Dorfgeschichten aus dem Ries
Über Melchior Meyr
Von Klaus Hübner
Wer in Nördlingen nach dem Meyr-Denkmal fragt, dem kann es passieren, dass die Antwort „Sie meinen bestimmt den Müller!“ lautet. Der legendäre Mittelstürmer Gerd Müller, auch „Bomber der Nation“ genannt, ist nun mal der bekannteste Sohn der Stadt, und sein erst wenige Jahre altes Denkmal wird eifrig besucht. Aber Meyr? Ein Dichter? Wer soll denn das sein? In seinen Erinnerungen an die Münchner Künstler- und Literatengesellschaft der „Krokodile“ nennt ihn Felix Dahn, der Autor von Ein Kampf um Rom, einen „prächtigen Schwaben aus dem Ries, mit allen guten Eigenschaften und Vorzügen seines Stammes“. Und lobt dabei besonders Meyrs Erzählungen aus dem Ries, die „Gemüt, Humor und liebevolle Versenkung in Land und Leute“ zu „wahren Perlen“ hätten werden lassen. Felix Dahn schrieb das vor etwa 150 Jahren. Die Zeit danach reichte locker aus, um Melchior Meyr (1810–1871) und sein literarisches Werk gründlich im Orkus der Geschichte verschwinden zu lassen. Selbst seine Grabstätte auf dem Alten Südlichen Friedhof in München (Gräberfeld 38, Reihe 2, Platz 3) wird kaum mehr besucht.
Melchior Meyr, geboren im Riesdorf Ehringen, ging in der benachbarten Residenzstadt Wallerstein zur Schule, später auch in Nördlingen, Ansbach und Augsburg. Sein Hauptinteresse galt seit jeher der Dichtkunst, weshalb ihm auch sein Jurastudium in Heidelberg nicht wirklich Freude machte. Er trieb sich in München herum, auch in Erlangen, wo er unter anderem Friedrich Rückert kennenlernte, und versuchte sich in Berlin als Journalist – im Revolutionsjahr 1848 waren seine politischen Artikel durchaus gefragt. Doch Meyr verstand sich weniger als Zeitungsschreiberling denn als Prosaerzähler, Dramatiker und Essayist, und die rasch wachsende preußische Metropole mochte er auch nicht besonders. Im Jahr 1855 kehrte er nach München zurück, und da blieb er dann auch. Am Isarstrand entstanden seine zwischen 1856 und 1870 veröffentlichten, auf vier Bände anwachsenden Erzählungen aus dem Ries und weitere Werke, Romane, Novellen, dramatische Dichtungen und religionsphilosophische Betrachtungen, nicht zu vergessen sein landeskundliches Kompendium Ethnographie des Rieses. Er verkehrte im Kreis der „Krokodile“, und Mitglied der „Zwanglosen Gesellschaft“ war er auch. Unumstritten war er nie, und so erfolgreich wie Emmanuel Geibel, Paul Heyse oder Friedrich von Bodenstedt wurde er zu keiner Zeit. Ebenso wenig wie das Ries, seine ja nicht nur aus dem bekannten Nördlingen bestehende Herkunftsregion, die aus vielerlei Gründen bis heute touristisch höchst attraktiv und speziell für Radtouren hervorragend geeignet ist.
Melchior Meyrs Nachlass befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek zu München. Seine Werke sind, wenn überhaupt, nur noch antiquarisch erhältlich. Der unten angeführte Nachdruck enthält nur zwei längere Erzählungen, Der schwarze Hans und Georg.
Der in keiner Rauferei jemals besiegte, hauptsächlich vom Wildern lebende schwarze Hans, der es auf das „schönste Mädchen im Ries“, die stolze, leider schon dem braven Sohn des Nachbarbauern versprochene Schreinertochter Kathrine abgesehen hat, sei „eine Art Don Juan auf dem Lande“, schreibt der Autor im Vorwort. Der schwarze Hans macht bedrückend deutlich, wie eng und abgeschlossen die bäuerliche Welt damals war und wie wenige Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen und vor allem für die Einzelne es gab.
Gibt sie nicht nach, so geb’ ich noch weniger nach – und ich bin ein Mannsbild! Weiter bin ich nichts und weiter kann ich nichts! Aber was ein Mannsbild kann, das kann ich; und das wird geschehen, dafür steh’ ich, der schwarze Hans!
Klar, dass sich die Sache dramatisch zuspitzt, und typisch, dass sie, nicht ohne tragische Momente, dann doch einigermaßen versöhnlich ausgeht. Die zwar humorvolle, aber stets auch ein wenig mystisch angehauchte und leicht abgründige Dorfgeschichte spielt um 1790 und mag an die oft unterschätzten düsteren Erzählungen von Friedrich Hebbel erinnern. Nebenbei macht sie mit sprachlichen und sozialen Eigenheiten des Ries bekannt und kommt dabei immer wieder auf einen zentralen Ort des damaligen Landlebens zu sprechen, auf’s Wirtshaus. Kaum haben die Dorfburschen ein wenig geplaudert, sagt einer von ihnen, dass er jetzt aber einen Durst spüre, „dass ich’s nimmer länger aushalten kann“, und sein Vorschlag „Gehen wir in’s Wirthshaus!“ wird ohne Gegenstimmen angenommen. Sehr sympathisch!
Der Marktflecken Wallerstein, in dessen näherer Umgebung auch Georg spielt, „war am Ausgang des vorigen Jahrhunderts noch eine Residenz mit allem Glanz einer ständigen Hofhaltung“ – und Melchior Meyr führt vor Augen, was für Auswirkungen das im Alltag der Menschen hatte. Unfreiheit? Abhängigkeit? Unterdrückung? Das sicher auch. Aber eben auch paternalistische Fürsorge für die Schwachen und allgemeine Förderung des Wohlstands. Das Ries ist nicht Preußen! „Was man nun auch dagegen sagen mag, die Zustände in der letzten Zeit des deutschen Reiches hatten ihre schönere Seite“. Auch in Georg geht es ums Heiraten. „In jenen Tagen wogen die Eltern noch ungleich schwerer als gegenwärtig“, und zudem liege „eine gewisse Süßigkeit in dem Gedanken der Ergebung in’s Nothwendige“. Hmm. Die starren Konventionen des Dorfes und die hartherzige, sture und tyrannische Mutter – „Und ich, ich unglücklicher Sohn, bin mit der bösesten Mutter gestraft, die es geben kann!“ – verhindern die Liebesheirat. Jegliche Auflehnung ist zwecklos, das Dorf verlassen und Soldat werden ist keine Lösung – „Soldat werden, hieß zu jener Zeit, mit dem Leben abschließen“. Die auserkorene, geliebte Rebeck’ siecht dahin, ihr Tod ist aber auch „ein großer Bekehrer – ein großer Versöhner!“. Am Ende nimmt die Erzählung, wie immer bei Melchior Meyr, dann doch noch eine Wendung zum Positiven – ein Rebell war er bestimmt nicht. Aber ein guter Erzähler.
Die Literatur in Bayern war schon immer reichhaltiger als von vielen Leserinnen und Lesern angenommen, und sie spielt öfters als gedacht an interessanten und bunten Schauplätzen jenseits der größeren Städte. Die Erzählungen aus dem Ries beweisen es aufs Schönste. Sie sind in München entstanden, das schon. Aber Melchior Meyr macht ganz klar: Gute Literatur kann überall spielen. Es muss nicht eine Landeshauptstadt sein.
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