Anzaubern gegen das Patriarchat

In Madeline Millers Roman „Ich bin Circe“ schafft sich eine Nymphe eine neue Welt

Von Lea ReiffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lea Reiff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Männer sind Schweine“, sangen einst Die Ärzte. Auf Circes Insel Aiaia trifft das wortwörtlich zu: In ihrem Schweinekoben tummeln sich grunzend und mit schleppenden Bäuchen die Besatzungen vieler Schiffe, die an ihrer Küste gestrandet sind. So kennt man die Zauberin auch aus Homers Odyssee, in der sie nur eines der Hindernisse darstellt, die Odysseus auf seiner Heimfahrt nach Ithaka überwinden muss, die letztendlich ebenso lange dauert wie der gesamte Trojanische Krieg und die kein einziger seiner Gefolgsleute überlebt. In Madeline Millers Neubearbeitung des Mythos stehen nicht Odysseus und seine Männer, sondern Circe und die Frauen im Mittelpunkt. Wie bereits der Titel verrät, kommt die Zauberin darin selbst zu Wort. Auf rund 500 Seiten lässt Miller sie eine Lebensgeschichte erzählen, die zwar von Homers Odyssee und anderen antiken Texten inspiriert ist, mit diesen aber nicht viel zu tun hat, denn es ist die Geschichte einer Emanzipation von den rigiden Rollenmodellen einer patriarchalischen Gesellschaft, die vor allem von zwei Dingen dominiert wird: Göttern und Angst.

Millers Circe, Tochter des Titanen Helios und der Nymphe Perse, passt von Anfang an nicht ins System. „Als ich geboren wurde, gab es für das, was ich war, keinen Namen“, beginnt ihre Erzählung. Eine Bezeichnung für ihre Existenzform als niedere Gottheit gibt es wohl: Wie auch ihre Mutter ist Circe eine Najade, eine Wassernymphe, und diese mythisch-physiologische Designation steckt auch die „Leitlinien“ ihres Lebens ab, denn das Wort „Nymphe“ bedeutet „nicht nur Göttin, sondern auch Braut.“ Zum Schicksal einer Nymphe scheint es ferner zu gehören, vergewaltigt zu werden, denn „sie sind furchtbar schlecht im Weglaufen“.

Circe ist außerdem schlecht darin, die ihr zugedachte Rolle zu erfüllen, denn sie genügt nicht den Erwartungen ihrer Verwandten. Sie ist schwach, nicht schön genug und ihre Stimme klingt wie die einer Sterblichen. Die Ablehnung ihrer Eltern, Geschwister, Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins führt Circe zu einem ersten Akt der Rebellion, der für alle Weiteren bestimmend sein wird: Prometheus, der Feuerbringer und Menschenfreund, wird von der Furie Alekto vor den versammelten Göttern ausgepeitscht, bevor er seinen bekannten Platz am Felsen einnehmen muss. Als sich die anderen Götter zum Festmahl zurückziehen, bringt Circe ihm einen Becher Nektar. Es ist ein Akt des Hochverrats, den Circe zu diesem Zeitpunkt niemand zutraut, weil er nicht in das Bild passt, das sich die Göttinnen und Götter von ihr gemacht haben. Zum Ende des Romans wird Circe diese Tat nutzen, um sich von ihrem Vater und Zeus, dem Vater der Götter, zu befreien. Orakelhaft teilt ihr Prometheus mit, nicht alle Götter müssten sich gleich verhalten, und es ist sein goldenes Blut, das Circe auf die Spur der magischen Kraft jener Blumen bringt, die aus dem Blut der Götter und Titanen gewachsen waren, als sie gegeneinander kämpften und die Herrschaft der Olympier begann.

Als Circe, durch Liebe und Eifersucht motiviert, die Kraft dieser Kräuter nutzen lernt, wird ein neues Wort für das gefunden, was sie ist: eine „Pharmakis“, was Millers Circe als „Hexe“ übersetzt. Nun fürchten die Götter ihre Macht und wegen ihrer Taten wird sie auf die Insel Aiaia verbannt, auf der sie schließlich Odysseus treffen wird. Vor dieser Begegnung, auf die man beim Lesen viele Seiten lang mit Spannung wartet, kreuzt sich ihr Lebensweg trotz aller Abgeschiedenheit mit den verschiedensten mythologischen Gestalten. Diese Kontaktaufnahmen verlaufen mit wenigen Ausnahmen so schlecht wie ihre Kontakte mit Sterblichen, weil jeder an vorgefertigten Rollenmodellen, Erwartungshaltungen und einstudierten Verhaltensweisen festhält und Circe bestraft, wenn sie sich als ein Quadrat erweist, das nicht in die ihm zugedachte Kreisform passt, oder schließlich als ein Quadrat, das nicht mehr in die Kreisform passen möchte. Die Boshaftigkeit der Figuren geht streckenweise so weit, dass man sich beim Lesen ähnlich strapaziert fühlt wie der ausgepeitschte Prometheus, aber die Figurenkonstellation unterstreicht nur das handlungstreibende Leitmotiv: Götter und Angst.

Ob es Circe gelingt, sich vollständig aus der statischen, leid- und damit auch freudlosen Existenz der Götterwelt zu befreien, wird offengelassen, aber zum Ende des Buches kann die Ich-Erzählerin immerhin resümieren: „Ich wollte weiterkommen in meinem Leben, und jetzt bin ich am Ziel. Ich habe die Stimme einer Sterblichen, nun will ich auch den ganzen Rest. Ich hebe die randvolle Schale zum Mund und trinke.“ Welche Auswirkung der darin enthaltene Zaubertrank auf Circe haben wird, muss sich jede Leserin und jeder Leser selbst ausmalen.

In den letzten Jahren hat sich antike Mythologie als literarischer Stoff einiger Beliebtheit erfreut, vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur (man denke nur an Percy Jackson). Millers Roman zeichnet sich unter vielen Neubearbeitungen vor allem dadurch aus, dass sie die Figuren in ihrer weitgehend unbestimmten Vorzeit belässt und dennoch Themen und Problemstellungen verhandelt, die sich in unserer Gegenwart stellen. Bereits das Cover, das mit seinen Schwarz- und Bronzetönen an eine Vasenmalerei gemahnt, weckt Lust, in eine griechische Frühzeit der Götter und Heroen einzutauchen. Auch ein Verweis auf Millers ersten Roman Das Lied des Achill, mit dem sie 2012 den Orange Prize for Fiction gewann, fehlt nicht, sodass sich Ich bin Circe schlüssig in einen neuen mythologischen Kosmos einfügt. Vom literarischen Anspruch her kann der Roman zwar nicht die Nachfolge der homerischen Epen antreten – und will das auch nicht –, aber es kann mythenkundigen wie -unkundigen Lesern einiges Vergnügen bereiten, die darin gezeichneten Transformationen bekannter Helden und Götter nachzuverfolgen.

Titelbild

Madeline Miller: Ich bin Circe. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Brodd.
Eisele Verlag, München 2019.
517 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783961610686

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