Wenn Kirsten einen Roman schreibt

Mit einem spürbaren Augenzwinkern umkreist Charles Lewinsky in seinem Roman „Täuschend echt“ das Spannungsfeld zwischen künstlicher Intelligenz und literarischem Schreiben

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er war schon sechzig Jahre alt, als ihm 2006 mit seinem euphorisch gefeierten Roman Melnitz, der vom Schicksal einer jüdischen Familie in der Schweiz über mehrere Generationen von 1871 bis 1946 erzählt, der literarische Durchbruch gelungen ist. Dabei hat Charles Lewinsky, der einige Jahre als Redakteur und Ressortleiter der Sendung „Wort-Unterhaltung“ des Schweizer Fernsehens gearbeitet hatte, schon früher viel geschrieben: sein erstes Theaterstück mit 16, den ersten (unveröffentlichten) Roman mit Anfang zwanzig, später Theaterstücke, Sketche fürs Fernsehen, erfolgreiche TV-Drehbücher, an die 700 Liedtexte und das Drehbuch für den von Oliver Hirschbiegel in Szene gesetzten Kinofilm „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ mit Ben Becker.

In seinem Roman Täuschend echt umkreist Lewinsky das Thema künstliche Intelligenz und die möglichen Auswirkungen auf das literarische Schreiben. So lesen wir kunstvoll miteinander verwoben auch einen Roman im Roman – optisch hervorgehoben durch Kursivdruck.

Im Mittelpunkt des Romans steht ein namenloser Werbetexter, der sich einige Zeit mit einprägsamen und verkaufsfördernden Slogans für Müsli-Produkte beschäftigte. Irgendwann wird sein Job weg rationalisiert, beinahe zeitgleich verlässt ihn seine Partnerin, die ihm einen stattlichen Schuldenberg hinterlässt.

Ich habe mich ihr nicht in den Weg gestellt. Habe nicht gebettelt. Sie hatte sich zum Gehen entschlossen, und ich habe sie gehen lassen.

Fortan beschäftigt er sich mit künstlicher Intelligenz, gibt immer wieder Stichworte in Chatbots ein und ist von den Ergebnissen fasziniert. Die Faszination wird beinahe zur Sucht, er gibt seinem Tool sogar einen Namen: Kirsten.

Eine Wende im ziemlich trostlosen Alltag des Protagonisten vollzieht sich, als ihn sein liebevoll-skurril gezeichnetes Nachbarspaar mit dem sehr vermögenden Frank zusammen bringt. Er will Bücher herausbringen, „die die Welt retten“ oder zumindest authentisch von den Übeln auf dem Erdball berichten.

Der einstige Werbetexter macht sich an die Arbeit, merkt aber schnell, dass das wahre Leben viel zu langweilig ist und seine Roman-Story mit Fakes aufgepeppt werden muss. Sein Tool „Kirsten“ liefert recht passable Arbeit: „In den Tiefen meines Wesens trommelte mein Herz eine Symphonie der Beklemmung, wobei jeder Schlag mit solcher Wucht ertönte, dass meine Angst auszubrechen drohte.“ „Kirsten“ scheint ein wenig zum Kitsch zu neigen, aber mit Hilfe des Tools schreibt er binnen eines halben Jahres 271 Seiten, oder 71 494 Wörter oder 424 684 Zeichen – und nennt das Romanmanuskript „Angst“. Frank ist begeistert, gibt das Buch heraus, und es avanciert zum Bestseller. Der einstige Müsli-Werbetexter kann sein Glück kaum fassen und genießt den Ruhm in vollen Zügen.

Nur mäßig gelungen in Lewinskys Roman ist eine Sequenz, in der der real existierende Literaturkritiker Denis Scheck auftaucht, der dann auf ziemlich plumpe Weise getäuscht wird – mit Hilfe der zurück gekehrten Freundin der Hauptfigur, die in die Rolle der angeblich authentischen Protagonistin aus dem in Zusammenarbeit mit dem Tool „Kirsten“ entstandenen Roman „Angst“ schlüpft.

Das große Spannungsfeld zwischen künstlicher Intelligenz und literarischem Schreiben hat Charles Lewinsky mit leichter Hand und mit einem spürbaren Augenzwinkern umkreist.

In Lewinskys Kindheitserinnerungen heißt es: „Ich fand immer, Schreiben ist etwas, das großen Spaß macht. Und etwas, das Spaß macht, kann ja kein Beruf sein.“ Heute mit 78 hat er eindrucksvoll das Gegenteil bewiesen.

Titelbild

Charles Lewinsky: Täuschend echt. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2024.
352 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783257073065

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