Der Weg eines Bildsujets in die Welt

Eine Sammelpublikation dokumentiert: Die Bildserie „Les Femmes d’Alger“ schreitet den ganzen Werkkreis von Picassos Schaffen und mehr als ein Jahrhundert Kunstgeschichte aus

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Picasso, das Jahrhundertgenie, hatte kein Talent zur Gelassenheit. Niemand ging die Welt so leidenschaftlich an wie er. Er wollte die Gegenstände, die seine Aufmerksamkeit erregten, festhalten, in sie eindringen, sich in ihnen verlieren. Er liebte starke und eindeutige Gefühle, und den stärksten Ausdruck der Gefühle fand er in der Umarmung, in der Liebe, in der Sexualität. Kein Künstler hat uns in seinen Werken eine so lebendige Autobiographie seines Sexuallebens hinterlassen wie er. Und fast immer haben seine Gefühle für die Frau, mit der er gerade zusammenlebte, seine Arbeit beeinflusst, vor allem natürlich, wenn das Motiv der menschliche Körper war. Picassos Erfolg liegt nicht zuletzt darin begründet, dass es ihm gelungen war, die lebendigsten Bilder sinnlicher Lust zu malen, die je in der Kunst entstanden sind.

Mit seiner 15 Gemälde und viele Vorzeichnungen umfassenden Bildserie Les Femmes d’Alger, die im Winter 1954/55 entstand – drei Monate hatte er intensiv daran gearbeitet –, leitete Picasso eine neue Phase in seinem Spätwerk ein. In keiner öffentlichen Sammlung hängt mehr als eines dieser Gemälde, allein die Sammlung des Museums Berggruen in Berlin-Charlottenburg enthält von den A – L bezeichneten Werken der Serie diejenigen Werke, die bis zu O gekennzeichnet sind.

Leihgaben aus dem In- und Ausland hatten es zudem möglich gemacht, dass im vergangenen Jahr auch weitere Werke der Serie, aber auch Werke von Delacroix und Matisse, die die Entstehung dieser Serie maßgeblich beeinflusst haben, sowie Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler im Museum Berggruen gezeigt werden konnten und so ein Bogen vom 19. Jahrhundert bis in die Jetztzeit gespannt wurde. Die eigentlich schon für das Jahr 2020 geplante Ausstellung Picasso & Les Femmes d’Alger, kuratiert von Gabriel Montua und Anna Wegenschimmel, war auch im vergangenen Jahr durch die Corona-Pandemie beeinträchtigt worden – trotzdem war die hohe Zahl der Besucherinnen und Besucher erstaunlich – , aber als dauerhaftes Zeugnis ist der Katalog geblieben und bietet uns die Vorlage für eine Nachbetrachtung dieses so bedeutenden Kunst-Events.

Von Picassos Kunst der Transformation und Verschiebung spricht Oliver Berggruen im Katalog angesichts des Zyklus Les Femmes d’Alger und Gabriel Montua bezeichnet die Serie als „Scharniermoment“ im Oeuvre Picassos. Wie ist das zu erklären? Picasso ist zwar nie im Orient gewesen, doch hatte er sich den Orient aus Gemälden anderer Malerinnen und Maler erschlossen. Seine Beziehung zu dem Klassizisten Jean-Auguste-Dominique Ingres war in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Dieser hatte immer wieder Frauen in abgeschlossenen Räumen gemalt, entweder im Harem oder im türkischen Bad oder er stellte sie als Odaliske mit einer Sklavin dar. Ingres hielt jeden spähenden männlichen Blick aus dem Bild heraus. Mit der runden Form von „Das türkische Bad“ (1863) suggerierte er allerdings ein Schlüsselloch, das die nackten Frauen in ungestörter Intimität zeigt.

