Fremd-vertraute Heimat
Loredana Nemes verzaubert die Insel Rügen
Von Lutz Hagestedt
In der nordöstlichsten Hafenstadt Deutschlands wird gern ein Satz aus Effi Briest zitiert: „Nach Rügen reisen, heißt nach Saßnitz reisen.“ Theodor Fontane wusste um die Schönheit der Insel und ihres Hafens am Rande der Halbinsel Jasmund. Seit der Wende ist dieses Idyll an der Kreideküste, die schon Caspar David Friedrich eindrucksvoll gemalt hat, Teil eines Nationalparks. Wenn auch die „Wissower Klinken“ unlängst (2005) in die See gestürzt sind, so pflegt und bewahrt man doch das Erbe dieses traumhaften Ausblicks mit Viktoriasicht und Königstuhl. Saßnitz war in seiner Geschichte auch ein politischer Ort: Lenin hat hier 1917 Station gemacht, und um den Hafen Mukran, einen Ortsteil der Gemeinde, wurde – Stichwort „Nordstream 2“ – ein geopolitischer Krieg geführt. Derzeit ist er wegen des geplanten LNG-Terminals im Gespräch.
Die Fotokünstlerin Loredana Nemes hat diese einzigartige Landschaft in Wort und Bild festgehalten. Sie zeigt sich beeindruckt von dem harten Schnitt, den „Land und Meer“ (Carl Schmitt) hier vollziehen: Die Stubnitz, ein Buchenwald auf Jasmund, steht gewissermaßen an einer scharfen Kante, die dort verläuft, wo die Steilküste zur See hinabfällt. Hier ist ein besonderes Licht erfahrbar, das durch die Bäume fällt, als ob ein Gespensterwald sich plötzlich gegen das Silbergrau des Himmels erhöbe. Der Urwald kontrastiert das schillernde, changierende Grauweiß der Wellen und ihrer Schaumkronen: Dort, wo die Kreide von eiszeitlichen Bächen ins Meer gewaschen wird, schimmert das Wasser türkis-grün, und wenn die Sonne auf den Wellenkamm scheint, blitzt es metallisch zum Betrachter herauf.
Die Schwarzweißaufnahmen lassen dieses Farbenspiel erahnen, zaubern es aus unserer Erinnerung ins Heute. Schwarz und weiß sind die Aufnahmen jedoch nur dem Namen nach – die Nomenklatur ist eigentlich irreführend, da zarteste und auch harteste Übergänge zwischen Grautönen die Bildgebung dominieren.
Die glatte Rinde der Buche erscheint dem Betrachter, besonders an trüben Herbst- und Wintertagen, wenn die Äste entlaubt sind, als „Graubaum“. Himmel und Meer wachsen zu einem sujetlosen Bild zusammen: Die Fotokünstlerin erfüllt damit – bis an die Grenze zur Abstraktion – das Programm der Landschaftsmalerei, die, spätestens seit Caspar David Friedrich, das Ungesonderte der Fläche, der Farbe, der Materialität des leeren Himmels und der verwaisten See gestaltet. Sie gibt dem Ganzen einen Essay bei, der – mit einiger Unschärfe – als symbolisch, real und imaginär zu benennen wäre. „Buchen sind Leibesangelegenheiten“, schreibt Loredana Nemes; von den Buchen könne man das „Langsam“ lernen – wie sie gemächlich ihre feinen Haarwurzeln in die Kreide der Inselformation vorschieben, sanft und geduldig ihre „Herzwurzel“ ausbilden und dem Wind, der hier immerwährend weht, eindrucksvoll trotzen. Nemes wendet sich nicht an ihren Leser, sondern an ihren „Stammbaum“, wenn sie sagt: „Das Stehen habe ich von dir gelernt.“ Gleichwohl darf man sich eingeladen fühlen, „diese deutschen Buchen der Insel“ kennen und lieben zu lernen: „Komm, zähl mit mir die Buchen Jasmunds.“
Das Geröll am Saum der Ostsee, die Steilküste, die Baumriesen, die per se „nichts bedeuten“, werden dabei poetisch „aufgeladen“. Der hier veröffentlichte, jahreszeitlich geordnete Fotozyklus war Teil ihrer Einzelschau „Trees, Seas, and the Bee’s Knees“ der Galerie Springer Berlin (4. März bis 15. Juli 2023), die auch Bilder weiterer Serien zeigte, nämlich Beispiele aus „Gier“ (2014 bis 2017), aus „Immergrün“ (2020) und aus dem 2012 erarbeiteten Werkkomplex „Blütezeit“.
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