Eine Reise ins dunkle Herz der Nacht

Nach langer Wartezeit legt Walter Moers den siebten Zamonien-Roman vor

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit feuchten Händen, aber spitzen Fingern fasst der geneigte Leser den neuen Roman von Walter Moers an. Groß sind die Erwartungen an einen weiteren Ausflug nach Zamonien, den versunkenen Kontinent voller fantastischer Lebensformen und einer außerordentlichen Liebe zur Literatur, von dem wir nur durch die Bücher von Moers wissen. Groß aber war auch die Enttäuschung über Das Labyrinth der träumenden Bücher, den bislang letzten Zamonien-Roman. Dieser abgeschmackte Aufguss der zum Kultbuch avancierten Literatur-Hommage (und Literaturbetrieb-Satire) Die Stadt der träumenden Bücher hatte die immense Fangemeinde damit zurückgelassen, dass nach über 400 ermüdenden und bisweilen an Selbstplagiarismus grenzenden Seiten schlussendlich der Anfang der Geschichte angekündigt wurde, die in der erst im Nachwort angekündigten Fortsetzung erzählt werden sollte. Man kann das für einen avantgardistischen, postmodernen Mega-Cliffhanger halten. Oder, mit Verlaub, auch einfach nur für ostentative Ideenlosigkeit mit der Tendenz zur Kundenverarsche.

Geschlagene sechs Jahre sind seither vergangen. Zwischenzeitlich erschien das unausgegorene Zamonien-Lexikon von Moers in Zusammenarbeit mit Anja Dollinger, das ebenfalls einen lauwarmen Aufguss der bisherigen Romane bot. Noch immer wartet die Leserschaft, die Moers für seine überbordende Erzähllust, seinen anarchischen Humor, die liebevolle Ausgestaltung der erzählten Welt und nicht zuletzt die zahlreichen reizvollen Spiele mit literarischen Konventionen und Genres liebt, auf eine Fortsetzung der Geschichte über den Dichter Hildegunst von Mythenmetz, der im Labyrinth Buchhaims gefangen ist. Längst war der finale Teil der Buchhaim-Trilogie mit dem Titel Das Schloss der träumenden Bücher angekündigt, immer wieder wurde der Veröffentlichungstermin verschoben. Mit Verwunderung und Erstaunen dürften die Kenner der zamonischen Kultur daher die Ankündigung von Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr zur Kenntnis genommen haben. Ob bereits der Umstand, dass dieses Buch keine Fortsetzung des Labyrinths ist, Enttäuschung oder Verheißung ist, sei dahingestellt. Bemerkenswert ist nach den letzten Jahren schon allein, dass das angekündigte Buch tatsächlich zum vorgesehenen Termin vorliegt.

Prinzessin Insomnia ist dem Untertitel zufolge – der bei Moers immer ein Spiel mit Fiktionsebenen signalisiert, das integraler Bestandteil der Narration ist – ein „somnambules Märchen aus Zamonien“, für das als Autor der Großdichter Hildegunst von Mythenmetz verantwortlich zeichnet, dem wir unter anderem auch schon Ensel und Krete, Der Schreckensmeister oder Die Stadt der täumenden Bücher verdanken. Walter Moers habe das Buch, wie schon häufiger, aus dem Zamonischen übertragen. Das so anregende und vergnügliche Spiel mit den Autor- und Übersetzerfiktionen wird indes nicht weiter aufgegriffen. Es wird sogar durch eine Nachbemerkung aufgehoben, die Walter Moers als Autor ausweist und zudem den letzten, verblüffendsten Teil des Paratextes erklärt: Das Buch wurde illustriert von Lydia Rode, was aufhorchen lässt. Der zunächst als Comic-Autor reüssierende Moers, der der deutschen Kultur Figuren wie das kleine Arschloch und den alten Sack geschenkt hat, illustrierte schließlich bislang alle seine Romane selbst. Nur bei Wilde Reise durch die Nacht hat Moers Xylographien von Gustave Doré zum Anlass genommen, eine eher assoziative Erzählung, die nicht in Zamonien situiert ist, zu Bildern von fremder Hand vorzulegen.

