Auf den Spuren lateinamerikanischer Literaten in Paris

Die mexikanische Autorin Guadalupe Nettel hat mit ,,Nach dem Winter“ einen Roman über die Fragilität des Daseins und das zurückgezogene Leben in der Großstadt geschrieben

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Liest man den Roman Nach dem Winter der mexikanischen Autorin Guadalupe Nettel hinsichtlich seines innovativen Potentials für die lateinamerikanische Literaturlandschaft, so lässt sich resümieren, dass dieser lediglich eine Verlängerung und keine Erneuerung jener lateinamerikanischen Literatur darstellt, die durch einen transnationalen Gegenstand bestimmt ist, wodurch gegebenenfalls regionalspezifische Ästhetiken und Themen aufgebrochen und für globale Dimensionen geöffnet werden. Denn auch wenn er gut erzählt ist und durchaus verdient mit dem Premio Herralde de novela – ein vom spanischen Anagrama-Verlag vergebener Literaturpreis – prämiert wurde, sind weder die präsentierten Orte neu – Paris und New York, die beiden Sehnsuchtsorte kosmopolitisch ausgerichteter Lateinamerikaner –, noch ist die dargestellte Problematik der Akklimatisation von Lateinamerikanern an das Leben in europäischen oder nordamerikanischen Großstädten unbekannt. So haben bereits der argentinische Autor Julio Cortázar in Rayuela, der salvadorianische Schriftsteller Manlio Argueta in Los poetas del mal (deutsch: Die Dichter des Bösen), Roberto Bolaño in Die wilden Detektive und Reinaldo Arenas in seinem autobiographischen Roman Bevor es Nacht wird das Thema des Lateinamerikaners in der europäischen oder nordamerikanischen Diaspora ausgiebig bearbeitet. Auch hinsichtlich literatur-ästhetischer Dimensionen beinhaltet Nach dem Winter nichts Neues, wie Aída Islas in seiner Rezension für die Zeitschrift Criticismo durch seine völlig zutreffende Kritik, dass nämlich Nettel zwar in ihrem Roman wie Cortázar auf den Jazz referiere, aber dieser sich nicht wie in Rayuela mit der Ästhetik und der erzählten Geschichte in ihrer Struktur verbinde und somit etwas Äußeres, rein Dekoratives bleibe, aufzeigt.

Dass Nettel selbst in der Tradition kosmopolitisch ausgerichteter lateinamerikanischer Literatur gelesen werden will, liegt jedoch auf der Hand. Denn Nach dem Winter enthält zahlreiche Bezüge – impliziter und expliziter Natur – auf ebendiese, wobei der Roman vorwiegend auf lateinamerikanische Autoren verweist, die entweder für eine Zeit in Paris gelebt haben, oder sogar in der einstigen ‘ville lumière’ begraben sind. So suchen die Protagonisten Cecilia und Claudio – in der kurzen Zeit, in denen sich ihre Lebenswege kreuzen – gemeinsam in Paris nach dem Grab des peruanischen Dichters César Vallejo, die Kindheit und Jugend Claudios in dem sozialistischen Havanna erinnern stark an die Erfahrungen des kubanischen Schriftstellers Arenas und rufen somit dessen Text Bevor es Nacht wird auf, und durch die explizite Nennung der gelesenen Bücher Cecilias und Claudios schreibt Nettel die Literatur von Julio Cortázar, Jorge Luis Borges, aber auch französischer Schriftsteller wie Honoré de Balzac, Molière und Georges Perec, in ihren Roman ein.

Lässt man sich jedoch unvoreingenommen auf Nach dem Winter ein und versucht man ihn nicht vor dem Hintergrund der renommierten neueren lateinamerikanischen Literatur zu lesen, sondern als eigenständigen literarischen Text, so findet man in diesem Roman ein Stück Literatur, in dem sehr einfühlsam und mit einer klaren und gleichwohl gefühlvollen Prosa die Geschichte eines in New York lebenden kubanischen Lektors und einer aus Mexiko für einen Forschungsaufenthalt nach Paris gezogenen Literaturwissenschaftlerin erzählt wird, die sich beide schon seit klein auf durch die Welt der Literatur bewegen. So erhielt Claudio durch seine Freundschaft mit seinem Jugendfreund Mario in Kuba Zugang zu sowohl den auf der Insel erlaubten als auch verbotenen Büchern und Cecilia entdeckte im Lesesaal eines alten Klostergebäudes die wichtigsten lateinamerikanischen Autoren, aber auch Schriftsteller aus anderen Ländern, vorwiegend aus Frankreich: „Voller Eifer las ich Balzac und Chateaubriand, Théophile Gautier, Lautréamont, Huysmans und Guy de Maupassant. Mir gefielen die fantastischen Erzählungen und Romane, vor allem wenn ein Friedhof darin vorkam.“

