Das Dorf, die Mädchen und der Fremde

Zu Andreas Mosters erstaunlichem Romandebüt „Wir leben hier, seit wir geboren sind“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Er selbst besaß keine Vorstellung über den Steinbruch hinaus“. Dieser Satz aus Andreas Mosters Romanerstling Wir leben hier, seit wir geboren sind ist symptomatisch für das Buch und dokumentiert gleichzeitig die Abgrenzung von der begrenzten Realität einerseits und den unendlichen Möglichkeiten der Literatur andererseits. Die Literatur weist über das Denkbare, aber eben auch weit über das Vorhandene, Erwartbare, Bekannte hinaus. Sie erweitert die Vorstellung des Lesers. Und Andreas Moster tut dies auf kühne und gewagte Weise. Ein Mann kommt in ein Dorf. Allein dieser Topos birgt Spannung, Neugier und potenzielle Gewalt in sich. Man kennt ihn unter anderem aus Thomas Willmanns Das finstere Tal oder Philippe Claudels Brodecks Bericht. Der (oder das) Fremde bricht in das Vertraute ein, womit Chance und Gefahr gleichermaßen einhergehen können. Das Dorf lebt vom Steinbruch, dessen Besitzer eben jenen Mann – später wird man erfahren, dass er Georg Musiel heißt – losgeschickt hat, um vor Ort nach dem Rechten zu sehen, um den Zustand in Augenschein zu nehmen, die Bücher zu inspizieren, kurz: Er ist eine Art Controller, der die Rentabilität und Produktivität der Stätte prüfen soll, die nahezu allen Familien des Dorfes ihren Unterhalt, ihre Existenz sichert. Keines dieser Wörter aus dem Bereich Wirtschaft, Management et cetera kommt in Mosters Buch vor, sein Text verweigert radikal und konsequent jegliche Zuordnungen; man erfährt nicht, in welcher Zeit die Handlung spielt, noch an welchem Ort, in welchem Land oder Kulturkreis.

Man könnte nun akribisch durch die Zeilen gehen, um festzustellen, dass kaum technische Geräte Erwähnung finden, dass Transporte mithilfe von Tieren oder mit dem Zug durchgeführt werden. Doch daraus abzuleiten, man befinde sich in einem historischen Roman, führt einerseits in die Irre und bringt andererseits nichts. Besser ist es, sich ganz dem Text und Mosters Souveränität hinzugeben, einem Text, der weit entfernt ist von momentan gängigen Schreibweisen, was vor allem an seinen sprachlichen Eigenheiten, der ungewohnten Bildhaftigkeit seiner Beschreibungen und einem stellenweise beinahe expressionistischen Sprachvermögen liegt.

Das Dorf gerät ob Musiels Besuch schnell in Aufregung, vor allem eine Gruppe Mädchen, nicht mehr Kind und noch nicht Frau, reagieren besonders stark. Sie zeichnen einzelne Körperteile von ihm, nähern sich ihm, projizieren Wünsche auf ihn. Der Fremde ist in ihren Augen der Heilsbringer, derjenige, der ihnen die Flucht aus einer stark von den herrischen Vätern geprägten archaischen Dorfstruktur ermöglichen könnte. Die Stimmung im Dorf ist explosiv, seit Georg Musiel angekommen ist; an einer Stelle heißt es: „Ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn er hierbleibt, wenn er nicht geht, das Dorf nicht verlässt. Wenn die Wut unserer Väter an den Nähten aufreißt und die Tiere durch die Straßen ziehen, um mit weißen Augen zu fressen.“ Und tatsächlich geschehen noch einige dramatische Dinge in diesem schmalen und hoch konzentrierten Roman, dessen Erzählstimmen auf riskante Weise wechseln, weswegen der Leser sich immer wieder klar machen muss, wer gerade zu ihm spricht. Wir leben hier, seit wir geboren sind lässt viel Raum für Interpretation, die angelegten Motive sind vielfältig, geschickt eingebaut und nie aufdringlich. Moster ist mit diesem Buch Erstaunliches geglückt: Die deutsche Gegenwartsliteratur hat fernab des Mainstream und der Verkaufshitlisten eine wagemutige neue Stimme bekommen.

Titelbild

Andreas Moster: Wir leben hier, seit wir geboren sind.
Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 2017.
175 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783847906278

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