Niemand kennt Kind C
Kristina Nenninger bietet in „Warum läuft Kind C Amok?“ verschiedene Perspektiven auf den Amoklauf einer Schülerin
Von Lea Bittner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJugendliche, die plötzlich Amok laufen, ohne dass ihr Umfeld Anzeichen bemerkt haben soll, sind ein heikles Thema, dem es an Aktualität nicht mangelt. Bisher konzentrierte sich die literarische Behandlung jedoch auf männliche Amokläufer, wie in Jodi Picoults bekanntem Roman 19 Minuten (2007) oder Morton Rhues Give a Boy a Gun (2000). Zudem wurde die Geschichte meist aus der Perspektive Außenstehender erzählt, nicht aus der des Täters. Doch nun greift Kristina Nenninger mit ihrem Debütroman Warum läuft Kind C Amok? die titelgebende Frage auf und begleitet das Mädchen Carla, Kind C, auf ihrem Weg bis zum Amoklauf und darüber hinaus. Das Besondere daran ist die Darstellung der verschiedenen Sichtweisen auf das Geschehen, die auch Carlas eigene umfasst. Innerhalb der einzelnen Kapitel wechseln die Perspektiven des Mädchens, seines Vaters sowie der Mutter. Somit wird nicht nur die Sicht des Umfeldes vermittelt, sondern auch die der Amoktäterin selbst, sodass ein Gesamtbild entsteht, das die Divergenzen deutlich werden lässt. Alle drei ProtagonistInnen haben ganz verschiedene, kontrastierende Wahrnehmungen der Situation, sowohl in der Zeit vor dem Amoklauf als auch danach. Der Roman beschreibt das Leben des Mädchens über ein Jahr hinweg und bezieht dabei immer die Gedanken Carlas und ihrer Eltern mit ein. Dadurch entsteht ein vielstimmiges Leseerlebnis.
Nenningers Roman handelt von einem klugen und gewöhnlichen Kind in einer gewöhnlichen Umgebung, mit gewöhnlichen Eltern und gewöhnlichen Hobbys. Carla ist eine gute, wenn auch nicht sonderlich beliebte Schülerin, die gerne schwimmt und nach der Trennung ihrer Eltern beim Vater lebt. Es wird schnell deutlich, dass beide Elternteile ihre eigenen Probleme haben, mit denen sie unterschiedlich umzugehen pflegen: Die Mutter geht aus, trinkt und stürzt sich in eine kopflose Affäre nach der anderen, während der Vater sich in seine Malerei flüchtet. Er macht sich zunehmend Sorgen um seine Tochter, nimmt die Beschwichtigungen seitens der Mutter jedoch hin und lässt es dabei bewenden. In Carla hingegen wächst der Gedanke, dass sie nicht eines Tages einfach vergessen werden, sondern der Welt im Gedächtnis bleiben möchte. Aus der Geschichte des Tempels von Ephesos zieht sie für sich den Schluss, dass sich niemand an die Erbauer, sondern nur an die Zerstörer erinnert. Damit fällt die Entscheidung, mit einer herostratischen Tat Ruhm zu erlangen und so in Erinnerung zu bleiben.
An manchen Stellen ist es kaum zu glauben, dass die Eltern Auffälligkeiten wie gewalttätige Zeichnungen und Carlas gänzlichen Rückzug von ihren Mitmenschen einfach übergehen statt sie als Warnsignale ernst zu nehmen. Diese Ignoranz wirkt auf den ersten Blick realitätsfern und scheint der Geschichte eine gewisse Unglaubwürdigkeit zu verleihen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Schnell wird deutlich, dass die Autorin solche Passagen absichtlich einbaut; sind es doch eben diese, welche die Erzählung so realistisch wirken lassen. Sie verdeutlichen, dass Menschen dazu neigen, aus Selbstschutz die Augen vor ungewollten Dingen zu verschließen. Carlas Eltern wollen diese Seite ihrer Tochter einfach nicht wahrhaben, weil sie in ihren Augen so gar nicht zu ihrem kleinen Mädchen passt. Sie können und wollen sich einfach nicht vorstellen, dass ihre Tochter etwas so Schreckliches tatsächlich tun würde. Ihre kluge, unschuldige Tochter mit ihren „harmlosen Marotten“ kann doch nicht gewalttätig sein. Genau diese Stellen, an denen die maßlose Ignoranz von Carlas Umgebung sichtbar wird, sind die überzeugenden, die diese Geschichte so glaubhaft und vor allem fassbar machen.
