Iași, im Juni 1941

Cătălin Mihuleacs eindrücklicher Roman „Oxenberg & Bernstein“ über ein Pogrom an rumänischen Juden

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Cătălin Mihuleac vor ein paar Jahren seinen Roman über das Pogrom an den Juden in Iași vom Sommer 1941 veröffentlichte, stach er damit in seiner Heimat in ein Wespennest. Das lag wohl weniger daran, dass er jenes dunkle Kapitel der rumänischen Geschichte an und für sich zum Thema eines literarischen Werks machte. Entscheidender war vielmehr, dass Mihuleac dabei die rumänische Beteiligung an Planung und Durchführung des Massakers unmissverständlich herausstellte. Zuvor hatte es sich die Öffentlichkeit in Rumänien jahrzehntelang einfach gemacht: Die kommunistische Propaganda schob das Pogrom, bei dem über 13.000 Menschen ums Leben gekommen waren, kurzerhand den deutschen Nazis in die Schuhe. Mit dieser für die rumänische Nation doch recht „bequemen“ Version der Geschehnisse hätten viele Rumänen am liebsten auch in postkommunistischer Zeit gerne weitergelebt.

Dabei war Cătălin Mihuleac beileibe nicht der erste, der dieses Tabu gebrochen hat. In den Tagebüchern von Mihail Sebastian beispielsweise hat man das alles schon lesen können: In Rumänien erschienen sie bereits 1995; später wurden sie unter dem Titel Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt. Tagebücher 1935–1944 auch auf Deutsch herausgebracht. Aber auch manch anderer Autor, wie etwa Norman Manea, hat in seinem publizistischen oder literarischen Werk auf die Vernichtung der Juden in der Moldau, der Bukowina und in benachbarten Regionen sowie auf die Beteiligung rumänischer Behörden und Bürger daran hingewiesen.

Mihuleac nimmt die Leser in seinem Roman Oxenberg & Bernstein in die Zwischenkriegszeit nach Iași mit. Das jüdische Ehepaar Jacques und Roza Oxenberg führt hier ein durchaus privilegiertes Leben; die beiden besitzen ein Auto und können sich regelmäßig Urlaub in Deutschland und Österreich leisten. Oxenberg ist Arzt und gilt in seinem Fachbereich, der Gynäkologie, geradezu als Star: In der Stadt führt kaum jemand den Kaiserschnitt so perfekt durch wie er. Das Paar hat zwei Kinder, Lev und Golda, und die Zukunft scheint ihnen nur Gutes zu versprechen. Zwar hatten sich schon hie und da Wolken am Horizont gezeigt – je nach politischer „Konjunktur“ wurde zeitweise jüdischen Studierenden der Zugang zur Universität versagt. Dann wiederum entließ man jüdische Professoren. In den 1930er Jahren spitzte sich die Lage allerdings zusehends zu. Mihuleacs Roman beeindruckt gerade auch dadurch, dass die Oxenbergs wie viele andere Figuren die aufziehende Gefahr nicht sehen oder aber nicht wahrhaben wollen, während die Leser um die zukünftigen Ereignisse natürlich bereits wissen. Manche jüdische Bürger der Stadt denken zwar an Emigration, aber Jacques tröstet sich und die Seinen immer wieder damit, dass schon nichts passieren werde: Er habe ja auch die Ehefrauen vieler politischer und wirtschaftlicher Entscheidungsträger in Behandlung und damit unter den christlichen Rumänen genügend Fürsprecher, die sich bei Bedarf für ihn einsetzen würden. Doch es kommt ganz anders: In drastischen, bisweilen unerträglich genauen Bildern schildert Mihuleac dann die Tage des Pogroms um den 29. Juni 1941. Äußerst brutale Szenen von Erniedrigung, Demütigung, Vergewaltigung bis hin zu Mord bilden einen krassen Kontrast zur früheren, manchmal idyllisch anmutenden Welt. Jacques und sein Sohn kommen in einem der Todeszüge mit Deportierten um; Roza wird mehrfach vergewaltigt und nimmt sich später das Leben. Nur die kleine Golda überlebt – ihr weiteres Schicksal spielt im Roman noch eine beträchtliche Rolle.

Die Oxenbergs sind zwar vom Autor frei erfundene Romangestalten. Jedoch treten im Buch trotzdem auch immer wieder historisch verbürgte Figuren auf – etwa Politiker, Künstler und Unternehmer jener Jahre. Dieser Aspekt, aber auch die Präzision bei der Darstellung der tragischen Geschehnisse machen aus dem Bericht über das Pogrom in Iași zugleich ein ernst zu nehmendes, fast historisch zu nennendes Dokument. Die Geschichte der Familie Oxenberg füllt jedoch nur die eine Hälfte des Romans – ihr sind jeweils die geraden Kapitel des Buchs gewidmet.

