Wahrheit und Lüge im Zeitalter von Social Media
Was bringt einen Menschen dazu, Verschwörungsmythen zu propagieren? Diese Frage dient der amerikanischen Literaturkritikerin Lauren Oyler als Köder für ihren hochreflexiven Debütroman „Fake Accounts“
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin nahestehender Mensch verliert sich in Verschwörungsmythen: Diese Erfahrung mussten schon viele machen, spätestens seit Corona. Aber wie geht man damit um? Sucht man die Konfrontation, oder bricht man besser gleich den Kontakt ab? Diese Frage steht am Beginn von Lauren Oylers Romandebüt Fake Accounts – und führt das Publikum zugleich auf raffinierte Weise in die Irre.
Doch der Reihe nach: Oylers Roman beginnt im Januar 2017, New Yorks Intellektuelle rufen gerade zum Widerstand gegen Donald Trump auf. Oylers namenlose Ich-Erzählerin, eine Promi-Bloggerin, ist jedoch mehr mit ihrer dahindümpelnden Beziehung als mit Politik beschäftigt. Auf der Suche nach einem Grund, ihren allzu introvertierten Freund Felix endlich abzuservieren, schnüffelt sie in dessen Handy herum. Was die Mittzwanzigerin dort entdeckt, ist jedoch kein für ihre Absichten hilfreicher Seitensprung, sondern dass Felix auf Instagram anonym Verschwörungsmythen postet, über die wahre Herkunft von Kondensstreifen am Himmel oder die geheimen Hintergründe von Nine-Eleven.
Diese Entdeckung beschert ihr zwar eine „jähe, magische Erleichterung“, verbunden mit dem Genuss moralischer Überlegenheit, sie ist aber auch so verstörend, dass Oylers Erzählerin fürs Erste weiterhin so tut, als wäre mit ihrer Beziehung alles in Ordnung. Als sie endlich zu wissen glaubt, wie sie in dieser Sache ihre Trümpfe zu spielen hat, geschieht – Ironie des Schicksals – etwas Unerwartetes: Felix stirbt, bei einem Fahrradunfall.
Die folgenden 300 Seiten handeln davon, wie die Ich-Erzählerin ihre, wenn man es denn so nennen kann, Trauer verarbeitet und dafür ihren Job kündigt und von Brooklyn nach Berlin zieht. In der Stadt, in der sie Felix zwei Jahre zuvor kennengelernt hat, beginnt sie ein sogenanntes „Projekt“ als eigenwillige Form der Gesellschaftskritik: Sie verabredet sich über eine Dating-App mit immer neuen Männern, erfindet sich aber für jeden eine andere Identität. Mal präsentiert sie sich als Heilmasseurin oder Steuerberaterin, mal als Autorin oder Tänzerin.
Ob umgekehrt das, was ihr die Männer von sich erzählen, der Wahrheit entspricht, bleibt in Oylers Roman offen. Genauso wie die Frage, warum ihr Freund Verschwörungsmythen propagierte. Man muss es wohl so sehen: Letzteres dient der Autorin als eine Art literarischer Köder, der einer möglichst großen Leserschaft einen hochambitionierten, selbstreflexiven Roman über Wahrheit und Lüge, Ironie und Identität im Zeitalter von Social Media schmackhaft machen soll. Lauren Oyler ist in den USA übrigens keine Unbekannte; als Literaturkritikerin ist sie berüchtigt für ihre scharfzüngigen Verrisse, vor allem wenn es um Werke von Generationsgenossinnen wie Jia Tolentino oder Sally Rooney geht.
Vielleicht lässt sie die Erzählerin ihres Debütromans deshalb vorsorglich jeden erdenklichen Einwand vorwegnehmen: „Damit kein Zweifel aufkommt“, konzediert Oylers Heldin etwa, „ich weiß, dass das langweilig ist.“ Das ist der Roman über weite Strecken tatsächlich, schon weil diese Labertasche von Erzählerin von all ihren Fake-Dates und Twitter-Ausflügen in erschöpfender Ausführlichkeit berichtet. Zugleich aber ist die Ich-Erzählerin mit ihrem „reflexhaften Sarkasmus“ überaus interessant. Zumal als Vertreterin ihrer Generation, der Millennials: Auch Oylers Heldin scheint nichts wichtiger als Authentizität zu sein, kennt diese aber nur noch als Inszenierung, als soziale Performance und Futter für den nächsten Instagram-Post. Mit ihrem lockeren Verhältnis zur Wahrheit ist sie dem verschwörungsgläubigen Felix jedenfalls ähnlicher, als ihr bewusst ist.
Wer das nötige Durchhaltevermögen zur Lektüre aufbringt, wird daher immer wieder mit großartigen Passagen und Reflexionen belohnt. Glänzend ironisiert Oylers Erzählerin etwa die narzisstische Selbstgerechtigkeit des linken Amerikas nach Trumps Amtseinführung und reflektiert dabei über Phänomene wie Privilegienscham, die eigene Identität als weiße Frau aus Brooklyn oder den zeitweiligen Hype um den „angenehm weit gefassten“ Begriff Widerstand,
der seine Kraft aus den sozialen Medien bezog, wo man gar nicht daran vorbeisehen konnte, wie ehemals unpolitische Kollegen, Mitschülerinnen und One-Night-Stands sich um drastische Vorschläge herumscharten, vielfach kopiert und anderswo wieder eingefügt, insbesondere von Nutzern des Um-n-Ecken-kennt-jeder-jeden-Phänomens, die später Anerkennung dafür forderten, diese oder jene Aktion, die gerade hektisch das Licht der Welt zu erblicken versuchte, initiiert zu haben.
Andernorts lässt Oyler ihre Heldin, für die Sex eine Art Zweikampf zu sein scheint, bei dem der Sieg von der glaubwürdigen Demonstration von authentischer Lust abhängt, seitenlang über den Zusammenhang von Blowjobs und Macht sinnieren. Von den hochamüsanten Beobachtungen über das Leben in Berlin aus der Sicht einer hippen New Yorkerin ganz zu schweigen. Wie sagt die Erzählerin so schön, als Selbstbeschreibung auf ihrer Datingseite? „Schwierig, aber der Mühe wert.“ Das kann man auch von Oylers Debütroman sagen.
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