Prager Spiegelungen

Im Rahmen einer Werkausgabe erscheint Gustav Meyrinks „Walpurgisnacht“

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Satirische und das Okkulte vertragen sich nicht gut. In einer Welt, die nicht länger an das Wirken geheimer, übernatürlicher Mächte glauben kann, muss derjenige, der es dennoch tut, zum Objekt des Spottes werden. Der Satiriker hätte über den Okkultisten allerhand zu sagen, dieser umgekehrt über jenen nichts. Umso bemerkenswerter wirkt darum die Konstellation, aus der sich das literarische Schaffen Gustav Meyrinks entfaltete. Denn Meyrink wurde berühmt zunächst für seine bissigen, im Simplicissimus erscheinenden Satiren auf die bürgerliche Welt der beiden einst heilig-römischen Kaiserreiche. Erst 1915 machte ihn sein erster, verschiedene esoterische Strömungen verarbeitender Roman Der Golem zu einem der führenden Vertreter der fantastischen Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts – und zu einem Bestsellerautor, der noch heute Verlagskassen füllen kann, wie etwa die Vielzahl der neueren und neuesten Ausgaben des Golem nahelegt.

Ein anderes Zeichen für die anhaltende (oder wiederkehrende) Beliebtheit Meyrinks ist ein sich ohne große Ankündigungen entfaltendes Publikationsprojekt des marixverlags. Hier werden durch den Leipziger Theologen Marco Frenschkowski, einem ausgewiesenen Kenner fantastischer Literatur, „Gesammelte Werke“ Meyrinks herausgegeben – was freilich nur durch die Nachworte des Herausgebers und einen kleinen Hinweis im Impressum erkennbar ist. Vier Bände sind bereits und in kurzer Zeit erschienen, weitere, so kann man aus Frenschkowskis Andeutungen schließen, werden folgen. Mit Der Golem und Das grüne Gesicht (1917) wurden seit 2014 zwei Hauptwerke des theosophisch-okkultistischen Romanautors Meyrink neu herausgebracht, mit Des deutschen Spießers Wunderhorn eine Sammlung mit Werken des Satirikers. Nun ist mit Walpurgisnacht ein weiterer fantastischer Roman hinzugekommen. Ergänzt werden diese jeweils durch weitere Erzählungen, aber auch durch Essays Meyrinks – eine willkommene Erweiterung, die den (skeptischen) Okkultisten, der er ja tatsächlich war, wieder ans Licht holt. Im hier zu besprechenden Fall der Walpurgisnacht-Ausgabe handelt es sich bei den Beigaben im Wesentlichen um die unter dem Titel Fledermäuse veröffentlichte Sammlung von Novellen und Erzählungen, die jedoch unvollständig ist, da einzelne Texte bereits in früheren Bänden der Reihe publiziert wurden.

Nach dem Golem ist Walpurgisnacht Meyrinks zweiter Prag-Roman. Siedelte er die Handlung des ersteren noch in der Prager Josefstadt an, ohne seine Version des einstigen Ghettos historisch oder topografisch zu präzisieren, verlegt er den Schauplatz von Walpurgisnacht in den Hradschin, jenen westlich der Prager Burg gelegenen Stadtteil, dessen Name oft auch für die Burg selbst gebraucht wird. Und anders als im Golem ist der Hradschin der Walpurgisnacht in seiner Räumlichkeit präzise erfasst. Wie Hartmut Binder in seiner 2009 publizierten Meyrink-Biografie aufzeigt, ließen sich die Orte der Handlung jederzeit besuchen, wenn auch nicht immer auf den im Roman beschriebenen Wegen: Die Daliborka und das Palais Waldstein etwa sind heute beliebte Touristenziele, aber auch die Plätze, Gassen und (heute nicht mehr bestehenden) Gaststätten seines Romans wurden von Meyrink mit großer Genauigkeit verortet. Zeitlich lässt sich die Handlung auf einen Mai während des Ersten Weltkriegs fixieren, also annähernd auf Meyrinks Gegenwart während der Arbeit am Manuskript.

Gleichwohl erfährt das Prag des Romans eine atmosphärische Aufladung durch die lokalen Mythen und Sagen, die in das Geschehen gewoben werden. Da ist etwa die Rede von Böhmen als dem „Herd aller Kriege“, vom Blut, das das Grundwasser Prags ist, und den Blutegeln der Moldau, die darauf warten, dass der Strom sich wieder so rot färbt wie zur Zeit der Hussitenkriege, die beständig als Folie der gewaltsamen Unruhen dienen, in denen die Handlung kulminiert. Die Stadt erscheint so als Schauplatz maßloser Vernichtung, als unheilvoller Ort, der alles in seinen Bann zieht und in den Untergang führt. Die topografische Exaktheit unterstützt diesen Effekt, indem sie das wirkliche, von jeder Leserin und jedem Leser begehbare Prag mit dem legendären in der erkennbaren Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts in Beziehung setzt.

