie in Mexiko das Bedürfnis nach Ankunft, Sicherheit und Gemeinschaft, obwohl sie wusste, wie „transitär“ und unsicher doch alles wieder sein konnte. Sie wurde härter und verwundbarer zugleich, schreibt Christiane Zehl Romero in ihrer Anna-Seghers-Biografie (2000).

Die Literaturwissenschaftlerin Monika Melchert, die viele Jahre das Anna-Seghers-Museum in Berlin-Adlershof betreut hat, verfasste bereits biografische Studien über Anna Seghers‘ Jahre im Pariser Exil 1933–1940 (Wilde und zarte Träume, 2011) und in Berlin 1947–1952 (Heimkehr in ein kaltes Land, 2018). Nunmehr hat sie mit Anna Seghers im mexikanischen Exil (Im Schutz von Adler und Schlange) genau diesen Mittelteil im Leben und Schaffen der Seghers nachgeliefert – und sie versteht es, erzählend, ja fast plaudernd , den Leser so in ihren Stoff hineinzuziehen, dass man die Kapitel wie in einem Atemzug liest. Dabei beruhen ihre erzählerischen Fähigkeiten auf exaktem Quellenstudium und wohlabgewogener Analyse. Denn mit Zitaten kann sich auch das Lebensgefühl jener Zeit übermitteln. So wird die Biografie polyphon, eine Biografie in vielstimmigen Sätzen und Zeugenschaften.

1934 war in Mexiko General Lázaro Cardenas ins Amt des Präsidenten gekommen, ein pragmatischer Sozialist, um Reformpolitik bemüht, während die Merkmale seiner Außenpolitik uneingeschränkte Souveränität und internationale Solidarität waren. Mexiko hatte keine politische Einwanderungsklausel und so konnte sich auch unter seinem Nachfolger General Manuel Avila Camacho diese aufgeschlossene Einwanderungspolitik fortsetzen, die vor allem Flüchtlingen mit linken politischen Positionen galt. Unter den internationalen Exilanten wie unter mexikanischen Intellektuellen hatte Anna Seghers‘ Name neben jenen von Egon Erwin Kisch und Ludwig Renn das größte Gewicht.

Im November 1941 konnte auf Initiative von André Simone und Bodo Uhse die erste Nummer der Zeitschrift Freies Deutschland erscheinen. Gleichzeitig erfolgte die Gründung des Heinrich Heine Klubs, deren Präsidentin Anna Seghers wurde, und ein halbes Jahr später die des im KP-nahen Umfeld stehenden Verlages El Libro Libre als Verlag des deutschsprachigen antifaschistischen Exils, der ein kontinuierliches Programm und zuletzt sogar Gewinne aufwies. Damit waren wesentliche Leistungen des Exils in Mexiko vollbracht worden. Ziel war die neue „Einheits- und Volksfront“ der Antifaschisten, an der auch Seghers mit wichtigen Essays wie Deutschland und wir beitrug.

Von A. Seghers erschien 1943 in El Libro Libre, dessen Beirat sie angehörte, Das siebte Kreuz. Zwischen 1937 und 1939 in Frankreich geschrieben, war eine Abschrift davon zu F. C. Weiskopf nach New York gelangt. Auf Vermittlung von Erich Maria Remarque übersetzte ihn James Galston ins Englische, die redigierte Fassung erschien 1942 in Boston. Der Book-of-the-Month Club machte es in einer Auflage von einer halben Million zum Bestseller. Weitere Verbreitung fand es durch Übersetzungen in Lateinamerika, Fortsetzungen in Zeitschriften, in Kurz- und Theaterversionen sowie als Comic-strip. 1944 verfilmte dann Goldwyn Mayer in Hollywood den Plot mit Spencer Tracy in der Hauptrolle. Das FBI hingegen stufte diesen antifaschistischen Roman, der Seghers weltberühmt machte, als subversive Literatur ein und bedachte die Autorin und ihre Familie mit besonderer Beobachtung.

„Der Reichtum eines Lebens speist sich auch aus der Fülle der Begegnungen. Anna Seghers hat sich das Land über seine Menschen erschlossen“, schreibt Monika Melchert. Die Schriftstellerin befreundete sich mit Clara Porset, die mit dem Maler Xavier Guerrero verheiratet war, und der machte sie mit der Kunst der Muralistas, der mexikanischen Wandmaler, bekannt, über die sie dann 1947 den Essay Die gemalte Zeit schreiben sollte. Eine lebenslange Freundschaft verband sie mit dem Dichter Pablo Neruda, der damals Generalkonsul Chiles in Mexiko war, mit Gisl und Egon Erwin Kisch, mit dem sie wiederholt das Gebot ihrer Partei durchbrach und sich für in Acht und Bann geratene Kommunisten einsetzte, Jeanne und Kurt Stern, die den Radvanyis schon in Frankreich geholfen hatten, mit der jungen Pragerin Lenka Reinerová, dem österreichischen Journalisten Bruno Frei, der erster Chefredakteur der Zeitschrift Freies Deutschland wurde, der Schauspielerin Steffie Spira und anderen.

