Großbürger, Gräfinnen und Geopolitik

Alexander Münninghoff rekonstruiert in „Der Stammhalter“ das ‚Alte Europa‘ als Familienchronik

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Solche Großväter wie Joannes Münninghoff, von denen der schon 2020 verstorbene Enkel Alexander Münninghoff in seinem – wie es im Untertitel heißt – „Roman einer Familie“ erzählt, sind Figuren wie aus dem Mythos. Zumindest gehören sie einer Zeit an, in der für das politische, soziale und private Leben in Europa noch gänzlich andere Koordinaten gegolten haben als für die Enkelgeneration. Um diesen Großvater als Familien- und Geschichtszentrum entfaltet und gestaltet Münninghoff das tatsächlich europäische Panorama seiner Genealogie.

Die äußeren Fakten und Daten wie die westfälischen Wurzeln des Familiennamens, der fast schon unermessliche, in Lettland vor dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute Reichtum des Kaufmanns Joannes Münninghoff sowie die Eheschließung im Oktober 1919 mit seiner Lebensliebe, der deutschbaltischen Gräfin Erica Schumacher, entsprechen den Lebensgeschichten der Familie Münninghoff. Auch das schon vom Januar 2014 stammende Vorwort des Autors Münninghoff rekapituliert diese Eckdaten verbunden mit dem Hinweis. Daher sollte man den Text nicht leichtfertig in die heute populäre Gattung der Autofiktion einreihen. Diese vorschnelle Einordnung spiegelt die nicht ganz gelungene – sonst aber vorzügliche – Übersetzung des Untertitels wider: Heißt es im Original „Een familiekroniek“, so wurde der Text in der deutschen Übersetzung kurzerhand zum „Roman einer Familie“. Es mag ein feiner Unterschied sein, doch markiert die vom Autor ja selbst vorgenommene Gattungsbezeichnung der (Familien-)Chronik noch einmal ein ganz anderes Spannungsverhältnis zwischen Fakten und Fiktion, zwischen der Wirklichkeit und dem Erzählen davon als die Bezeichnung „Roman“.  Gleichwohl, das sei der Bezeichnung als „Roman“ zugestanden, arbeitet Münninghoff natürlich sehr auffällig sowohl mit Mitteln der Authentizität als auch Literarizität, wenn etwa althergebrachte Motive und Konstellationen wie das angstfreie Verhältnis des Enkels zum Großvater oder „das blinde Schicksal“ aufgegriffen werden, denen auffällig seltene explizite Ich-Aussagen und damit Bewertungen aus der Rückschau gegenüberstehen. Dass diese Motive und Schreibweisen immer gekoppelt sind an historische Ereignisse und Phänomene, die wiederum durch Tempuswechsel oder Schilderungen aus der Innenperspektive von Figuren auf ihre erzählerische (Über-)Formung verweisen, markiert natürlich das hybride Gattungsmodell, dessen sich Münninghoff hier bedient.

Der Stammhalter, so wird der Enkel vom Großvater betrachtet, ist nämlich mit Blick auf die überindividuelle Relevanz der Geschichte auch ein Platzhalter: Es geht eben nicht nur um diese eine Familie, aus der Perspektive des Ich-Erzählers nicht nur um seine Familie, sondern auch um Familien mit ähnlichen Profilen und Geschichten in der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts – und doch muss es natürlich auch genau diese Familie sein, von der erzählt wird und die unser Interesse findet. Literarisch macht sich diese Spannung von Erzählen und Chronikalem, von künstlerischer Gestaltung und Rekonstruktion insofern bemerkbar, als der aus drei Teilen bestehende Text spätesten im dritten Teil („Schutzengel“) an Brillanz verliert, auch an erzählerischer. Vielleicht, weil der Gegenstand, die Themen und die Figuren nicht mehr so viel hergeben wie jene aus dem ersten („Das Herrenzimmer“) und zweiten („Wera“) Teil, in denen die alte europäische Welt des Großvaters und seiner Generation bis zum Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt stehen. Man fühlt sich womöglich erinnert an ein Leseerlebnis mit einem anderen, vor mehr als sechzig Jahren erschienenen Roman, der ein ähnliches mittel- und osteuropäisches Geschichtspanorama aus deutscher Perspektive entfaltet und auch in seinem letzten Teil merklich an Kohärenz und Überzeugungskraft verliert: Günter Grass’ Die Blechtrommel  (1959) vermag den Leser in jenem letzten Teil des Romans, in dem die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und die Konsolidierung bürgerlicher, oft genug auch spieß- und kleinbürgerlicher Verhältnisse erzählt werden, bei weitem nicht mehr so in seinen Bann zu ziehen wie die Kapitel über die kaschubische Großmutter mit ihrem Röcke-Einmaleins.

