Klassen-Bewusstsein
In seinem überzeugenden Debütroman „Was ich zurückließ“ berichtet Marco Ott von der Entfremdung von seinen Eltern
Von Sascha Seiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBereits auf dem Cover von Marco Otts Romandebüt findet sich ein Hinweis auf das Genre, dem dieses Buch zugeordnet werden soll, nämlich der so genannten Klassenliteratur. Aber Klassenliteratur, was ist das genau? In letzter Zeit haben sich in der Folge von Didier Eribons vielbeachtetem Buch-Essay Rückkehr nach Reims eine ganze Reihe von jungen Schriftstellern und Schriftstellerinnen auf die Suche nach ihrer Identität gemacht, die eines eint: Die ‚Flucht‘ aus der Arbeiterklasse in die Welt des Intellekts, der Kunst bzw. der akademischen Weihen.
Dass es als ‘Arbeiterkind‘ in Deutschland nicht leicht ist, den sozialen Aufstieg zu schaffen, ist das eine. Doch wie reüssiert man in der Welt des Wortes und der klugen Gedanken, wenn man umgeben von schnödem Dialekt und einfachen Sentenzen aufgewachsen ist? Diese Problematik – und das zeigen das Buch von Eribon, aber auch der viel beachtete Roman von Christian Baron, Ein Mann seiner Klasse sowie das vorliegende Buch von Marco Ott – wird unterschätzt, eben weil die akademische und künstlerische Welt voll ist von Bürgerkindern, die Armut oder zumindest die Herkunft aus der Arbeiterklasse im besten Fall als romantisches Konstrukt ansehen, sie indes aber nur selten als einen nicht endenden Hindernislauf erkennen.
An einer Stelle seines Romans thematisiert der identitätssuchende Ich-Erzähler die mehrstufige Problematik der Aneignung kulturellen Kapitals (er drückt es einfacher aus), indem er darauf hinweist, dass man als Arbeiterkind eben nicht mit dem Vorzug einer Bibliothek oder gar Menschen aufwächst, die einem die Meilensteine (und Nebenschauplätze) der Kultur näherbringen könnten. Alles muss man sich selbst erarbeiten. Und der größte Schritt dabei ist das Wissen darum, was man sich denn überhaupt erarbeiten will. Der Ich-Erzähler, nur unschwer als der Autor selbst zu erkennen, berichtet im zweiten Teil von Was ich zurückließ von seiner Odyssee als Kind der Unterschicht vom Rande des Ruhrgebiets zunächst nach Berlin, wo er Filme machen will, nach Leipzig, wohin er zwar zieht, am renommierten Literaturinstitut jedoch nicht angenommen wird, über Frankfurt, wo er Komparatistik studieren will, bis nach Hildesheim, wo er dann doch die Zusage für den Studiengang Kreatives Schreiben bekommt und wo der echte Marco Ott zum heutigen Zeitpunkt auch noch studiert.
In der ersten, stärkeren Hälfte erinnert sich der Ich-Erzähler in melancholisch gefärbten Vignetten an seine Kindheit. Diese ist geprägt von der Angst vor Arbeitslosigkeit und dem endgültigen Abrutschen auf der sozialen Leiter. Wir erfahren von ständigem Geldmangel, der das Leben der Familie bestimmt. Von dem Gefühl der Peinlichkeit, das allein schon das Viertel, in dem die Familie wohnt, beim Ich-Erzähler auslöst, sodass er nur selten Freunde mit nach Hause bringt. Von der steten Ablehnung durch seine sozial höher gestellten Klassenkameraden, bekommen sie die kleine Wohnung doch einmal zu Gesicht.
Ob es eine gute Entscheidung war, den Roman formal als Brief an seine Eltern zu konzipieren, ist diskussionswürdig, da man nicht immer das Gefühl hat, dass der Autor dieses Konzept streng durchzieht, und es dem Ganzen in seiner Beiläufigkeit bisweilen etwas Gestelztes verleiht, das der Roman überhaupt nicht nötig hat. Anders als Christian Barons prügelnder, dauerbetrunkener Vater und seine hilflose Mutter sind die Eltern des Ich-Erzählers hier sehr liebevoll gezeichnet. Tatsächlich verliert der Erzähler kein schlechtes Wort über sie, sondern gibt sich vielmehr wiederholt selbst die Schuld, mit seinem arroganten Verhalten die gut gemeinten Versuche seiner Eltern, an seinem neuen Leben als Student und Möchtegern-Intellektueller teilzuhaben, von vorneherein scheitern zu lassen.
Interessanterweise ist Was ich zurückließ nicht zwingend die Geschichte eines sozialen Aufstiegs (die prekäre Situation der Geisteswissenschaftler heute wird zwar nur am Rande erwähnt, ist aber immer mitzudenken), sondern die eines sozialen Abschieds auf Raten. Eine Geschichte von Entfremdung – einer Entfremdung, die gar nicht nötig gewesen wäre, aber irgendwie doch geschieht.
Man muss sich während der Lektüre dieses wirklich bewegenden und überaus gelungenen Romans allerdings immer fragen, inwieweit die Erfahrungen, die hier beschrieben werden (vor allem jene der Entfremdung), tatsächlich Menschen anzusprechen vermögen, die den Weg Otts nicht gegangen sind; also all jene Bürgerkinder, welche die besagten Bibliotheken zur Verfügung hatten und die diese „Geheimsprache“, vor allem der philologischen akademischen Welt nicht erst mühsam erlernen mussten. Diejenigen aber, die einen ähnlichen Weg hinter sich haben, und da zähle ich mich selbst dazu, werden sich in diesem Buch immer wieder selbst erkennen.
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