Dominus, wobistu?
Eine Nachkriegskindheit in Niederbayern
Von Klaus Hübner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer 1941 im Banat geborene Gerhard Neuner gehört zu den Pionieren des akademischen Fachs Deutsch als Fremdsprache (DaF) – Generationen von „DaFlern“ haben seine Fachbücher und Materialien durchgeackert und ihren Unterricht mit seinem Lehrwerk Deutsch aktiv bestritten. Von 1984 bis 2005 lehrte er an der Universität Kassel, und in der Nähe dieser nordhessischen Stadt lebt er auch. Als Kleinkind hatte es ihn ins Niederbayerische verschlagen, nach Martinskirchen, ein paar Kilometer südöstlich von Eggenfelden. Dort ist er aufgewachsen, und von dieser unmittelbaren Nachkriegszeit erzählt er. Seine Geschichten, durch Fotos glaubhaft illustriert, spielen von 1945 bis zum Herbst 1951 – da wechselt er auf die Oberrealschule in Pfarrkirchen, und was er dort erlebt hat, wird Gerhard Neuner in einem weiteren Prosaband verraten. So jedenfalls der Plan.
Sich der damit generell verbundenen Problematik wohl bewusst, versucht der Autor, aus der Sicht des Kindes zu erzählen, das er damals war. Neuner kommentiert und erläutert nicht, das macht er nur im Anhang: „Ich habe damals alles, was ich aufgeschnappt habe, für bare Münze genommen und mir alles ganz real vorgestellt.“ Dass der Eiserne Vorhang aus Eisen ist, zum Beispiel, oder dass es immer kalt ist im Kalten Krieg. Im Mittelpunkt des Daseins stand natürlich die eigene Familie, prägend waren aber auch alle anderen Menschen in seinem 264-Seelen-Dorf, darunter viele Heimatvertriebene und Flüchtlinge. Sehr präsent waren die Hitlerzeit und die Kriegserlebnisse der Erwachsenen. Mindestens genauso präsent war die Katholische Kirche, zunächst in der Person des „Kobraddas“ Miedl, der mit seinem Motorrad, seinem „Heenaschbrenga“, immer wieder zu den Bauern fährt, zum „Hamstern“. Aber auch in der Person des Oberministranten Seppi, der ihm, der auf jeden Fall „Minsterant“ werden will, erst einmal ein Latein beibringen muss, „das man für die ordnungsgemäße Durchführung der Heiligen Messe braucht“. Zum Beispiel „Eck um schpirit tu tu ho“, die einzig richtige Antwort auf „Dominus, wobistu?“. Neben dem Wirtshaus ist die Kirche der Mittelpunkt des Dorfes – der Rhythmus des Kirchenjahrs bestimmt das Alltagsleben der Martinskirchener. Adventskranz, Christmette, Sternsinger, „Boimkatzal“, Maiandacht, Fronleichnamsbirkerl, Sonnwendfeuer, Leonhardiritt – Gerhard Neuner lässt nichts aus, weder den Beichtspiegel noch die Erstkommunion, auch nicht das Theaterspielen, das Feuerwehrfest oder das Eisstockschießen: „Der Vater vom Otto, der in der Nazizeit schon der Bürgermeister war und jetzt auch wieder der Bürgermeister ist, der ist immer dabei.“
Zwar sei er als Kind in mehr als einer Sprache daheim gewesen, betont der Autor im Anhang – das „Banaatr Schwoowisch“ der Eltern, sogar das Ungarische habe schon das Kleinkind zu verstehen versucht. Außer Haus allerdings gab es ausschließlich das Rottaler Niederbairisch, und das lässt sich, wie die meisten Dialekte, nicht immer adäquat verschriftlichen. „Die Geschichten sind deshalb überwiegend auf Hochdeutsch verfasst, mit bairischen Einsprengseln, wo der Erzähler direkte Rede von auftretenden Personen wiedergibt oder ihn das Hochdeutsche überfordert.“ Das geht nicht immer gut, und über manches lässt sich trefflich streiten. Man kommt gut zurecht, wenn der Vorbeter bei der Fronleichnamsprozession sagt: „A Rua is da vorn! Schauts dass gscheid marschierts, ees Rotzbuam! Des hätts bein Hitler ned gem!“ Auch noch, wenn der „Roosknecht vom Moar“ meint: „Da muaß ma scho an Räschpäckt ham von Westner sein Rooß, weid’s sehane Drimma Baam aloa daziagt!“. Aber schreibt man jetzt „blöd“, „bled“ oder „bläd“, schreibt man „efdas amoi“ oder „efters amoi“? Kommt alles nebeneinander vor, und manchmal nervt das ein bisschen. Dennoch liest man Neuners Prosaskizzen gern. Wenngleich man betonen muss, dass sie für Menschen, denen Wörter wie „Polacken“, „Deutschsüdwestafrika“, „Schläisien“, „Hex“ oder „Scheißheisl“ heftiges Unbehagen bereiten oder das „Blackfacing“ am Dreikönigstag zuwider ist, wohl weniger geeignet sind. Gar nicht akzeptabel sind Neuners Dorfgeschichten für diejenigen Zeitgenossen, denen das Tierwohl und speziell der Schutz von Kröten am Herzen liegen. Die sollten die beiden folgenden Sätze nicht lesen: „Wenn man einem Brooz eine brennende Zigarette ins Maul steckt, dann zieht er so lange daran, bis dass es ihn zerreißt. So blöd sind die Broozn.“
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