Weder Zwang noch Zufall

Alfred R. Mele diskutiert Willensfreiheit im Lichte wissenschaftlicher Forschungsergebnisse

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leider kommt dieses Bändchen ein wenig spät. Vor wenigen Jahren noch waren die Feuilletons voll mit Debatten zur Willensfreiheit. Sie sei – so namhafte Hirnforscher – durch neurowissenschaftliche Befunde als bloße ‚Illusion‘ entlarvt. Menschen könnten „nichts für das, was sie wollen und wie sie sich entscheiden“ (Gerhard Roth) und Selbstbestimmung sei allein eine Frage ‚sozialer Zuschreibung‘ (Wolfgang Prinz). Philosophen wiederum reagierten überwiegend ablehnend auf solch ‚reduktionistische‘ Thesen.

In diesem Kontext ist Alfred R. Meles fiktiver Dialog unter Collegestudenten hilfreich. Der an der State University of Florida University lehrende Philosoph lässt sich auf die Ebene empirischer Argumentationen ein. Er diskutiert Erhebungsmethoden und Interpretationen einschlägiger Experimente, präsentiert weitere Studien, die Zweifel begründen und andere Deutungen nahelegen. Vor allem aber präzisiert er die Konfliktlinien: Die Relevanz der Daten hängt (auch) vom jeweiligen Verständnis von Willensfreiheit ab. Bestimmte Fragen sind empirisch unlösbar. Diese kann man philosophischen Reflexionen anheimstellen, ohne alltagsweltlich in Probleme zu geraten. 

In den einleitenden Kapiteln diskutieren die Dialogpartner unterschiedlich weit gefasste Vorstellungen von Willensfreiheit, die sie analog zu Benzinsorten bezeichnen. ‚Normal‘ bedeutet: Ein kompetenter Entscheidungsträger, der nicht manipuliert, gezwungen oder genötigt wurde, trifft eine informierte Entscheidung, d.h. nach Abwägung von Pro- und Contra-Gründen. ‚Super‘ verlangt darüber hinaus, dass dem Handelnden zu einem gegebenen Zeitpunkt und vorausgesetzt, dass sich alles genau gleich verhält – seine Gedanken und Gefühle, sein Gehirn und seine Umgebung, das gesamte Universum und seine gesamte Geschichte –, mehr als eine Option offenstand: Er hätte anders wählen, anders entscheiden können. ‚Premium‘ fordert als weitere Bedingung,dass Gedanken und Gefühle von einer Entität herrühren, die von den physischen Mechanismen, die den Körper ausmachen, getrennt und verschieden ist – die Existenz einer Seele. ‚Diesel‘ schließlich setzt an die Stelle der Seele das Konzept der nicht auf Ereigniskausalität reduzierbaren Akteurskausalität: Eine Wirkung ist durch einen Akteur, nicht durch Ereignisse im Akteur, etwa chemische Prozesse,verursacht.

Zentral ist natürlich die Frage nach dem Determinismus. Mele selbst erklärt sich in einem Interview als ‚bekennender Agnostiker‘ – sowohl Determinismus wie Indeterminismus seien mit Willensfreiheit kompatibel. Dass eine vollständige Beschreibung des Universums plus eine vollständige Liste aller Naturgesetze alles impliziert, was je geschehen wird, sei nur eine Aussage über das Universum, kein Zwang. Und Indeterminismus per se, also unter exakt gleichen Umständen anders entscheiden wollen, verbürge Willensfreiheit nicht. Das klinge vielmehr nach ‚Zufall‘, nach einem ‚würfelnden Gehirn‘. Auch eine Seele oder Akteurskausalität zu postulieren löse das Problem nicht. Die meisten Menschen, so eine Umfrage, würden auch dann am freien Willen festhalten, wenn wissenschaftlich erwiesen wäre, dass Absichten bloße Gehirnzustände, Entscheidungen bloße Gehirnprozesse wären. Letztlich bleibe es eine ‚metaphysische Frage‘, ob Absichten oder deren neuronale Korrelate oder beide zusammen die Kausalarbeit leisten; empirisch ist Verhalten von seinen neuronalen Korrelaten nicht zu lösen.

Der Hauptteil behandelt neurowissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Experimente. Alle wichtigen Aspekte werden detailliert dargestellt – Anzahl und Auswahl der Probanden, Kontrollgruppen, Erhebungs- und Auswertungsmethoden, Befunde. Sodann werden die Deutungen mit Einwänden konfrontiert. Um dies an Libets berühmtem Experiment zu illustrieren: Probanden sollten angeben, an welcher Stelle ein Uhrzeiger, der sich in zweieinhalb Sekunden um ein Ziffernblatt dreht, stand, als sie die Absicht hatten, ihr Handgelenk zu beugen. Es zeigte sich: Das Bereitschaftspotential (Muskelaktivierung bemessen an zunehmender Gehirnaktivität) stieg mehr als eine halbe Sekunde an, bevor die Bewegung ausgeführt und zwei Zehntelsekunden, bevor die Entscheidung bewusst wurde. Die Entscheidung – so die gängige Interpretation – wird also unbewusst getroffen. Allenfalls verbleibt eine Zehntelsekunde, um ein Veto einzulegen, also die Handlung zu unterlassen. Insofern gibt es keinen freien Willen, nur ein freies ‚Will-Nicht‘. Eine Reihe von Einwänden werden diskutiert: Offen bleibt, ob die Gehirnaktivität die Beugung des Handgelenks verursacht oder bloß die Entscheidung vorbereitet, es zu beugen oder nicht zu beugen. Verallgemeinerungen auf alle Handlungen sind unzulässig: In Libets Experiment fiel die Entscheidung grundlos – es war kein Platz für bewusstes Überlegen. Und selbst wenn Für und Wider explizit abgewogen werden, mag das Bewusstsein etwas Zeit brauchen, um zu bemerken, dass die Entscheidung gefallen ist – so, wie es eine Weile dauert, bis Geräusche bei den Ohren angekommen sind. Reaktionszeitmessungen zeigen, dass Probanden etwa 200 Millisekunden brauchen, um auf einen Signalton mit einem Mausklick zu reagieren, also in etwa die von Libet gefundene Zeitspanne zwischen Bewusstwerden der Entscheidung und Ausführung der Handlung. Vielleicht, so die Überlegung, nutzen Libets Probanden ein inneres ‚Jetzt‘-Signal, auf das hin sich ihre allgemeine Absicht, das Gelenk zu beugen, umsetzt – und zwar ohne die Ausbildung einer proximalen Absicht, dies zu einem bestimmten Zeitpunkt zu tun.