Nenninger lässt diese Ignoranz im tristen Alltagstrott der ProtagonistInnen deutlich zum Vorschein kommen und arbeitet dabei die Figuren mit ihren Charakterzügen, Stärken und Schwächen bis ins Detail aus. So ist Carlas Vater ein einfühlsamer, aber zur Problembewältigung unfähiger Mann, der in melancholischen Gedanken schwelgt und sich an vergangene, glücklichere Zeiten erinnert. Zudem hat Carla eine Mutter, die zwar nicht imstande ist, sich emphatisch in das eigene Kind hineinzuversetzen und sich mit dessen Problemen zu beschäftigen, die jedoch am Ende die einzige ist, die mit der Situation umgehen kann. Und dann ist da noch Carla selbst. Kind C. Ein Mädchen im Teenageralter, das im Netz der Pubertät verstrickt scheint und so seine „Marotten“ hat. So auch einen Wiederholungszwang. Sie schließt Türen dreimal und sie denkt und sagt alles dreimal. Die Frage nach dem Ursprung dieser Zwangsstörung stellen sich die LeserInnen nicht mehr, wenn sie erst einmal die Gedanken der Mutter in dreifacher Ausführung gelesen haben. Nenninger macht sich diesen Wesenszug ihrer Protagonistin geschickt zunutze, um entscheidende Aussagen zu untermalen. So auch in einer Situation, in der Carla über die Vergänglichkeit des Lebens und das Vergessen sinniert. Sie erkennt, dass sie nur ein Mensch von Millionen ist, die sich alle gleich verhalten und in deren Masse sie nicht unterzugehen versucht. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen in dieser Situation ist: „Dasbinichdasbinichdasbinich“.
Die Autorin lässt die LeserInnen durch einen personalen Erzähler an den Gedanken der Figuren teilhaben, schreibt sie nieder, wie sie von diesen gedacht werden. Dieser Schreibstil unterstreicht die Intimität der Gedanken und gibt einen tiefgehenden Einblick ins Innere der Figuren. Häufig ist es dadurch jedoch schwierig, dem Geschehen außerhalb der Gedankenwelt zu folgen und zuordnen zu können, um wessen Gedanken es sich gerade handelt. Parataktisch verfasste Abschnitte wie „und neue Menschen sind da und stehen auf und kleiden sich an, und essen und arbeiten und kleiden sich wieder aus und legen sich nieder dann sind sie tot. Und keine Erinnerung gibt es für sie. Und immer wieder geht es so weiter“ ermüden beim Lesen und verleiten dazu, Sätze zu überfliegen und dadurch zu überlesen. In Kombination mit den stark dialektalen Einschüben, wenn von einer „Brezen“ oder des Vaters „Wurschtigkeit“ gesprochen wird, erfordert dieser Schreibstil eine hohe Konzentration. Hat man sich jedoch einmal in der Gedankenstruktur der Figuren eingefunden und mit dem Schreibstil vertraut gemacht, kann man sich auf seinen Zweck fokussieren: Der Schreibstil verdeutlicht einmal mehr die von Nenninger dargestellte Tristesse des täglichen Lebens und die fehlende Kommunikation zwischen einzelnen Menschen. Die ProtagonistInnen sind in ihren Gedanken jeweils auf sich selbst fokussiert, die Eltern noch mehr als das Kind. In den Gedanken drückt sich die jeweilige Persönlichkeit aus. Carlas Vater ist ein Träumer – er hängt Gedanken nach, die zwischen Wehmut und Fantasie schwanken. Er erinnert sich an vergangene, glücklichere Zeiten der damals noch vereinten Familie und lebt kaum in der Gegenwart. Dabei verliert er sich in Kleinigkeiten wie der Betrachtung und Beschreibung von Carlas Haarfarbe und verwendet träumerische Vergleiche aus der Natur. Die Mutter hingegen scheint alles Frühere nur zu gern zu vergessen, um sorgenfrei den Moment genießen zu können. Sobald sie in Erinnerungen versinkt und melancholisch wird, schiebt sie sämtliche Gedanken an ihren Ex-Mann und die Tochter beiseite und geht aus, um zu trinken. „Und jetzt, liebe Berta, sagt Berta (zu sich selbst) jetzt hörst bitteschön auf, melancholisch zum sein, sonst zieh ich dir eigenhändig die Haut vom Hintern herunter! Vorbei ist vorbei, ist gegessen und aus. Ich werd mich beizeiten um Anton und Carla drumkümmern.