Rache als unzuverlässige Projektierung

In „Ambivalenz“ führt Amélie Nothomb aus, warum es müßig ist, an altem Zorn festzuhalten

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Prétextat Tach und seiner Schwester Léopoldine aus Amélie Nothombs fulminantem und listenstürmendem Erstling Die Reinheit des Mörders (dt. 1994) haben sich im Laufe der Jahre unter anderem Palamède Bernardin (dt. 1997: Der Professor), Christa, die zu „Antéchrista“ mutiert (dt. 2006: Böses Mädchen), Zoïle und Astrolabe (dt. 2012: Winterreise), Pétronille (dt. 2017: Die Kunst, Champagner zu trinken) und insbesondere Enide, Honorat, Déodat, Lierre, Trémière und Passerose aus Happy End gesellt. Nun erweitert sich dieser semasiologische Reigen um Épicène, deren Name im Titel des französischen Originals, Les prénoms épicènes, auftaucht. Wörtlich ließe sich dieser tendenziell nichtssagend mit „Geschlechtsneutrale Namen“ wiedergeben.

Brigitte Große, die seit 2004 Nothombs Romane ins Deutsche übersetzt, hat indessen für eine forciertere Abstraktion des Titels optiert. Dieser geschickte Move ist rundum begrüßenswert, denn neben und unter, quasi als Substrat der bedeutungsträchtigen Namen, die Nothombs Texte bevölkern, emergieren grundlegende Figuren der Logik und Wahrnehmung, insbesondere Ambivalenz. Titel wie Ni d’Eve ni d’Adam (dt. 2010: Der japanische Verlobte) oder La nostalgie heureuse (dt. 2017: Eine heitere Wehmut) demonstrieren das, was sich in diesen Texten ebenso auf die Metaebene ihrer ästhetischen Produktion bezieht.

Amélie Nothomb fasziniert nicht zuletzt, weil es ihr gelingt, die zum einen realistisch-historischen und zum anderen mythisch-überzeitlichen Elemente ihrer Romane adäquat auszutarieren. Vor diesem Hintergrund gestaltet und typisiert sie Figuren, deren Handlungsspielraum eingeschränkt ist.

Zu Ambivalenz: Ein Mann und eine Frau, die sich gerade geliebt haben, gehen auseinander. Dabei sagt sie, Reine, quasi beiläufig zu ihm, Claude, dass sie in zwei Tagen Jean-Louis heiraten werde.

Szenenwechsel: Dominique verliebt sich in Claude. Sie nimmt an, dass er ihre Gefühle erwidert. Sie heiraten in ihrer Heimatstadt Brest und ziehen nach Paris, weil Claude dort eine neue Unternehmensbranche für seinen Arbeitgeber aufbauen möchte.

Nach vier Jahren und einer höchst problematischen Schwangerschaft bringt Dominique ein Mädchen zur Welt, das Epicène genannt wird.

Eines Tages fordert Claude seine Frau auf, Kontakte zu einer Madame Reine Cléry zu knüpfen, mit deren Mann er sich gern geschäftlich austauschen möchte. Bei einem Elternsprechtag kommen die Mütter ins Gespräch und freunden sich an…

Ultrakurze Romane, die als Novelle durchgehen könnten, sind Nothombs Markenzeichen. Die kurze Erzählzeit paart sich hier mit einer hohen Raffungsintensität, weil sich die erzählte Zeit immerhin über einen Zeitraum von 30 Jahren erstreckt, in deren Verlauf eine sich akzelerierende Entwicklung fokussiert wird.

Seit den 2010er Jahren wählt Nothomb vorzugsweise einen heterodiegetischen Erzähler. Seine sparsam eingesetzte Stimme schiebt sich zwischen die zahlreichen Dialoge. Lediglich der Beginn des Romans unterscheidet sich von diesem Duktus: die wie ein Paukenschlag tönende Initialszene wirkt wie erlebte Rede, ist auf Claude getaktet, den fortan dieses Trauma der Trennung verfolgen wird.