An den innerparteilichen Auseinandersetzungen der deutschen -Kommunisten in Mexiko hat sich Anna Seghers kaum beteiligt. Sie publizierte eigentlich selten in den Exilmedien. Und verwunderlich ist, dass die erste deutsche Ausgabe von Transit erst 1948 in Konstanz erschien. Anfang Februar 1943 las sie einen Auszug aus dem Roman im Heinrich Heine-Klub, im Juni und November 1943 erschienen zwei Kapitel als Vorabdruck im Freien Deutschland, doch in El Libro Libre wurde es nicht verlegt. „Anna bot uns ‚Transit‘ an, aber wir hielten es nicht für die richtige Art von Roman für uns“, meinte sogar der Schriftstellerkollege Bodo Uhse.

Ende 1942 hatte Seghers die Nachricht von der Deportation ihrer Mutter ins polnische KZ Piaski bei Lublin erhalten, wo diese vermutlich 1943 ermordet wurde. Am 24. Juni 1943 erlitt sie auf dem Paseo de la Reforma, der Prachtstraße von Mexiko-Stadt, einen schweren Verkehrsunfall. Mit zertrümmerter Schädeldecke hatte sie bewusstlos auf dem Straßenpflaster gelegen, bevor sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde und noch lange Wochen unter schwerer Amnesie litt. In der Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen ringt die Autorin um Überwindung beider Katastrophen. Seghers tritt hier aus ihrer künstlerischen Namenlosigkeit heraus, lässt es zu, direkt von sich selbst zu sprechen. Von „Schwäche und Müdigkeit“ des langen Krankseins gezeichnet, wird sie in der Glut eines tropischen Mittags von Erinnerungsbildern überwältigt und ist plötzlich wieder die Mainzer Lyzeumsschülerin Netty Reiling, die an einem Klassenausflug teilnimmt. In einem In- und Gegeneinander von Rück- und Vorblenden setzt die autobiografische Erinnerung ein Spiel der späteren möglichen Verhaltensweisen ihrer Freundinnen und Lehrerinnen in Gang. Was ist aus ihnen in den vergangenen 30 Jahren geworden, wie könnte es ihnen in Hitlerdeutschland ergangen sein? Erstmals räumte sie Mexiko einen Platz in ihrem Werk ein, weil die Exilsituation sie zur Vergewisserung der Heimat gezwungen hatte.

Seghers sprach selbst 1946 von den „uferlosen und fruchtlosen Diskussionen und Streitigkeiten der Emigrationsatmosphäre“, die sie vergeblich mit der Rückkehr nach Deutschland hinter sich zu lassen hoffte. Sie hatte die Emigration „überaus gründlich…dick“, wie sie ihrem Freund Jürgen Kuczynski anvertraute. Sie handelte gegen das Gebot der Politfunktionäre in Mexiko und verfasste wie auch Kisch einen Nachruf auf die 1942 verstorbene Fotografin und geächtete Kommunistin Tina Modotti. Hier hätte man gern nähere Aufschlüsse von Monika  Melchert erfahren. Sie war – wie auch Kisch – nicht bereit, mit Georg Stibi zu brechen, der 1943 aus seinen politischen Funktionen entfernt wurde. Er teilte Seghers‘ Interesse an der mexikanischen Kunst. Wie konnte Paul Merker, der die politische Führung der deutschen KP-Gruppe übernommen hatte, im Dezember 1944 Seghers dann doch dazu zwingen, sich schriftlich von Stibi zu distanzieren? Die Schriftstellerin ist bei fast keiner Veranstaltung der Bewegung Freies Deutschland in Erscheinung getreten. Selbst bei Großveranstaltungen mit anderen Organisationen oder bei offiziellen Empfängen trat sie nie als Rednerin auf, sondern nur als Ehrengast. Als Präsidentin im Heinrich Heine-Klub war sie dagegen äußerst präsent.

Obwohl sie 1946 die mexikanische Staatsbürgerschaft erhielt, kehrte Anna Seghers 1947 nach Berlin zurück, während Laszlo Radvanyi noch bis Ende 1952 als Professor an der Nationaluniversität in Mexiko blieb und die Kinder zum Studium nach Paris übersiedelten. Die Toten bleiben jung wurde der große Gesellschaftsroman, den sie 1944 noch in Mexiko zu schreiben begonnen hatte und der dann 1949 erschien. Erst dann kamen ihre mexikanischen und karibischen Erzählungen heraus, ein Schreiben in Bildern, in denen der Einfluss der mexikanischen Wandmalerei noch zu untersuchen wäre.

Monika Melcherts Buch ist rechtzeitig zum bevorstehenden 120. Geburtstag von Anna Seghers am 19. November erschienen.

Titelbild

Monika Melchert: Im Schutz von Adler und Schlange. Anna Seghers im mexikanischen Exil.
Quintus-Verlag, Berlin 2020.
160 Seiten,
ISBN-13: 9783947215843

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