Sinn und Orm

Walter Moers erzählt in „Der Bücherdrache“ konzentriert, novellistisch – und endlich wieder unterhaltsam

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Genau 20 Jahre sind vergangen, seit Walter Moers in Die 13½ Leben des Käptˈn Blaubär erstmals vom fiktiven Kontinent Zamonien erzählte. Sein Protagonist war eine leicht abgewandelte Version der Figur, die er 1988 für das Kinderfernsehen entwickelt hatte. Damit war sie ein idealer Türöffner für ein breites Lesepublikum, das um seine kontroversen Comicfiguren wie Das Kleine Arschloch (1991) und Adolf, die Nazisau (3 Bände, 1998-2006) eher einen Bogen machte. Nacheinander schritt der junge Buntbär die verschiedenen Zonen Zamoniens ab und erlebte eine groteske Reise in der Tradition von Autoren wie Jonathan Swift, Voltaire, Jules Verne und Edgar Allan Poe.

Die ungeheure kreative Kraft, mit der Moers schrieb, entging der Literaturkritik damals. Wenn überhaupt, nahm sie seine Bücher als Genre-Literatur wahr und Zamonien als Gegenstück zu J.R.R. Tolkiens Mittelerde oder Terry Pratchetts Scheibenwelt, mit der Moers immerhin den humoristischen Ansatz teilt. Tatsächlich arbeitet Moers gern mit der in der Fantasy üblichen Struktur der Quest, in der die – männliche, hier aber nicht menschliche – Hauptfigur sich auf eine Heldenreise begibt, Abenteuer erlebt und gereift von ihr zurückkehrt. In den ersten Jahren legte Moers eine ganze Reihe von beflügelten Zamonien-Romanen vor, einer bunter und leuchtender als der andere. Auf den Blaubär-Roman folgten Ensel und Krete (2000) , das düstere Rumo und die Wunder im Dunkeln (2003) und schließlich Die Stadt der Träumenden Bücher (2004) , unbestritten der bisherige Höhepunkt der Reihe.

Hier begibt sich der dichtende Dinosaurier Hildegunst von Mythenmetz in die Stadt Buchhaim, um den Autor eines genialen Manuskripts zu suchen. Durch die Intrigen des Antiquars Phistomefel Smeik gerät er in ein unterirdisches Bücherlabyrinth, in dem er allerlei seltsame Gestalten trifft, bis er tatsächlich zu dem verschwundenen Verfasser gelangt. Der fristet dort als Schattenkönig sein Dasein und weiht Hildegunst in die Kunst des Orm ein, das sich am besten als dichterische Inspiration verstehen lässt. Der Weg dorthin ist gespickt mit einem Feuerwerk an Anspielungen auf Bücher, Bibliotheken und Literatur – dem wohl schönsten der deutschen Gegenwartsliteratur. In der wohl populärsten Episode der Handlung stößt Hildegunst auf die Buchlinge, kleine, unförmige Zyklopen, die jeweils das Werk eines großen Autors memorieren und – aus Leserperspektive – humoristisch auf den Punkt bringen. Da ist Hildegunsts Führer Ohjann Golgo van Fontheweg (Johann Wolfgang von Goethe), der mit seiner „Mineralfarbenlehre“ allen auf den Geist geht, da sind Dölerich Hirnfidler (Friedrich Hölderlin), dessen Gedichte alle mit dem Anruf „O“ beginnen, der Dadaist T.T. Kreischwurst (Kurt Schwitters), Sanotte von Rhüffel-Ostend (Anette von Droste-Hülshoff) und viele andere.

Dieser kreative Flash hatte allerdings einen Nachteil: Gerade weil die frühen Zamonien-Romane die erdachte Welt bis ins Detail ausbuchstabierten, setzte sich Moers selbst Grenzen, die er mit neuen Texten nicht wieder verletzen durfte. Das Ergebnis: Stagnation auf hohem Niveau, wenn nicht Schlimmeres. Noch eine angenehme Lektüre, wenn auch mit leichten Längen, war Der Schrecksenmeister (2007) , ein liebevolles Pastiche der Novelle Spiegel, das Kätzchen von Gofid Letterkerl – Verzeihung, Gottfried Keller. Mit dem drögen Labyrinth der Träumenden Bücher (2011) war jedoch ein Tiefpunkt erreicht. Fast kann man sich freuen, dass der angekündigte zweite Teil zu diesem zähen Erguss, in dem Hildegunst erneut und planlos durch Buchhaim stolpert, nie erschienen ist. Nein, früher war nicht alles besser, die Romane von Walter Moers aber schon.

Nach einer längeren Pause sucht sich Moers nun wieder an seine alte Form heranzuschreiben. Das gelang zunächst nur halbwegs. Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr (2017) , das Moers erstmals von der jungen Zeichnerin Lydia Rode illustrieren ließ, beschrieb die Reise der Prinzessin Dylia durch ihr eigenes Gehirn. Trotz einiger Längen erzählt das Buch wenigstens wieder eine kohärente Geschichte. Doch erst das kurze und knackige Weihnachten auf der Lindwurmfeste (2018) zeigte Moers wieder in Form.

Womit wir endlich beim Anlass dieser Rezension wären – dem neuen Zamonien-Roman Der Bücherdrache. Auch er folgt wieder einmal der Quest-Struktur: Der junge Buchling Hildegunst Zwei – seine Aufgabe ist es, Mythenmetzʼ Werk auswendig zu lernen – wird von seinen Mitschülern zu einer Mutprobe angestiftet. Er soll sich in den unterirdischen Ormsumpf begeben, einen unwirtlichen Ort, in dem angeblich der finstere Bücherdrache leben soll, dessen Schuppen über und über mit ormgetränkten Büchern bedeckt sein sollen. Von denen soll Hildegunst Zwei eines zurückbringen. Er macht sich auf die Reise und trifft den Bücherdrachen tatsächlich. Damit begibt er sich in größere Gefahr, als er ahnt, und erfährt den Wert wahrer Freundschaft.

Der Bücherdrache ist kurzweilig und unterhält gut, auch wenn er an die Qualität der frühen Zamonien-Romane wieder einmal nicht heranreicht. Zugegeben, die Handlungsführung erinnert an den Hobbit, namentlich an Bilbo Bagginsʼ  Reise in Smaugs Einöde. Wodurch das Buch aber besticht, sind Moersʼ äußerst konzentriertes Erzählen und die Tatsache, dass er wieder selbst die fili­granen, wunderschönen Illustrationen liefert, die letztlich doch besser zu seinen Romanen passen als die an sich beachtlichen Arbeiten von Lydia Rode. Man kann Moers außerdem einen kleinen Etikettenschwindel ankreiden: Eigentlich ist Der Bücherdrache kein Roman, sondern eine klassische Novelle. Konzentriertes, ein­strängiges Erzählen, die Aufteilung in eine Binnen- und hier sogar doppelte Rahmenhandlung, der Drache selbst als Dingsymbol – das wäre Stoff für jede Anfäger*innenvorlesung im Germanistikstudium. Nur verkaufen sich Bücher mit dem Etikett „Novelle“ heute kaum, während Moers in der „Novellenwut“ der 1820er Jahre problemlos Furore gemacht hätte. Überflüssig ist allerdings die angehängte „Leseprobe“ aus dem schon länger angekündigten Die Stadt der 1000 Leuchttürme, mit der Moers seinen Bücherdrachen unnötig aufbläht.

Titelbild

Walter Moers: Der Bücherdrache. Roman.
Penguin Verlag, München 2019.
187 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600640

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