“ Die einzige, die sich Gedanken um die Zukunft zu machen scheint, ist Carla. Ausgerechnet das Kind dieser Geschichte lebt nicht seinem Alter entsprechend einfach für den Augenblick. Stattdessen macht sich Carla allzu viele Gedanken darüber, wer sich in Zukunft an sie erinnern wird. Während der Fokus des Vaters auf der Familie liegt, hat die Mutter nur sich selbst im Blick. Einzig Carla betrachtet die Gesellschaft um sich herum. Sie sieht sich selbst, wie sie in dieser existiert, ohne wirklich dazuzugehören. Während Nenninger zwischen den Perspektiven wechselt und sich damit der Fokus der Beobachtungen verschiebt, bleibt die Satzstruktur gleich. Kurze, parataktische Sätze, die in direkter Manier aus einer personalen Erzählhaltung die Gedanken wiedergeben, sind den Szenen aus der Sicht Carlas und ihrer Eltern gemein. Die Wortwahl der ProtagonistInnen unterscheidet sich jedoch ein wenig. Beide Elternteile verwenden häufiger dialektale Ausdrücke, der Vater zudem Natur-Vergleiche. Carlas Wortwahl ist eher jugendlich, wird mit der Zeit jedoch drastischer und aggressiver. Dies wird besonders deutlich, als sie darüber nachdenkt, wie sie eine Lehrerin erschießen würde: „Und da sieht sie sich, Carla, sie läuft hinterher, und jetzt legt sie an, und da knallt sie sie ab, und die Hure knickt ein, knickt einfach so in sich zusammen […].“
Bei Betrachtung der bisherigen literarischen Aufarbeitung dieses Themas könnte der Eindruck entstehen, dass Amokläufe nur von männlichen Tätern begangen werden und Täterinnen gänzlich ausgeschlossen sind. Dabei zeigt die Geschichte, dass dies nicht der Fall ist. Wenngleich es deutlich mehr männliche als weibliche Amokläufer gibt, so sind doch über die Jahre verteilt auch einige Fälle bekannt, bei denen es sich um Täterinnen handelt. Dies sollte nicht in Vergessenheit geraten. In Warum läuft Kind C Amok? macht Nenninger ein Mädchen im Teenageralter zur Hauptfigur, das letztendlich aus Ruhmessucht den Amoklauf begeht, und hebt dieses Thema so über Geschlechtergrenzen hinweg ins Bewusstsein. Es wird verdeutlicht, dass es trotz der Diversität an Gründen und Ursachen keinerlei geschlechtsspezifischen Unterschied gibt, sondern beide Geschlechter generell von inneren und äußeren Faktoren beeinflusst werden und zu einer Tat solchen Ausmaßes imstande sind. Der Titel verdeutlicht dies, indem er weder Geschlecht noch Namen nennt, sondern neutral von „Kind C“ spricht. Das Entscheidende ist, dass es sich hier um ein Kind handelt, das Amok läuft, egal ob Junge oder Mädchen, und dass allein diese Tatsache erschreckend sein sollte. Mit ihrer Wahl einer Protagonistin, die im Vorhinein nicht sonderlich auffällig erscheint und keinem der „gängigen Klischees“ von AmoktäterInnen entspricht, hat Nenninger einen großen Schritt gewagt. Am Beispiel Carlas zeigt sie auf, dass es keinen Stereotypen eines Amoktäters gibt und somit nicht im Vorhinein festgemacht werden kann, ob jemand potentiell zu einer solchen Tat in der Lage wäre beziehungsweise diese dann auch wirklich ausübt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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