Mit derartigen Spiegelungen arbeitet Meyrink auch auf anderen Ebenen. Das Personal des ersten Kapitels etwa, der sich auf dem Hradschin vor der Welt verbergende Hochadel, ist ganz offenkundig satirisch gezeichnet – Meyrinks schriftstellerische Anfänge klingen hier noch nach. Die uralten Palastbewohner sind geprägt von Spleens und Eigentümlichkeiten, gemeinsam ist ihnen vor allem ihre tiefe Abneigung, ja, ihr Ekel vor der Prager Bevölkerung „unten“, auf der anderen Seite der Moldau. Aber einer von ihnen, der Arzt Thaddäus Flugbeil, steigt zu einer der Hauptfiguren des Romans auf, was symptomatisch für den Text ist: Je stärker Flugbeil in das fantastische Geschehen der Walpurgisnacht involviert wird, desto mehr treten die parodistischen Züge an ihm zurück zugunsten einer differenzierteren, wohlwollenderen Figurenzeichnung. In Flugbeil, so ließe sich sagen, kreuzen sich die gegenstrebigen Tendenzen des Schriftstellers Meyrink, wodurch Figur und Roman im Kontext des Gesamtwerks eine besondere Bedeutung zukommt. Auch Marco Frenschkowski bemerkt in seinem Nachwort, dass mit Walpurgisnacht der Okkultist Meyrink die Oberhand über den Satiriker zu gewinnen scheint.

Die titelgebende Walpurgisnacht behauptet bei Meyrink eine über ihre übliche Bedeutung hinausgehende Dimension, sie erscheint als gleichsam kosmisches Ereignis, das massive Umwälzungen und apokalyptische Zustände herbeiführt. Im Rahmen des Romans ist dies der Aufstand der Prager Bevölkerung, der zu Mord und Totschlag auf der Burg führt und in der Ankündigung der gewaltsamen Niederschlagung durch die kaiserliche Armee auf ein Blutbad in Prag hinausläuft. Äußeres Zeichen dieser oft angedeuteten, aber kaum konkretisierten „kosmischen Walpurgisnacht“ ist wiederum Flugbeil, der vergisst, das Blatt des 30. April von seinem Kalender abzureißen. Auch hier werden also zwei Ebenen gespiegelt: die fantastische des weltenbewegenden metaphysischen Ereignisses und die politische der Unruhen der böhmischen Bürger im Vielvölkerstaat Österreich, der sich überdies selbst in einer Endzeit, der des Ersten Weltkriegs, befindet.

Eine ganze Reihe von Figuren wird in den Strudel dieser Ereignisse gezogen, neben Flugbeil sind dies vor allem die junge Adlige Polyxena und ihr Geliebter, der bei Pflegeeltern aufgewachsene Student Ottokar, der am Ende von den Aufständischen in einer wahnsinnigen Zeremonie zum böhmischen König gekrönt und kurz danach von seiner leiblichen Mutter, einer der verschrobenen Figuren des Hradschin, erschossen wird. Hinzu kommt der Schauspieler Zrcadlo (tschechisch für „Spiegel“, was seine zentrale Funktion im Geschehen verdeutlicht), der somnambule, gelegentlich auch untote Züge aufweist und der von den Figuren des Romans auf ganz unterschiedliche Weise gedeutet wird: als Verrückter, als Fakir, als Zauberer. Zrcadlo wird auf undurchsichtige Weise durch „Aweysha“, die Kontrolle der Seele eines Menschen durch die eines anderen, als Anheizer der blutigen Unruhen gebraucht. Die Fähigkeit, seine äußere Erscheinung und seine Stimme beliebig zu verändern, macht aus ihm ein böses Omen für diejenigen, die ihm begegnen – sie verfallen dem Wahnsinn, weil er einem verstorbenen Verwandten gleicht, oder finden den Tod in den Handlungen, zu denen er sie anstachelt. Grausamer Höhepunkt seines Tuns ist sein Selbstmord: In Anlehnung an eine Sage über den Hussitengeneral Jan Žižka von Trocnov befiehlt er den Aufständischen, seine Haut auf eine Trommel zu spannen und damit in den Kampf zu ziehen.

So endet Meyrinks Roman, der wie eine Satire auf den veralteten böhmischen Hochadel begann, in einer surrealen, grausamen „Walpurgisnacht“, bei der die Aufständischen wie Teufel erscheinen, die vor keiner Gewalttat zurückschrecken. Übrig bleiben nur Polyxena, die sich irgendwo in Prag verliert und deren weiteres Schicksal der Roman offen lässt, sowie der Kammerdiener Flugbeils, der endlich die vergessenen Kalenderblätter abreißt, bis der 1. Juni erscheint.