Die erwähnte Nachbemerkung gibt Aufschluss: Lydia Rode (geb. 1992) ist eine junge Künstlerin, die an einer unheilbaren, weithin unbekannten und vor allem kaum erforschten neurologischen Krankheit leidet: dem „Chronischen Fatigue- oder Erschöpfungssyndrom“. Die davon betroffenen Menschen sind selbst von geringsten körperlichen Aktivitäten massiv angestrengt. Zum eingeschränkten Aktivitätsniveau treten unter anderem ausgeprägte Gelenkschmerzen, Muskelkrämpfe und massive Schlafstörungen. Rode, die seit acht Jahren unter dieser Krankheit leidet, hat sich brieflich bei Moers für die Ablenkung bedankt, die sie in den Zamonien-Romanen findet – und den Autor mit ihrer Geschichte und ihrem künstlerischen Talent so beeindruckt, dass „die Idee zu einer  zamonischen Erzählungen, bei der sie die Illustrationen übernehmen wollte“, entstand. Das ist mehr als eine anrührende Geste. Es ist eine wichtige Information zur Einordnung des Buches, dessen Protagonistin offenkundig dem Schicksal der Illustratorin nachempfunden ist: Prinzessin Dylia (ein kaum verhülltes Anagramm von Lydia) leidet ebenfalls an einer nur unzureichend behandelbaren Krankheit, die sie nicht schlafen lässt. Die Phantastik, die in der erzählten Welt waltet, wurzelt auf sehr ernste Weise im echten Leben. Es ist Moers hoch anzurechnen, auf diese wenig bekannte Krankheit hinzuweisen und einer jungen Künstlerin eine Plattform zu geben. Dass bei diesem Projekt „aus einer Kurzgeschichte […] unaufhaltsam ein ganzer Roman“ wurde, ist dem Buch indes nur allzu deutlich anzumerken. Leider ist die literarische Umsetzung misslungen. Eine schlanke Erzählung hätte man gerne gelesen, einen ganzen Roman trägt die Kernidee nicht.

Zwar neigten auch frühere Moers-Romane (etwa Käpt’n Blaubär oder Rumo) in einzelnen Passagen zur Geschwätzigkeit. Diese war aber immer einem kaum zu bändigenden Ideenfeuerwerk und einer allzu detaillierten Ausgestaltung der zamonischen Welt geschuldet. Davon ist nur wenig übrig geblieben. Von Zamonien selbst, dem eigentlichen Helden der bisherigen Romane, erfährt man nichts. Jede geografische und historische Einordnung bleibt, anders als in den bislang bekannten zamonischen Märchen, aus; auch bleibt unklar, um welche Daseinsform es sich bei Prinzessin Dylia handelt. Diese Gleichgültigkeit gegen die äußere Welt ist im Sinne dieses Projekts durchaus konsequent. Die Fantasie der Prinzessin ist wichtiger als äußere Handlung, was angesichts des zugrunde liegenden Krankheitsbildes und des eingeschränkten Aktionsradius, der mit dieser Krankheit verbunden ist, durchaus stimmig ist, dem Text aber nicht gut bekommt.

Prinzessin Dylia leidet an einer Form von Schlaflosigkeit, die von den Hofalchemisten nicht kuriert werden kann. Ihre Erkrankung bringt es mit sich, dass – wie leitmotivisch wiederholt wird – ihre Gedanken ihre besten Freunde sind. Vom äußeren Leben weitgehend abgeschnitten, erschafft sie sich Fantasiewelten. Der aufgezwungene Hang zu Tagträumerei, Eskapismus und Selbstbespiegelung gibt die (überschaubare) Handlung vor. Eines Tages sitzt ein „bestürzend hässlicher und kleinwüchsiger Gnom mit vielfarbiger Haut auf ihrem Brustkorb“ – ein Nachtmahr namens Havarius Opal sucht die Prinzessin heim. Nachtmahre sind gewissermaßen Postboten, die Alpträume zustellen, „Alptraumorganisatoren“, deren Ziel es ist, die von ihnen auserwählten Lebewesen in den Wahnsinn zu treiben, was wiederum häufig zum Suizid führe: „Ich werden alles daransetzen, dein Ableben zu beschleunigen. Darin bin ich richtig, richtig gut. Der beste womöglich.“ Diesem Gefährten, dieser beklemmenden Aussicht sieht Dylia sich ausgesetzt, will sich aber keineswegs kampflos, wie Opal ihr empfiehlt, aus dem Fenster stürzen, um größeres Leid zu verhindern, wird sie dem Nachtmahr zufolge doch unausweichlich die Kontrolle über ihr Gehirn verlieren. Dylia will den Wahnsinn, der sie erwartet, erkunden. Sie unternimmt mit ihrem unheimlichen Gefährten eine Reise ins eigene Ich, deren Ziel das „dunkle Herz der Nacht“ ist.