Umgeben ist er von drei Frauengestalten, gegenüber denen alle anderen, meist nur kursorisch auftretenden Figuren, verblassen. Von Dominiques Eltern – Großeltern, die Épicène erst kennenlernt, nachdem sie mit ihrer Mutter den Vater verlassen hat – ergibt sich zwar ein recht differenziertes Bild, aber es dient primär dazu, zu unterstreichen, dass Claude Wert auf die Distanz zur bretonischen Provinz legt, er eine wagenburgartige Kernfamilie konstruieren möchte, deren Wurzeln gekappt sind.

Mit einem solcherart reduzierten Personeninventar ist es zudem einfacher, die parabelhaften Züge des Romans zu pointieren. Das altbekannte „nomen est omen“ adaptiert Nothomb individuell und mit einem Augenzwinkern für ihre Zwecke. Ihre Figuren reichen ins Allegorische hinein, sind aber nicht allein auf dieses zu fixieren.

Reine ist die Einzige im Quartett, die keinen neutralen Namen führt. Ihr Verhalten ist einerseits von Nonchalance und im Kontakt zu ihrer Freundin Dominique von manipulativen Zügen geprägt (Sie schenkt ihr „einfach so“ einen Mini-Cooper.). Andererseits ist sie nach eigenem Bekunden der Liebe fähig. Nur Claude schreibt ihr die Rolle einer Femme fatale zu. Das Vorgehen ihres Ex-Geliebten, der sie bittet, ihren Mann zu verlassen, bringt sie luzide auf den Punkt: Es sei keine Liebe, „sich an jemandem zu rächen, den man einmal geliebt“ habe. Zwei Menschen, sogar seine Tochter, habe er geopfert, seinen Zorn aber immer noch nicht besänftigt.

Dominique, an die Reine die letzten Worte des Romans richtet (nicht Dominique sei die „überflüssige Dritte“, sondern Claude sei es gewesen), bezeichnet eine*n, die*der jemandem geweiht und/oder zugehörig ist. Sie liebt Claude und bildet eine symbiotische Einheit mit Epicène, deren Charme und Klugheit alle, abgesehen von ihrem Vater, bewundern.

Épicène, „der neutralste Name der Welt“, so der Vater, gehe auf eine Komödie des Shakespeare-Zeitgenossen Ben Johnson zurück. Die heranwachsende Épicène bleibt nach der Pubertät geschlechtlich indifferent, vielleicht irgendwo zwischen den traditionellen Gender-Kategorien männlich und weiblich. Nach ihrem glänzend absolvierten Abitur studiert sie Anglistik. Vor allem anderen begeistert sie Richard III, eine Tragödie, deren Protagonist als Inkarnation der Intrige gilt. Nach außen wirkt Épicène durchrationalisiert, unnahbar und spätestens dann parentifiziert, als sie die Formalitäten der Scheidung ihrer Eltern regelt.

Claude, „der Hinkende“, möchte sich an Reine rächen, doch sein Projekt bleibt in den Kinderschuhen stecken – es lahmt. Er ist unfähig, sich einer anderen Frau als Reine emotional zuzuwenden. Selbst diagnostiziert er ein Hauptsymptom seines Versagens: seine Tochter, denn sie sei ihm ähnlich, gegenüber ihr könne er seine Gefühle nicht ausschalten, er hasse sie. Er führt ein „Messie“-Dasein, Krankheit ereilt ihn und seine Rache bleibt eine Begierde, deren Ziel verlustig gegangen ist. In dieser Objektlosigkeit manifestiert sich die Ähnlichkeit von Vater und Tochter: Épicène schreibt ihre Examensarbeit über das Verb to crave, das bei ihr ohne Ergänzung bleibt. To crave ohne Objekt ist das nackte, inhaltsleere Verlangen. Damit trifft es auf den gescheiterten Rachefeldzug und spiegelt ihn: Der todkranke Vater enthüllt seiner Tochter, dass to crave das Verb seines Lebens sei, das er nicht kannte, aber dessen Bedeutung „er verdammt genau erforscht“ habe. Épicène geht einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie sich selbst mit to crave gleichsetzt. „Dieses Verb bin ich“, fasst sie zusammen, sie liebe ihren Beruf, dieser sei ihr Ein und Alles, ob sie hingegen das Leben liebe, wisse sie nicht, denn sie „kenne das Objekt noch nicht“.