Aber Picasso folgte in seiner Serie nun gerade nicht Ingres, sondern des Romantikers Eugène Delacroix‘ Femmes d’Alger, die dieser 1834 und 1849 nach einer Reise in das kurz zuvor von Frankreich kolonialisierte Algerien angefertigt hatte. Dabei interessierten ihn weniger das orientalische Dekor als vielmehr die Figuren, so Gabriel Montua. Delacroix‘ Frauen verhalten sich zurückhaltend, und das entsprach der Disziplin, die ihnen der Herr des Hauses auferlegte. Bei Picassos Frauen dagegen geht es zu, als würden sie sich – Montua gibt hier einen treffenden Vergleich – in einem Kaffeehaus befinden. Ihr Bewegungsdrang expandiert. Picasso führt sie vor wie Modelle in einem Künstleratelier, ja Darstellerinnen auf einer Bühne, auf der sie in ständig wechselnden Rollenspielen immer neue Identitäten anzunehmen haben. Michel Hilaire beschäftigt sich mit Delacroix‘ Femmes d’Alger und wie sich eine Generation jüngerer Maler mit diesem Meisterwerk auseinandersetzte.

Der Katalog bildet Picassos ganze Serie vollständig ab – in ihren originalen Größenverhältnissen – und damit auch die Vielzahl an unterschiedlichen Perspektiven. Ein Drittel der Gemälde ist in Grisaille, verweigert sich der Farbe wie in Picassos kubistischer Phase, lenkt die Aufmerksamkeit ganz auf die Komposition. Dagegen erinnern andere wiederum sehr an Matisse, der im November 1954 verstorben war, und Picasso hatte nach dessen Tod erklärt, seine Serie der Femmes d’Alger sei das Erbe von Matisse, das er jetzt antrete, geradeso, wie er Ingres‘ Türkinnen und Delacroix‘ Algerierinnen geerbt hatte. Picasso setzte aber nicht die Wiederholung, sondern eigentlich die totale Veränderung ein. Zunächst einmal entkleidete er seine weiblichen Figuren und schuf Akte in gewagten Positionen. Nichts mehr erinnert an das orientalische Ambiente. Immer wieder arbeitete er in seiner Serie mit anderen Kompositionsformen. In der Werkreihe von A bis O gibt es nie die gleiche Bildsituation, Picasso hat unaufhörlich verändert, sich nie wiederholt.

Was die Figurenbehandlung, die Raumanordnung und auch die reduzierter Farbpalette anbelangt, so kehrte Picasso in seinem Zyklus wieder zum Kubismus zurück, den er um 1910 mit Georges Braque entwickelt hatte. Durch die ganze Serie hindurch erkennt Gabriel Montua in den Körperhaltungen aller drei sitzenden oder liegenden Femmes d’Alger immer wieder eine große Nähe zu Matisse. Aber auch anstelle der von Delacroix eingesetzten arabischen Bodenfliesen verwendete Picasso bei seinen Böden wiederholt aus Linien gezogene Rautenmuster, auf die auch schon Matisse seine Figuren setzte.

Der bereits 1972 veröffentlichte Essay des US-amerikanischen Kunsthistorikers und -kritikers Leo Steinberg über Picassos Les Femmes d’Alger, der untersucht, wie Picasso Figuren und Objekte aus mehreren Blickwinkeln gleichzeitig zu erfassen und darzustellen sucht, ist einer der wichtigsten Beiträge des Kataloges. Steinberg schreibt, dass die Version A noch relativ schematisch ist, „das Prinzip der Anatomie durch Assemblage wird auf freiere Weise auf die gesamte, grob in Pyramidenform zusammengesetzte Gruppe angewendet“. Geht es Picasso dann in Version B um mehr Klarheit und Prägnanz, so verschieben sich darauf in Version C wieder Figuren und Objekte, Turbulenzen bestimmen das Bild. „Die Schlafende ist gekippt“, das sieht Steinberg als Picassos einschneidendsten Eingriff in die Vorlage von Delacroix an, die Figurenkonstellation wird wieder offen. Gemälde D reduziert die Odaliske in ihrer Größe, zeigt sie aber jetzt in ihrer „wachsamen Präsenz“, während sich die liegende Schlafende nun dauerhaft in ihrer Position eingerichtet hat. Version E holt das Bild nah an die Betrachterin oder den Betrachter heran und kehrt zum vereinfachten Drei-Figuren-Typus zurück, der blaue Akt erstreckt sich in zweideutiger Erotisierung über den ganzen Vordergrund, während der Hintergrund an „Las Meninas“ von Velázquez zu erinnern scheint, denen sich Picasso später in einer Serie an Variationen zuwenden sollte. So könnte es auch in Gemälde F Reminiszenzen an Cézannes „L’Après-midi à Naples“ (ca. 1875) geben. Version H, sie ist die achte in der Serie und zugleich das erste der großen Gemälde, setzt ironische Kontraste, die Farben werden dekorativ verwendet. Und was die Liegende anbelangt, die hier sowohl von ihrer Vorder- wie Rückseite gezeigt wird – die Körperteile scheinen wie auseinandergefallen zu sein –, bietet dann Version M, „ein Bild von wiedererweckter Sinnlichkeit und strenger formaler Schönheit“, so Steinberg, die Lösung: Durch Verschiebung eine ungewöhnliche, von allen Seiten ansichtige Körperdarstellung zu präsentieren.