Dieser Weg ähnelt anderen Abenteuerfahrten bei Moers. Die Reise durch ein Gehirn wird im Zamonien-Kosmos nicht zum ersten Mal unternommen, gefahrvolle Wanderungen durch Labyrinthe zählen zu den wiederkehrenden Erzählmustern der Moers’schen Romane. Dafür, dass ein Gehirn ein „wilder, gefährlicher, gnaden- und gesetzloser Urwald voller unberechenbarer Kreaturen“ ist, verläuft die Reise aber recht betulich von Station zu Station. Sicher, auch die Prinzessin und ihr Nachtmahr geraten in Gefahren und erleben manches Abenteuer. Spannung aber will sich dabei nicht einstellen, obwohl die beiden nicht nur ihre Queste bewältigen müssen, sondern auch noch in einem agonalen Verhältnis zueinander stehen. Dieser unterschwellige Kampf zweier Reise- und Schicksalsgenossen führt immerhin ein Ende herbei, das als eine Erweiterung der zamonischen Märchen-Poetik gelten darf. Es erinnert daran, dass, wie Mythenmetz in Ensel und Krete erläutert, „alle zamonischen Märchen traditionell tragisch enden“, aber auch daran, dass ein Lügengladiator namens Blaubär dereinst in einer epischen Schlacht das Happy End erfunden haben will.

Dass es sich um ein „somnambules Märchen“ handelt, ist zwar eine schiefe Gattungsbezeichnung für einen Text, der von Schlaflosigkeit handelt, bewahrheitet sich aber leider auf einer anderen Ebene ‑ auf keine gute Weise. Allzu schlafwandlerisch jongliert Moers mit vertrauten Versatzstücken und Erzählmustern. Origineller werden sie auch dadurch nicht, dass sie bis zur völligen Ermüdung ausgewalzt werden. Der Text ertrinkt in einer barocken Beispielfülle, die weder die Narration voranbringt noch an den funkelnden Ideenreichtum früherer Romane heranreicht. Jedes Ereignis, jede Wendung wird von beiden handelnden Figuren nachgerade zu Tode diskutiert, ohne dem jeweiligen Gegenstand neue Facetten abgewinnen zu können. Hinzu kommt, dass die Erzählprosa seltsam lieblos und eilig hingeworfen wirkt. Es wimmelt von Redundanzen, Tautologien (beispielhaft im obigen Zitat mit dem „kleinwüchsigen Gnom“ – sind „Gnome“ nicht per definitionem „kleinwüchsig“?), Widersprüchen auf engstem Raum, feststehenden, immer wiederkehrenden Wendungen (deren eine, zugegeben, für das Ende des Romans von entscheidender Bedeutung ist) sowie handwerklichen Schlampigkeiten, die ein strikteres Lektorat hätte verhindern können, etwa wenn Dylia ein Satz entfährt, während es ihr die Sprache verschlägt.

Der lieblose Umgang mit der Sprache ist umso verblüffender, als sie auf der Handlungsebene geradezu die Heldin des Textes ist. Dylia zelebriert den Umgang mit Synonymen, möchte gerne eine neue Sprache erfinden, übt sich in „ridikülisierendem Anagrammieren“ und ist von außergewöhnlichen Vokabeln, den sogenannten „Pfauenwörtern“, fasziniert. Bedauerlich, dass die poetische Kraft des Erzählers dieser Wertschätzung der Sprache keinen Tribut zu zollen vermag. So bleibt der Eindruck, dass in diesem Roman die zunächst geplante Erzählung steckt, die mit einer größeren Sorgfalt und Selbstbeschränkung durchaus hätte gerettet werden können, so aber in einer unkultivierten Sprachmasse ertrinkt.

In einem online veröffentlichten Bericht zur Lage der zamonischen Literatur verrät der Autor übrigens, dass er derzeit an zwei weiteren Zamonien-Romanen arbeitet. Das Schloss der träumenden Bücher ist keineswegs aufgegeben, soll aufgrund seiner Wichtigkeit als Abschuss der Buchhaim-Trilogie aber ohne Zeitdruck fertiggestellt werden. Wahrscheinlich erscheine daher noch vorher Die Insel der 1000 Leuchttürme. Hoffen wir das Beste. Es ist aber zu vermuten, dass die Hände der Leser dann etwas weniger feucht, die Finger aber noch spitzer sein werden.

Titelbild

Walter Moers: Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr. Ein somnambules Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem zamonischen übertragen von Walter Moers und illustriert von Lydia Rode.
Knaus Verlag, München 2017.
338 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783813507850

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