Verstrickungen mit der Zeitgeschichte
Die Frage nach der eigenen Verortung in der Vergangenheit treibt den Protagonisten in Michaela Maria Müllers Roman „Zonen der Zeit“ um
Von Michael Fassel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Archivar Jan bezeichnet sich als Zeithistoriker und bearbeitet Akten des Auswärtigen Amtes. Als er die Akte des Jahres 1991 in den Händen hält, überwältigen ihn Erinnerungen an die Vergangenheit. Denn für Jan war das Jahr ein ganz besonderes. Diese Informationen gibt der Epilog preis, ohne zu erklären, welches einschneidende Erlebnis Jan erlebt hätte. Michaela Maria Müllers dritter Roman Zonen der Zeit erweist sich als eine geheimnisvolle Lektüre. Der Ich-Erzähler Jan deckt nur allmählich auf, was im besagten Jahr sein Leben verändert hat.
Als sein Vater 1991 – Jan war zehn Jahre alt – die Familie verließ, um nach Russland zu gehen, zog Jan mit seiner Mutter von Süddeutschland nach Berlin. Dort verbrachte er die Nachmittage nach der Schule in einem Kiosk. Heute beschäftigt ihn unter anderem die Frage, warum sein Vater die Familie verlassen hat. In dem Versuch, Szenen seiner Kindheit zu schildern, räumt Jan ein: „Meine eigenen Erinnerungen an diese Zeit bleiben verwaschen.“ Allerdings vermag er ein einprägsames Bild wiederzugeben:
Ich sah mich im Kiosk mit dem Brett, das ich jeden Tag nach der Schule über das Handwaschbecken mit der rosa Seife gelegt hatte. Dort machte ich auf einem Hocker meine Hausaufgaben.
Jan lässt Enni an seiner fragmentarischen Erinnerung teilhaben, obgleich er sich selbst als wortkarg beschreibt. Zehntausend Schritte pro Tag seien für ihn üblich, aber sechzehntausend Wörter pro Tag nahezu unmöglich. Von seiner Frau, der Pharmavertreterin Katja, von der er sich trotz der zwei gemeinsamen Söhne längst entfremdet hat, wandern seine Gedanken hin zu den Erinnerungen, die sich nicht nur auf privater, sondern auch auf politischer Ebene abspielen. Er erinnert sich an die Aufbruchstimmung des Jahres 1990 – das wiedervereinigte Deutschland, die Unterzeichnung der Charta von Paris, das von Fukuyama postulierte Ende der Geschichte. Jan ist nicht imstande, die Akte des Jahres 1991 zu bearbeiten, ohne auch seine eigene Geschichte zu berücksichtigen. Zusammenhänge werden nicht auserzählt, sondern angedeutet.
Zuweilen tritt der zunächst kaum entscheidungsfreudige Jan auf der Stelle, führt immer wieder interessante Zeitreflexionen an und sieht sich selbst als Grübler. Er versucht seinen Platz zu finden, die Vergangenheit zu sortieren, Fragen zu stellen, deren Antwort er schuldig bleibt. „Was zeichneten wir für ein Bild von der Vergangenheit – und wo konnte ich mich verorten?“ Jan changiert zwischen Schicksalsergebenheit und der Frage, was er hätte anders machen können. Sämtliche Beobachtungen verknüpft er assoziativ mit der Vergangenheit und beginnt sie zu hinterfragen. Der Anblick des Kinoplakates von A Clockwork Orange in seiner Lieblingspizzeria etwa führt ihn zu der Frage, warum Anthony Burgess diesen Titel wohl gewählt hatte. Die ihm innewohnende Melancholie ist auf Dauer allerdings ermüdend. Jan verblasst zunehmend hinter den essayistischen Gedankensprüngen über Zeitfragen, die sich nicht auf die letzten achtzig Jahre beschränken, sondern auch Reflexionen über z.B. die Eiszeit umfassen.
Mit Enni, die sich als weitere Ich-Erzählerin mit Jan abwechselt, führt Michaela Maria Müller eine Kontrastfigur ein, die Dynamik in den Roman bringt. Sie ist das Gegenteil, erweist sich als besonders entscheidungsfreudig. Diese Eigenschaft ist in ihrem Job als Gruppenführerin der freiwilligen Feuerwehr essentiell. Zudem nimmt sie Notrufe der Leitstelle entgegen. Dass sie zur Feuerwehr gehen würde, hatte sie nach dem 11. September 2001 entschieden: „Egal wie aussichtslos eine Lage ist, man muss weitermachen.“ Privat beschäftigt sie sich mit Dating-Apps, auf der Arbeit muss sie sich mit dem Kollegen Lucke auseinandersetzen, der nicht nur wegen seiner frauenfeindlichen und homophoben Sprüche in der WhatsApp-Gruppe unangenehm auffällt, sondern Enni und andere Kameradinnen auch körperlich bedrängt. Die Entscheidung, den Diskurs von Geschlechterdifferenz und der MeToo-Debatte in den Kontext der Feuerwehr einzubauen, erweist sich als ausgesprochen innovativ. Gleichzeitig bleiben die eigenwilligen Figuren, insbesondere Jan, unnahbar. Dies ist der zwar präzisen, aber sehr nüchtern gehaltenen Sprache des Romans geschuldet.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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