Letztendlich könnten die beiden prominenten Verben des Romans als Charaktere firmieren: neben to crave ist es das französische Wort décolérer. Dafür setzt Brigitte Große das Verb „entzürnen“ ein, das es, im Gegensatz zur Vorlage, „nicht gibt, aber geben könnte“. Mit diesem knappen Einschub umgeht die Übersetzerin gekonnt mögliche Spekulationen zum Neologismus. Mit dem Verb, das nur in der Verneinung gebraucht wird – „Il ne décolère pas“ und „Il ne décolérera jamais“ bzw. „Er entzürnt sich nicht“ und „Er wird sich nie wieder entzürnen“ –, rahmt Nothomb den Auftakt ihres Romans, der mit dieser expliziten Akzentuierung zum Thesenroman avanciert. Die hier implizierte Behauptung wird mit Claudes Geschichte personalisiert, gleichzeitig ad absurdum geführt, um schließlich in to crave zu münden und mit Épicènes Intervention ihren Paroxysmus zu erreichen. Weder Claude noch Épicène „entzürnen“ sich. Während jedoch, frei nach Kant, Claudes Gedanken inhaltsleer bleiben, der Rachegedanke selbst möglicherweise obsolet ist und sein Zorn sinnlos bleibt, trifft Épicène im entscheidenden Moment auf die Anschauung zu ihrem Begriff beziehungsweise auf das Objekt zu to crave. Mit dem Patrizid rächt sie sich am Rächer, tut ihm aber auch einen Gefallen, weil sie sein absehbares Ende beschleunigt.

In ästhetisch-stilistischer Hinsicht bleibt Amélie Nothomb ihrer Linie der realistischen Erzählung mit mythischer Dimension treu, indem sie das Besondere eines Mannes, der nicht in der Lage ist, sich über eine Zurückweisung zu erheben, mit dem Allgemeinen eines monomanen Charakters klug interagieren lässt. Claude ist eine tragische Gestalt, die Menschenopfer erbringt, kein Entwicklungspotenzial besitzt, sondern allein dem sinnentleerten Begehren nach Rache gehorcht.

Nothombs narrative Kompetenz konkretisiert sich in zwei weiteren Ambivalenzen: Erstens sind ihre Figuren im Abseits jedweder Schwarz-Weiß-Malerei situiert. Obwohl ihnen klare Attribute zugeschrieben sind, ist es nahezu ausgeschlossen, sie in platte moralische Kategorien zu pressen. Mit dieser Uneindeutigkeit eröffnet Nothomb den Raum für individuelle Sympathievergaben und/oder Diskussionen.

Passend dazu lassen es Nothombs Texte nicht zu, eindeutige Botschaften aus ihnen zu destillieren. Über ihnen schwebt eine Aura feiner Ironie, die stets dazu animiert, sich nicht blindlings-naiv mit einer Figur zu identifizieren und sich nicht unreflektiert dem Plot hinzugeben. Die Autorin fordert den gebührenden Abstand, aus dem heraus sowohl Ambi- als auch Polyvalenzen zu überblicken sind.

Mit Ambivalenz erweist sich Amélie Nothomb erneut als herausragende Analytikerin der Conditio humana. Sie brilliert mit einem lexikalisch und syntaktisch reduzierten Text, der leichtfüßig daherkommt, mit seinen Geschichten über toxische Beziehungen aber umso explosiver wirkt. Dabei sind Nothombs messerscharfe Analysen ausnahmslos ein bisschen „drüber“, gehen aber gerade deshalb umso tiefer.

Selbst nach 30 Jahren reger und erfolgreicher Schreib-Aktivität, trotz der zunehmenden Text-Verknappung und der vielen Werkkonstanten, die sich über die Jahre hinweg herauskristallisiert haben, ist Amélie Nothomb immer wieder für Überraschungen gut.

Titelbild

Amelie Nothomb: Ambivalenz.
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
Diogenes Verlag, Zürich 2022.
128 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071948

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