Walpurgisnacht ist ein Geniestreich in Sachen Handlungsführung. Die Meyrink-Forschung hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der Autor bei der Konstruktion der okkultistischen Elemente seiner Werke eklektisch vorging. Ähnliches lässt sich über den Aufbau der Handlung sagen, die sich aus Elementen des Schauerromans, der Satire, ja sogar aus Versatzstücken anarchistischer Schriften zusammensetzt – gezielt hat Meyrink hier Dinge ineinandergefügt, die eine nachhaltige Wirkung auf das Publikum garantierten. Das Erstaunliche daran ist, wie hervorragend all diese Elemente miteinander harmonieren, wie klug die Komposition erdacht ist. Jede abenteuerliche Volte, jeden Umschlag der Handlung nimmt man bei der Lektüre widerstandslos hin, sie erscheinen sogar notwendig. Meyrinks außerordentlicher Stil, seine beeindruckende Sprache, die den Golem zu einem singulären Ereignis machten, tun hier ihr Übriges.

So uneingeschränkt man also den Roman empfehlen kann, so schwierig ist es, sich ein Urteil über die Ausgabe zu bilden, in der er nun erscheint. Zunächst einmal: Die Publikation nicht nur von Meyrinks literarischen Werken, sondern auch seiner Essays, ist äußerst begrüßenswert, da ein großer Teil dieser Texte bisher nur antiquarisch zu bekommen war. Dass der vierte Band der „Gesammelten Werke“ also auch Erzählungen aus der Fledermäuse-Sammlung bietet (etwa die grandiose Novelle Meister Leonhard) sowie Meyrinks kurzen Bericht über Meine merkwürdigste Vision und die autobiografisch gefärbte Schrift Der Lotse, kann man nicht genug wertschätzen. Hier sieht man nicht nur, wie er sich effektvoll als übernatürlich inspirierter Autor stilisierte, sondern auch, wie er seine okkultistischen Studien mit durchaus skeptischen Vorbehalten zur Diskussion stellte. Dazu passend besticht das Nachwort des Herausgebers trotz eines eigenwilligen Stils durch profunde Kenntnisse nicht nur der fantastischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, sondern vor allem der esoterischen, okkultistischen und theosophischen Strömungen jener Jahre. Das große Problem jedoch ist die Textkonstitution.

Frenschkowski spricht es in seinem Nachwort selbst an: Gerade Walpurgisnacht hat eine unübersichtliche Entstehungsgeschichte, in die neben Meyrink selbst auch Lektoren und Zensoren verwickelt waren, sodass sich etliche Fragen zum Autorisationsstatus des gedruckten Textes stellen. Viele dieser Fragen ließen sich wohl durch eine kritische Edition des überlieferten Manuskripts beantworten, das zwar nicht die unmittelbare Druckvorlage für den Verlag war, aber dennoch einige beachtenswerte Abweichungen aufweist, von denen der Herausgeber einige aufzählt. Nora Elisabeth Gottbraths vor zwei Jahren erschienene historisch-kritische Ausgabe einiger Werke Meyrinks (darunter Der Golem und Meister Leonhard) hat gezeigt, wie aufschlussreich eine solche Arbeit in Hinblick auf Meyrinks Vorgehen beim Schreiben sein kann. Dass Frenschkowski dies im Rahmen der „Gesammelten Werke“, die offenkundig als Leseausgabe angelegt sind, nicht leisten will, ist so legitim wie seine Argumentation für den Text der Druckfassung: Dieser habe seine Wirkung beim Publikum entfaltet, nicht das Manuskript. Die Abweichungen des Textes vom Druckbild der Erstausgabe, etwa in der Gestaltung von Absätzen, und die gelegentlichen Druckfehler sind jedoch auch in einer solchen Ausgabe ärgerlich, wenngleich sich auf den ersten Blick keine so gravierenden Fehler finden wie im Golem-Band der Reihe, wo eine Kapitelüberschrift fehlt (der Text wird übergangslos dem vorigen Kapitel zugeschlagen).

Einer Leseausgabe kann man manchen Mangel verzeihen, und als solche kann man die Reihe des marixverlags wohl auch empfehlen, nicht zuletzt wegen der exzellenten Nachworte, die bei der Entdeckung Meyrinks eine enorme Hilfe sein können. Dennoch bleibt zu hoffen, dass bald eine gleichermaßen belastbare wie erschwingliche Ausgabe erscheinen wird, die es den literaturwissenschaftlichen Seminaren erlaubt, Meyrinks „Gesammelte Werke“ auch auf ihrem Wege wieder mehr Aufmerksamkeit zu bescheren. Die Qualität dieser Werke nämlich unterstreicht Walpurgisnacht noch einmal mit Nachdruck.

Titelbild

Gustav Meyrink: Walpurgisnacht. Und andere seltsame Erzählungen.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marco Frenschkowski.
Marix Verlag, Wiesbaden 2017.
377 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783737409889

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