Die Romanhandlung setzt nämlich später, und zwar genau 60 Jahre nach dem Pogrom, ein: Ende Juni 2001 halten sich eine ältere Amerikanerin, Dora Bernstein, und ihr Sohn Ben als Touristen in Iași auf. Da die beiden vorgeben, kein Rumänisch zu sprechen, vermittelt ihnen ein alter Bekannter eine junge Frau aus der Stadt: Sânziana Stipiuc kann Englisch und fungiert daher für ein paar Tage als Übersetzerin, während die beiden Gäste die Stadt und die Umgebung besichtigen. Sânziana arbeitet ansonsten in einem Kaufhaus und führt ein recht gewöhnliches Leben im Rumänien knapp zehn Jahre nach der großen Wende. Zu Hause in Washington betreiben Dora, ihr Mann Joe und ihre drei Söhne ein erfolgreiches Geschäft, das moralisch ein wenig fragwürdig ist: Sie kaufen im großen Stil Secondhand-Kleider und Gegenstände mit interessanten Vorgeschichten auf und verkaufen sie mit ansehnlichem Gewinn in alle Welt weiter. Davon können sie fürstlich leben. Es kommt, wie es kommen muss: Ben schlägt Sânziana vor, die beiden nach Amerika zu begleiten und eine Zeitlang im Geschäft mitzuarbeiten. Sânziana bleibt schließlich in den USA, heiratet bald darauf Ben und nennt sich nun Suzy. Von Washington aus bearbeitet sie für das Familienunternehmen den rumänischen Markt. Dank ihrer Wurzeln kennt Suzy die Bedürfnisse ihrer einstigen Landsleute sehr genau: Zu jener Zeit sind die Rumänen nämlich geradezu verrückt nach Ware aus dem Westen – und sei es bereits gebrauchte.

Suzys Geschichte wird von Mihuleac in den übrigen, den jeweils ungeraden Kapiteln des Romans erzählt. Die Sprache ist hier eine ganz andere als im „historischen“ Teil des Buchs: bisweilen ironisch und satirisch, dann wieder launisch und flapsig. Das ist anfangs ziemlich gewöhnungsbedürftig, vor allem im Kontrast zum ungleich tragischeren Erzählstrang um die Ereignisse von 1941. Cătălin Mihuleac vermittelt in dieser amerikanischen Romanhälfte nicht nur einen Einblick in die Denk- und Funktionsweise des westlichen und den postkommunistischen Kapitalismus, er zeichnet auch ein Porträt des rumänischen Emigrantenmilieus und seiner ganzen Widersprüchlichkeit: An die alte Heimat will man sich – und das zum Teil durchaus aus gutem Grunde – lieber nicht mehr erinnern. Aber als Absatzmarkt fürs eigene Business ist Rumänien immer noch gut genug.

In Mihuleacs Roman gibt es freilich einen Umstand, der gehörig irritiert: Während die Leser nämlich schon längst ahnen, wie eng die beiden Teile des Romans zusammenhängen, bleibt Suzy bis fast zum Ende völlig ahnungslos. Und das, obwohl sie in Washington sogar selbst beginnt, sich mit dem Pogrom von Iași zu befassen, und dazu eigens einen Fachmann konsultiert. Es ist bezeichnend genug: Das Mädchen Sânziana hatte damals im Geschichtsunterricht in der Schule nie etwas von den tragischen Ereignissen vom Sommer 1941 gehört. Auch als Suzy nun erfährt, dass die Bernsteins Wurzeln in Rumänien haben, geht ihr nach wie vor kein Licht auf. Begreifen wird sie erst am Schluss – mithin reichlich spät. Das wirkt allerdings einigermaßen unglaubwürdig, denn Suzy wird uns ja auch zuvor nicht gerade als besonders naive Person präsentiert. Im Gegenteil: Sie handelt überlegt, ist geschäftstüchtig und gewitzt. Ist das Ganze also ein grober Konstruktionsfehler innerhalb der Romankonzeption? Wahrscheinlich muss man das auf diese Weise interpretieren. Es sei denn, man will in Suzy quasi eine Metapher für einen Großteil der rumänischen Öffentlichkeit sehen: Wer nicht sehen will, der sieht auch nicht!

Cătălin Mihuleacs Roman durchzieht ein reiches Geflecht von Motiven, Themen und Anspielungen. Das funktioniert im Kleinen wie im Großen. Es ist wohl unmöglich, alle diese Elemente zu entdecken, geschweige denn zu benennen. Daher soll an dieser Stelle lediglich ein Beispiel Erwähnung finden: Dora Bernstein trägt bei ihrer Reise nach Iași Schmuck mit Schwänen. Als Sânziana/Suzy das bemerkt, muss sie an eine Verszeile aus einem berühmten Wiegenlied des rumänischen Nationaldichters Mihai Eminescu denken. Es schildert, wie die Schwäne sich am Abend im Schilf zum Schlafen zurückziehen. Sânziana kennt das Gedicht selbstverständlich aus der Schule. Später tritt das Schwanmotiv im Roman noch mehrere Male abgewandelt in Erscheinung und verbindet sich auch mit dem Motiv der Gummientchen.

Oxenberg & Bernstein ist seine Lektüre wert. Der Roman ist dicht und komplex komponiert, steckt voller parabel- und symbolhafter Anspielungen, und der Stil ist variantenreich. Die historischen Ereignisse werden ihrer Tragik angemessen dargestellt. Bisweilen sind es jedoch die kleineren Geschichten, die am längsten nachhallen. Ohne hier allzu viel verraten zu wollen, sei doch folgendes gesagt: Die traurige Begebenheit mit den Gummientchen, welche die kleine Golda an der Ostsee in die Freiheit entlässt, wird man nicht so schnell wieder vergessen. Genauso wenig wie die köstliche Episode mit den Küchenschaben, die zu Literatur werden und dann plötzlich in den Aufsätzen gleich einer gesamten Schulklasse auftauchen! Auch solcher Details wegen lohnt sich die Lektüre dieses starken und wichtigen Romans.

Titelbild

Catalin Mihuleac: Oxenberg & Bernstein. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Ernest Wiechert.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018.
366 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783552058835

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch