„Zusammen geht es ja auch viel schneller!“

Von mutigen Kindern, Vielfalt und Zusammenhalt in aktuellen Kinderromanen

Von Jana MikotaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Mikota

Im Kinderbuch der letzten Jahre treten immer wieder mutige kindliche Figuren auf, die nicht nur entschieden gegen den Klimawandel kämpfen, sondern auch für ein Miteinander stehen und sich für Akzeptanz sowie Zusammenhalt einsetzen. Exemplarisch an ausgewählten Beispielen soll der Blick auf aktuelle Neuerscheinungen im Bereich des Kinderbuches gelenkt und gezeigt werden, wie sich kindliche Figuren in schwierigen Situationen behaupten, sich Rassismus und Ausgrenzung widersetzen und Vielfalt leben möchten. Dabei werden in den kinderliterarischen Texten mutige, selbstbewusste Kinder gezeigt; ihnen zur Seite gestellt werden oft erwachsene Figuren, die ihnen beistehen und sie auch fördern. Zusammenhalt, Akzeptanz, ein solidarisches Miteinander sowie Unterstützung spielen sich dabei in unterschiedlichen Kontexten ab, wobei das Klassenzimmer einen wichtigen Platz zugewiesen bekommt. Hier begegnen sich täglich unterschiedliche Schülerinnen und Schüler, die mehrere Stunden miteinander verbringen, die Stärken und Schwächen kennen und nach Positionen im Klassenverband suchen. Die Suche gestaltet sich unterschiedlich, denn die kindlichen Figuren können auch Ausgrenzung erleben, finden aber den Mut, sich zu widersetzen.

Wie soziale Ausgrenzung aussehen kann, erzählt der Kinderroman Irgendwo ist immer Süden (dt. 2020, norw. 2018) der norwegischen Autorin Marianne Kaurin und fokussiert sich auf sozioökonomische Ungleichheit im Klassenzimmer – ein Themenfeld, das sich verstärkt in aktuellen kinderliterarischen Texten findet und nach neuen Darstellungsmustern sucht. Im Mittelpunkt steht Ina, das kurz vor den Sommerferien erleben muss, wie ihre Mitschüler:innen über ihren Sommerurlaub sprechen. Ina selbst muss die Sommerferien zu Hause verbringen, ihre Mutter ist krank und es ist kaum Geld vorhanden. Spontan belügt sie ihre Mitschüler*innen, erzählt von einem Urlaub im Süden und schafft es so, Aufmerksamkeit bei den beliebten Kindern zu bekommen.

Parallel zu ihrer Lüge kommt auch ein neuer Schüler, Vilmer, in die Klasse, der wie Ina in dem sozial schwachen Viertel der Stadt lebt und die Freundschaft zu Ina sucht. Diese ist jedoch voller Sorge, dass er ihre Lüge enttarnt. Die ersten Tage der Sommerferien versteckt sie sich daher in der Wohnung, schaut sich das schöne Wetter nur von Innen an und wird aufgrund eines Fehlers dennoch von Vilmer entdeckt. Gemeinsam bauen sie sich dann in einer ehemaligen Hausmeisterwohnung ihre Interpretation von einem Urlaub im Süden auf und Ina verschickt auch Bilder in die WhatsApp-Gruppe der Klasse. Dabei wird deutlich, dass sie zwar mit Vilmer die Ferien genießt, sich aber auch schämt und mit den Bildern auf die Anerkennung der beliebten Schüler*innen hofft. Als ihre Lüge herauskommt, muss sie sich entscheiden: Will sie weiterhin mit Vilmer befreundet sein oder sich den beliebten Kindern anschließen? Erst langsam erkennt sie den Wert der Freundschaft mit Vilmer, steht zu ihm und widersetzt sich so auch ihren Mitschüler:innen.

Der Roman lässt sich als ein Schwellentext zwischen einem kinder- und einem jugendliterarischen Text lesen, behandelt mit dem Spiel „Süden“ eher kindliche Themen während sich insbesondere in der Darstellung der Beliebtheit und der Konkurrenz der Kinder untereinander auch erste jugendliterarische Themen andeuten. Ähnlich wie Will Gmehling in seinem preisgekrönten Roman Freibad (2019) zeichnet auch Kaurin eine Kindheit nach, die zwar von Sparsamkeit und Einschränkungen bestimmt ist, die jedoch zudem durch Spiel und Sorglosigkeit charakterisiert ist. Kaurin stellt mit Ina jedoch nicht von Beginn an ein Mädchen in den Mittelpunkt, das ihren sozialen Hintergrund akzeptiert, sondern zeigt ihr Dilemma. Sie sehnt sich nach geordneten Verhältnissen, möchte zu den beliebten Kindern gehören und mit ihnen ihre Freizeit verbringen. Erst langsam erkennt sie auch, dass diese gemein anderen Kindern gegenüber sind. Diese Erkenntnis vollzieht sich langsam, muss wachsen und damit gehört Ina zu jenen kindlichen Figuren, die im Laufe der erlebten Ereignisse eigene Werte und Vorstellungen entwickeln. Im Klassenzimmer erfahren sowohl Ina als auch Vilmer Ausgrenzung und Spott aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation. Während jedoch Vilmer dies bereits gewohnt ist, sich dem entziehen kann, hat Ina noch den Wunsch, dazuzugehören und denkt Akzeptanz in materiellen Gütern. Daher belügt sie ihr Umfeld und erst mit Vilmers Hilfe lernt sie, sich und ihre Situation besser zu verstehen.

Anders verhält es sich in dem Kinderroman Der Junge aus der letzten Reihe (2020) von Onjali Q. Raúf, in dem von Flucht und Integration erzählt wird. Die kindlichen Figuren widersetzen sich Rassismus sowie Ausgrenzung und helfen einem geflüchteten Jungen. Dabei fokussiert sich die Geschichte auf die Thematik der Ankunft und lässt die Geschichte aus der Sicht der zehnjährigen Ich-Erzählerin Alexa schildern. Sie beschreibt, wie ein neuer Junge, Ahmet, in die Klasse kommt, kaum spricht und von einer Frau abgeholt wird. Alexa und ihre Freunde Michael, Josie und Tom finden heraus, dass es sich um einen Flüchtlingsjungen handelt. Er hat seine Eltern während der Flucht verloren, was Alexa sehr beschäftigt und als sie schließlich im Bus hört, dass Großbritannien die Grenzen für weitere Geflüchtete schließen will, möchte sie Ahmet helfen. Er hat seine Eltern auf der Flucht verloren und Alexa sorgt sich, dass die Grenzschließungen die Zusammenführung der Familie verhindern.

Von besonderem Interesse in dem Roman sind die kindlichen Figuren sowie die konsequente kindlich-naive Erzählweise, aus der sich auch der Akt der Solidarität entwickelt. Alexa blickt mit wenig Wissen über Fluchterfahrungen auf den Jungen, weiß aber intuitiv, dass sie ihm helfen möchte und entwickelt mit ihren Freund:innen einen Plan. Dabei wird Alexa von Beginn an als ein sensibles Kind gezeigt, das Werte wie Mitgefühl bereits entwickelt hat. Dabei versucht sie sich in die Situation des neuen Jungen hineinzuversetzen, ahnt, dass es „bestimmt zu den schlimmsten Dingen auf der Welt“ gehört, „irgendwo neu zu sein“ und beschließt, in der Pause ihre Zitronendrops mit ihm zu teilen. Sie muss dementsprechend ein solidarisches Verhalten nicht üben, sondern wird von Beginn an so angelegt. Der zweite Schwerpunkt ist der Aspekt der Interkulturalität, denn insbesondere die Vielfalt einer Gesellschaft als etwas Positives wird im Roman hervorgehoben. Alexa, die selbst dunkelhäutig ist, versteht die Angst nicht, die (weiße) Menschen vor anderen Hautfarben haben. Damit erfolgt solidarisches Handeln auf mehreren Ebenen: Einerseits helfen Alexa und ihre Freunde Ahmet, andererseits geht es auch um Erfahrung von children of color und der Text lässt sich als Appell an die Lesenden verstehen.

Ein wichtiges Thema der Kinderliteratur ist Diversität in unterschiedlichen Formen, wobei auch Diversität in Familien nach wie vor ein bedeutendes Thema der Kinderliteratur ist. Diversität und Zusammenhalt in Familien spielt bspw. in der Kinderbuchreihe Familie Flickenteppich (2019ff.) von Stefanie Taschinski eine wichtige Rolle und deutet bereits in der Titelgebung „Familie Flickenteppich“, dass Familie neu gedacht und nicht ausschließlich auf biologische Verwandtschaft reduziert werden kann. Anders als es jedoch der Titel vielleicht vermuten lässt, geht es hier nicht um die Zusammenführung zweier Familien aufgrund der Heirat der Elternteile, sondern um das Leben in einem Mehrfamilien- sowie Mehrgenerationenhaus.

Emma, acht Jahre alt und Ich-Erzählerin, zieht mit ihren Geschwistern und ihrem Vater um, denn nach der Trennung – die Mutter ist nach Australien gegangen – schlägt die Familie ein ganz neues Kapitel auf. Im Haus selbst lebt eine weitere Familie, hier ist es die alleinerziehende Mutter, sowie eine ältere Dame sowie ein älteres Ehepaar. Die Kinder freunden sich schnell an, nach anfänglichen Problemen mit dem älteren Ehepaar kommt es auch hier zu einer Annäherung und die Hausgemeinschaft wird als Familie Flickenteppich bezeichnet und unterstützt sich gegenseitig. Ganz selbstverständlich stellt Taschinski Familien mit und ohne Migrationshintergrund vor, problematisiert nicht, sondern lediglich die Namen der Figuren können darauf verweisen. Genau das ist aber entscheidend: Es muss nicht darauf explizit verwiesen werden, dass bspw. eine türkische Familie im Mehrfamilienhaus lebt. Es ist vielmehr selbstverständlich.

Auch Transgender wird spätestens mit dem Erfolg des Kinderbuches George (dt. 2019, engl. 2017) von Alex Gino immer wieder thematisiert und mit Jennifer aus dem Roman Der Katze ist es ganz egal (2020) von Franz Orghandl betritt eine besondere Figur den Kinderbuchmarkt. Im Mittelpunkt steht die neunjährige Jennifer, die eigentlich Leo heißt, sich aber wie ein Mädchen fühlt und gerne so wahrgenommen werden möchte. Die Argumente der Eltern versteht sie nicht, denn auch der Katze ist es egal, welches Geschlecht sie hat, sie mag sie unabhängig davon. Jennifer selbst wirkt selbstbewusst, wenn sie ihren Eltern den Wunsch vorträgt, bekommt einerseits Ablehnung, andererseits bemerkt man, dass vor allem die Mutter ihren Wunsch ernst nehmen und sich auch Gedanken macht. Jennifer erzählt es auch in der Schule, fragt, was Jungen ausmacht, was Mädchen, und lernt, dass ihre Freund*innen wenig Probleme mit ihrem Wunsch haben.

Dabei wird die Geschichte, und hier unterscheiden sich George und Der Katze ist es ganz egal, humorvoll erzählt, aber auch klug und die Figuren entwickeln sich weiter. Der Roman spielt mit Stereotypen – etwa ob jeder „mit Penis ein Bub“ sei – und lässt den Hausmeister der Schule über diese Frage nachdenken. Und Jennifers Freundin Anne kommt zu der Erkenntnis: „Na sicher ist nicht jeder mit Penis ein Bub“, denn auf „die Seele kommt es an“. Ohne zu didaktisieren oder zu problematisieren, erzählt der Autor von einem komplexen Thema und stellt mutige Kinder in den Mittelpunkt. Allerdings kann kritisch festgehalten werden, dass bis auf Jennifer alle anderen Figuren in binären Geschlechternormen bleiben. Das lässt sich möglicherweise auch mit der Adressatengruppe erläutern, denn es ist zunächst ein Kinderbuch. Die unreflektierte Zuschreibung bestimmter Körpernormen wie der „dicke Gabriel“ kann jedoch kritisch betrachtet werden.

Während Taschinski es schafft auf unterschiedlichen Ebenen Diversität darzustellen, fokussiert sich der Kinderroman von Orghandl sehr auf die Thematik Transsexualität und stellt weitere Figuren unkritisch dar. Ein weiteres wichtiges Thema rund um Familie ist, wie mit Beeinträchtigung umgegangen wird. Dabei wird oft eine enge Verbindung zwischen den Geschwistern angedeutet, was sich bereits in Kinderromanen wie bspw. Als die Steine noch Vögel waren (1998) von Marjaleena Lembcke zeigt und sich kontinuierlich in den Büchern fortsetzt – unabhängig davon, ob es sich um Übersetzungen handelt oder nicht. Ein aktuelles Beispiel ist der Roman Pelikansommer (dt. 2020, engl. 2019) der US-amerikanischen Autorin Gillian McDunn. Im Mittelpunkt stehen die Geschwister Cat, 11 Jahre alt, und Henry, genannt Küken. Beide leben mit ihrer Mutter in San Francisco, der Vater ist verstorben und Cat kümmert sich liebevoll um ihren jüngeren Bruder, denn die Mutter arbeitet viel. Küken ist sehr feinfühlig, oft überfordert und Cat muss immer sehen, dass es ihm gut geht. Dabei wird sie als ein sehr sensibler Mensch dargestellt, der seine Bedürfnisse zurückstellt. Eine unbeschwerte Kindheit kennt sie nicht, aber sie beschwert sich nicht. Im Laufe der Geschichte erlernt sie dann den Spagat, sich sowohl um Küken als auch um sich zu selbst zu kümmern. Oder anders gesagt: Ein positives Miteinander der Geschwister wird gezeigt, aber Fürsorge darf nicht das Aufgeben der eigenen Bedürfnisse bedeuten. 