Durch die Lebensumstände der Protagonisten und den Lebensmittelpunkt des Großvaters bis zum Zweiten Weltkrieg in Riga ist Münninghoffs Chronik auch ein Text über die deutsche Geschichte im Baltikum, die hier freilich aus einer niederländischen,  nicht deutschen, zumindest nicht nur deutschen Perspektive erzählt wird, die uns heute merkwürdig international vorkommen mag. Der Großvater denkt und agiert in europäischen Grenzen und sieht die staatlich-geopolitisch fragilen Konstellationen gerade in Osteuropa (noch) nicht und nicht nur als Vorboten und Voraussetzung für die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Er bewegt sich mit seinen Einstellungen in einem ideengeschichtlichen Spektrum durchaus liberaler, in seinem Falle sogar pazifistischer Europa-Vorstellungen, wie wir sie für die Zeit um und ab 1900 vielfach finden können. So ist es dem alten Münninghoff durch Zufall möglich geworden, durch die enorme finanzielle Unterstützung des damaligen lettischen Ministerpräsidenten Kārlis Ulmanis (1877–1942) dessen Sturz abzuwenden und sich eine Sonderrolle in Riga zu sichern. Gleichzeitig mündet diese Rettung in eine durch Gleichschaltung und Parteienverbot pervertierte diktatorische Herrschaft Ulmanis seit 1934. Für den Großvater scheinen das aber noch keine alarmierenden Warnzeichen gewesen zu sein, die eigenen politischen Wertmaßstäbe zu überdenken.

Das ändert sich freilich mit dem Jahr 1939. Die fast auf einen Schlag veränderte politische Ordnung wirbelt auch das Leben der Familie Münninghoff grundlegend durcheinander, die aus Lettland in die Niederlande fliehen muss. Wie in einem Brennglas spiegelt sich in dieser Familie sinnbildlich das Schicksal der insgesamt etwa 150.000 Deutschbalten, die ihre Lebensumstände und -entwürfe aufgrund der geheimen Zusatzabkommen für das Baltikum zwischen Hitler und Stalin neu ausrichten mussten. Nebenbei wird anhand der Vorfahren von Erica von Schumacher, der Großmutter des Erzählers, auch die Vorgeschichte von Stalins Polenhass rekapituliert, indem gezeigt wird, wie Wladimir von Schumacher als Deutschbalte im sowjetisch-polnischen Krieg (1919–1921) zwischen die (nationalen) Fronten gerät und auch die innerrussischen Auseinandersetzungen zwischen den „Weißen“ und „Roten“ im Bürgerkrieg nicht ohne Folgen für das Baltikum geblieben sind. Von ähnlicher erzählerischer Souveränität, und ohne moralisch den Zeigefinger zu heben, dürfte von diesem (heute fast vergessenen) Konflikt nur Isaak Babel in seinen Erzählungen Die Reiterarmee berichtet haben.

Neben der Großvaterfigur und dessen Verwurzelung in alten europäischen Denkmustern nimmt sich der Vater des Erzählers, Frans, eigentümlich blass aus. Er ist in jeder Hinsicht aus der Art geschlagen: Zwar hat er die emotionale Unbedingtheit in Liebesdingen von seinem Vater geerbt, gleichzeitig begeistert er sich aber für das Hitler-Regime und die Rassenideologie der Nationalsozialisten und meldet sich im Oktober 1940 zur Waffen-SS. Als symbolische Figur ist Frans indessen aber eben auch mehr als nur der Vater des Ich-Erzählers: Mentalitätsgeschichtlich plausibel und nachvollziehbar wird ein Phänomen, was die Geschichtsbücher nicht selten und trotz aller überzeugenden Erklärungsmodelle ratlos zurücklässt: Wie werden aus Großbürgerkindern mit europäisch und in diesem Fall auch noch pazifistisch gesinnten Vätern glühende Nazi-Anhänger? Das Buch gibt darauf keine Antwort, es schildert nur die Lebensumstände und Denkhorizonte seiner Figuren und spart ganz im Sinne einer Chronik auch die irrationalen Momente und Entwicklungen nicht aus, die gleichwohl ihren historischen Ort und Kontext hatten.

Titelbild

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
334 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406727320

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