In Gemälde O erscheint die unerwartete Verknüpfung der zusammengesetzten Figur der Schlafenden mit jener anderen Figur von ikonischer Frontalität, der wachsam die Situation überblickenden Odaliske, durchaus logisch. „Die Paarung der beiden Figuren in ihren jeweiligen Modalitäten objektiviert diesen kraftvollen Blick, dessen Umsetzung den Künstler über fünfzig Jahre beschäftigt hat“ (Steinberg). In der Version O will man auch in der Odaliske die Gesichtszüge von Jacqueline Roque, Picassos Lebensgefährtin ab 1953, erkannt haben.

Sieben Jahre nach den anonymen Frauen in seiner Serie Les Femmes d’Alger ging es Picasso dann nicht mehr um das Erbe des europäisierten Orients, sondern er griff mit dem Porträt von Djamila Boupacha (1961) direkt in die politischen Auseinandersetzungen in Algerien ein. Die 20-jährige junge Frau war beschuldigt worden, ein Bombenattentat in Algier geplant zu haben, und nach Vergewaltigung und Folter – durch Angehörige der französischen Armee – zum Tode verurteilt worden. Picassos Porträt erschien als Schutzumschlag einer Dokumentation, die diese eklatante Menschenrechtsverletzung aufarbeitete.

1963 sollte dann der amerikanische Künstler Roy Lichtenstein, angeregt durch Picassos Zyklus Femmes d’Alger, ein kolossales Gemälde schaffen, in dem nur die Augen und die Brüste auf eine menschliche Figur verweisen. Anna Wegenschimmel sieht hier „eine Art Stille-Post-Spiel – von Delacroix über Picasso bis zur amerikanischen Pop Art“. Ausgehend von Vorlagen der Reproduktionen, hat Lichtenstein eine Zeichnung gefertigt, die er fotografierte und anschließend projizierte, um sie dann auf die Leinwand zu übertragen. Wie vor ihm Picasso bei Delacroix kombinierte Lichtenstein aus den Picasso-Vorlagen K und L eine eigene, noch weiter abstrahierte und reduzierte Version. Einerseits ist es eine Hommage an Picassos Serie, andererseits auch eine freie Aneignung der Vorlage. Der mexikanische Künstler Jose Dávila ging schließlich in seiner 2016 gefertigten Serie Untitled (Femmes d’Alger) noch einen Schritt weiter und schnitt kontinuierlich einzelne Flächen aus seinen Lichtenstein-Reproduktionen heraus. Es blieben nur noch Umrisslinien auf einer fast gänzlich weißen Fläche.