Mit Helsin Apelsin und der Spinner (2020) nähert sich die mehrfach ausgezeichnete Autorin Stefanie Höfler der Thematik des Andersseins und entwirft mit Helsin ein Mädchen, das immer wieder Wutausbrüche – liebevoll Spinner genannt – hat. Sowohl ihre Eltern als auch ihre Lehrerin haben den Umgang damit gelernt, denn sie lassen Helsin Raum, ihre Ausbrüche auszuleben. Es ist vor allem dieses stabile soziale Umfeld, das Helsin immer wieder hilft, mit ihren „Spinnern“ umzugehen. Als jedoch ein neuer Junge in die Klasse kommt, sie wegen ihres Namens verspottet, explodiert Helsin, stiehlt ihm sein Haustier, einen Leguan, versteckt diesen unter ihrem Bett, und verstrickt sich immer mehr in Lügen. Doch sie ahnt, dass dieses Verhalten falsch ist. Erzählt wird die Geschichte nah an der Hauptfigur, sodass man ihre inneren Konflikte sowie dem Wunsch nach Rache kennenlernt. Trotz ihrer Spinner ist Helsin ein mutiges Mädchen, das im Laufe der Geschichte und auch mit Hilfe der erwachsenen und kindlichen Figuren lernt, „ihre Spinner zu besiegen“.

Als letzter Roman soll Zoe, Grace und der Weg zurück nach Hause (2020) von Allan Stratton in den Mittelpunkt gerückt werden, der ebenfalls als Schwellentext zwischen Kinder- und Jugendroman betrachtet werden kann und das Verhältnis der Generationen in den Fokus nimmt. Anders als in der Reihe von Taschinski wird hier nicht von einem glücklichen Zusammenleben der verschiedenen Generationen erzählt, sondern Zoe muss erleben, wie ihre Großmutter Grace an Demenz leidet und von Zoes Eltern in ein Heim gebracht werden soll. Zoe will die Krankheit ihrer Großmutter nicht wahrhaben, verweigert sich der Problematik und glaubt, dass sie und ihre Eltern sich um die Großmutter kümmern müssen. Damit weitet dieser Roman den Blick auf den Zusammenhalt, denn ein solidarisches Miteinander betrifft in der Kinder- und Jugendliteratur nicht nur die eigene Peergroup, sondern auch Erwachsene. Zoe bittet ihre Eltern, ihr zu erlauben, sich um die Großmutter zu kümmern. Sie verneinen ihre Bitte und daher flieht Zoe mit ihrer dementen Großmutter nach Toronto. Trotz dieser Flucht in die Großstadt wird Zoe von Beginn an als eine im Vergleich zu Gleichaltrigen einfühlsame und hilfsbereite Figur eingeführt, die Pflege- und Altersheime ablehnt. Es ist vor allem ihre enge Bindung zu Großmutter, die es ermöglicht, dass Zoe die Veränderungen im Verhalten der Großmutter akzeptiert. Erst langsam erkennt sie, wie schwer die Krankheit der Großmutter ist und gemeinsam mit ihrer Familie findet sie eine Lösung.

Allen vorgestellten Kinderromanen ist gemeinsam, dass sie kindliche Figuren einführen, die sich füreinander einsetzen, sich Ungerechtigkeiten widersetzen und Formen der Ausgrenzung ablehnen. Dabei werden Handlungen des Miteinanders in die Alltagswelt der kindlichen Figuren eingebunden. Während bereits einige kindliche Figuren von Beginn an ein Einfühlungsvermögen besitzen, lernen andere erst im Laufe der Handlung sich für andere einzusetzen und sich zu akzeptieren. Dabei zeichnet sich der aktuelle Kinderroman durch eine Vielfalt aus, Diversität wird weit gefasst und den kindlichen Leser:innen vorgelebt. Somit leistet die aktuelle Kinderliteratur einen wichtigen Beitrag im Diskurs um Vielfalt und zeigt mutige Held:innen, die nicht nur Vielfalt leben, sondern diese auch einfordern.