Im nächsten Schritt geht es um den Befund sozialpsychologischer Experimente, dass Handeln häufig unwissentlich von irrelevanten Faktoren beeinflusst ist. Erklärungen (so Gazzanigas These der ‚Ich-Illusion‘) erfolgten immer post hoc. Beispielsweise wählen Probanden aus einer Reihe gleicher Nylonstrumpfpaare bevorzugt die rechts außen liegenden, weil sie sie für besser halten. Probanden, die unvermutet ein Geldstück fanden, sind hilfsbereiter. Probanden leisten deutlich seltener (selbst unaufwändige) Hilfe, wenn auch andere Personen eingreifen könnten oder sie sich unter Zeitdruck fühlen. Sie fügen willentlich anderen Schmerzen zu, wenn ein mit wissenschaftlicher Autorität ausgestatteter Versuchsleiter sie auffordert, als ‚Lehrer‘ einen ‚Schüler‘ für Fehler zu bestrafen. Viele, denen die Rolle eines Gefangenenwärters zugewiesen wurde, demütigten und beleidigten grundlos die Probanden, die als Gefangene agierten. Meles Dialogpartner überlegen: In all diesen Fällen waren die Probanden, ohne sich dessen bewusst zu sein, von der Situation beeinflusst. Aber sie waren nicht determiniert. Und selbst wenn die jeweilige Versuchsanordnung gegen die Normal-Bedingung für freie Handlungen (‚nicht manipuliert‘) verstoßen hätte, so impliziert das nicht, dass Menschen sich nie frei entscheiden können.

Es folgt eine Diskussion automatischer Handlungen. Wenn ein Proband an den Parkplatz draußen denkt, bewegt sich seine Hand unabsichtlich in diese Richtung. Bei der ‚gestützten Kommunikation‘ wollen Helfer die vom Betreuten gewünschten Tasten drücken. Tatsächlich aber beeinflussen sie unwissentlich was getippt wird. Aus dem Nachweis solcher Automatismen folgert Wegner in seinem Buch Illusion of Conscious Will, bewusste Absichten zählten nie zu den Ursachen korrespondierender Handlungen. Allerdings ist empirisch belegt, dass Implementierungsintentionen kausale Arbeit leisten. Fast alle der Probanden, die sich für eine bestimmte Handlung (z. B Fitnesstraining) Ort und Termin vorgenommen hatten, führten diese tatsächlich durch – hingegen fast keine derer, die für das angestrebte Ziel keine konkreten Festlegungen getroffen hatten. Nicht alle Handlungen sind also gleich verursacht – es gibt absichtsvolle Handlungen.

Die Dialogform, in der Mele auch Argumente seiner früher publizierten Bücher und Aufsätze aufgreift, erlaubt hilfreiche Wiederholungen, einfache Explikationen und alltagsweltliche Beispiele. So gelingt Mele eine hoch informative und zugleich gut verständliche Diskussion komplexer Probleme. Seine Bewertung der Experimente ist stichhaltig. Es gibt keine starken wissenschaftlichen Belege gegen die Existenz von Normal-Willensfreiheit. Nicht ganz leicht nachvollziehbar ist vielleicht seine Position eines doppelten Kompatibilismus. Sie gründet auf seiner Deutung von Determinismus als bloße Vorhersagbarkeit, die frei bestimmtes Handeln nicht ausschließe. Aber in der abschließenden Debatte schlägt er ohnedies vor, die Frage der Super-Willensfreiheit, erst recht die nach Premium und Diesel, nicht als wissenschaftlich, sondern als allein philosophisch zu klärende Probleme zu behandeln. Allerdings gibt es weitere durchaus wissenschaftlich bearbeitbare Fragen möglicher Einschränkungen auch der Normal-Willensfreiheit. Relevant sind nicht nur die von Mele diskutierten neuronalen Prozesse und situativen Momente. Auch andere Einflussfaktoren werfen Fragen auf. Wie frei sind Menschen, wenn Hormone ihre Stimmungen steuern, frühkindliche Erfahrungen das An- oder Abschalten spezifischer Gene determinieren, sozialstrukturelle Bedingungen oder elterliche Erziehungspraktiken die Entwicklung von Kontroll- und Reflexionsfähigkeiten beeinträchtigen? Die Diskussion solcher Probleme wird man in Meles lesenswertem Dialog leider vermissen. Not täte ein Fortsetzungsband, der ähnlich gründlich und detailliert verhaltensgenetische, epigenetische, sozialisationstheoretische Forschungen auf ihre empirische Validität und ihre Bedeutung für Willensfreiheit überprüft.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alfred R. Mele: Willensfreiheit und Wissenschaft. Ein Dialog.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Guido Löhrer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
162 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518298381

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