Seit den 1980er Jahren wurde Picassos Serie Les Femmes d’Alger auch als Bestätigung angesehen, dass Frauen ihre eigene Bildsprache und Sexualität zurückzufordern haben. Die feministische Schriftstellerin Assia Debar, die bedeutendste Autorin des Maghreb, pries in ihrem Roman Femmes d’Alger dans leur appartement (1980) Picassos „Ausbruch“ der Frauen aus dem Harem, deren Nacktheit sah sie als eine „Wiedergeburt dieser Frauen in ihren Körpern“ an und sie steigerte sich sogar zu einer kühnen Widerstands-Metapher: Picassos fragmentierte Formen würden auf die Bomben anspielen, die sie unter ihrer Kleidung trugen, „als seien sie ihre eigenen Brüste“, die „gegen ihre eigenen Körper explodierten“.

1994 malte Djamel Tatah, ein französischer Maler mit maghrebinischen Wurzeln, zwei Les Femmes d’Alger betitelte Bilder, die als Widmung an die Frauen von Algier gelesen werden können. Und Baya Mahieddine, eine der frühen Vertreterinnen der Art Brut, zeigt in ihren farbenfrohen Gouachen Frauen mit Vögeln, Pflanzen und Musikinstrumenten, die ihrer feministischen, antikolonialen Haltung entstammen. 1948 erhielt sie einen Atelierplatz in der Keramikwerkstatt Madoura im südfranzösischen Vallouris, wo sie Picasso begegnete. Aber dass sie ihn zur Serie Les Femmes d’Alger inspiriert hätte, ist doch wohl eine Legende.

Ist die Rezeption von Picassos Femmes d’Alger in Algier eine Geschichte von Missverständnissen, fragt Bernadette Nadia Saou-Dufrêne. Denn Assia Djebar und Rachid Boudjedra, ebenfalls algerischer Schriftsteller, hatten 1980 und 1996 Picassos Serie als Unterstützung der Unabhängigkeit Algeriens dem vermeintlichen Kolonialisten Delacroix gegenüber angesehen. Djebar konfrontierte die an einem Ort eingesperrten, dem männlichen Blick entzogenen Frauen von Delacroix mit den entblößten, unverschleierten Frauen Picassos. Die Macht des Blickes steht im Mittelpunkt ihrer Argumentation, während  Boudjedra von einer Erotisierung der Körper bei Picasso spricht. Delacroix‘ Femmes d’Alger werden zu Unrecht zum Emblem einer orientalischen Vereinnahmung der weiblichen Figur degradiert.

„,Ausbruch‘ aus dem Harem. Das Nachleben von Picassos ‚Femmes‘“ hat Amanda Beresford ihren Katalog-Beitrag genannt. Warum heißen Feministinnen ausgerechnet den „Sexisten“ Picasso als Befreier willkommen, ist ihre Frage. Als Picasso während der Algerischen Revolution im Winter 1954/55 seine Serie Les Femmes d’Alger malte, hat er sie wohl kaum als Beitrag zur Autonomie und Selbstbestimmung der Frauen verstanden. Dennoch haben Autorinnen seit 1962, also seit der Unabhängigkeit Algeriens, eine Umkehrung der gängigen Sichtweisen initiiert, indem sie ausgerechnet Picassos Gemälde für ihr eigenes Anliegen beanspruchen. Der Algerienkrieg habe Picasso motiviert, so ihre Auffassung, das lang gehegte Vorhaben auszuführen, sich mit Delacroix‘ Gemälden auseinanderzusetzen. Er passte den algerischen Frauen seine eigene Vorstellung an. Delacroix‘ passive Odalisken verwandelte er „in lebende, sexuelle Körper, fragmentiert und spontan“ (A. Beresford). Aber indem sich die algerischen Autorinnen und Autoren den „Eroberer“ Picasso zu eigen machten, vollzogen sie eben auch jene für diesen so charakteristische „Transformation“.

Dieser Band garantiert tatsächlich spannende Entdeckungen und regt zu eigenen Schlussfolgerungen an.

Titelbild

Gabriel Montua / Anna Wegenschimmel: Picasso & Les Femmes d‘Alger. Museum Berggruen – Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin.
Hirmer Verlag, München 2021.
192 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783777435848

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