Nach dem Winter erzählt von der Erfahrung der Vereinsamung in der Großstadt, fernab der lateinamerikanischen Heimat. Die Figuren interagieren nur selten mit anderen Menschen und haben sich in ihren kleinen Wohnungen einen Zufluchtsort vor der draußen vorbeiziehenden Welt geschaffen, in denen sie fast nie von anderen Menschen besucht werden. Für die Protagonistin Cecilia werden die Semesterferien, in denen sie sich vollkommen in sich selbst und in ihre Wohnung zurückzieht, zum Drahtseilakt zwischen Normalität und Verrücktheit und auch die Bekanntschaft mit ihrem Nachbarn vermag daran zunächst nur wenig zu ändern, da dieser der festen Überzeugung ist, dass er die Stimmen der Toten hört, die auf dem vor ihrem Haus liegenden Friedhof begraben sind.

Aber es ist nicht nur die Grenze zwischen Normal- und Verrücktsein, die in Nach dem Winter filigran wird, sondern auch jene zwischen Gesundheit und Krankheit, wenn sich beispielsweise herausstellt, dass Cecilias Nachbar an einer unheilbaren Krankheit leidet, oder der auf seinen Körper achtende Claudio durch einen Unfall auf die Grenzen seines eigenen Körpers zurückgeworfen wird. In einem Interview zu Nach dem Winter erzählt Nettel, dass sie versucht habe, den Reflektor über Dinge zu halten, die die Menschen normalerweise nicht sehen wollen, weshalb die Schauplätze dieses Romans unter anderem Krankenhäuser, Friedhöfe oder die heruntergekommenen Wohnungen von einsamen Menschen in den Großstädten darstellten.  

Die Liebe, so erzählt Nettel in einem Interview, ist in diesem Roman eher als Idee denn als Verwirklichung in der Realität präsent. Und es stimmt. Claudio verbringt einen Großteil seiner Zeit damit, sich vorzustellen, wie sein vollkommenes Leben mit einer idealen Frau aussähe:

„Wie in dem Gedicht von Baudelaire ist die Musik für mich manchmal ein Schiff, das mich an Orte trägt, die es gar nicht gibt. Zum Beispiel gebe ich mich der Lächerlichkeit preis, mir ein vollkommenes Leben vorzustellen, anders als das, was ich führe, ohne die Entbehrungen und Unvollkommenheiten. […] In dieser perfekten Welt gäbe es auch eine perfekte Frau, das heißt eine Frau, die mir selbst sehr ähnlich ist, ein sensibles, kluges und kultiviertes Wesen, in das ich mich verlieben könnte. Genau wie ich würde sie die Stille, die Ordnung und die Sauberkeit schätzen. […] Ich weiß nicht, was mich mehr schmerzt, der Gedanke an die Vergangenheit oder an dieses Leben, das so weit von mir und meinen Möglichkeiten entfernt ist.“

In Cecilia glaubt Claudio seine ideale Frau gefunden zu haben, doch schon nach kurzer Zeit dringt die Wirklichkeit in Claudios über die Realität gelegte Phantasie ein und der ideale Zustand zwischen den beiden ist Geschichte.  

Liest man Nach dem Winter von Guadalupe Nettel vor dem Hintergrund der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur, dann erscheint einem dieser Roman ebenso blass, wie die Figur von Ruth, mit der Claudio in New York eine Beziehung aus Bequemlichkeit führt: „Diese Frau, die mir bis zu diesem Moment durchscheinend, zittrig vorgekommen war wie ein Blatt Seidenpapier, auf das man durchpausen, aber nicht schreiben oder malen konnte, […].“ Liest man ihn jedoch als Roman einer jungen Autorin, die sich ihren Weg in die lateinamerikanische Literaturlandschaft erst noch sucht, dann begegnet uns mit Nach dem Winter ein Stück Literatur, das uns ein Gefühl von der Einsamkeit lateinamerikanischer Migranten in der Diaspora als auch von der idealen Liebe als Vorstellung vermittelt und gleichwohl aufzeigt, wie sehr wir damit beschäftigt sind, wie unser ideales Leben auszusehen habe, anstatt eine Resonanzbeziehung mit der uns umgebenden Gegenwart und mit den Menschen, die uns begegnen, herzustellen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Guadalupe Nettel: Nach dem Winter. Roman.
Aus dem Spanischen übersetzt von Carola Fischer.
Blessing Verlag, München 2018.
349 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783896676139

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