Abschied nicht nur vom ‚Lutherjahr‘

Andreas Pangritz untersucht Luther als „Beispiel“ für „Theologie und Antisemitismus“

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbst auf dem Höhe- und Endpunkt der von kirchlicher Propaganda ausgerufenen ‚Lutherdekade‘ gab es in der Flut der Publikationen ungebrochenes Lob für den Wittenberger Reformator wohl nur von Seiten intellektueller Dunkelmänner wie Norbert Bolz oder politischer wie Karlheinz Weißmann. Das Spektrum kritischer Stimmen dagegen war so breit wie noch nie – anregend zum Beispiel von Richard Faber und Uwe Puschner versammelt in dem Band Luther zeitgenössisch, historisch, kontrovers. Einen Hauptgegenstand der Kritik, neben der deutschen Unheilsgeschichte des von Luther mitinspirierten politischen Denkens, bildete dabei zu Recht sein fanatischer und terroristischer Hass auf die Juden, den er in mehreren Schriften austobte, für die er nach heutigem Recht wegen ‚Volksverhetzung‘ bestraft würde. Dieser keineswegs absonderliche, sondern typisch christliche Antisemitismus Luthers wird in kaum einer ernst zu nehmenden Veröffentlichung über ihn verschwiegen oder verharmlost. Aber in der Zunft evangelischer Theologen hat ihn keiner bisher so gewissenhaft und radikal – allerdings mit ebenso peinlichen wie symptomatischen Einschränkungen – untersucht wie Andreas Pangritz in seinem neuen Buch Theologie und Antisemitismus.  

Dieses Buch nimmt Abschied nicht nur vom ‚Lutherjahr‘ 2017, gegen dessen Ende es erschienen ist, sondern auch, wegen der ihr eingelagerten Judenfeindlichkeit, von Luthers ganzer reformatorischer Theologie. Denn die Hauptthese von Pangritz lautet: Es ist Luthers sogenannte Rechtfertigungslehre, das Zentrum seiner Theologie, die nicht nur die christliche Religion neu begründet hat, sondern unaufhebbar auch seinen Antisemitismus enthält. Verurteilt man, wie es nötig ist, diesen, so muss man auch jene verwerfen. Um diese die Lutheraner höchst provozierende These zu begründen, hat der Autor, als systematischer Theologe an Karl Barth und dessen Schüler Friedrich-Wilhelm Marquardt sich anschließend, sein Werk konzipiert.

Nach einem umfangreichen kritischen Forschungsbericht zum Problemfeld ‚Luther und die Juden‘ deckt Pangritz in dessen Rechtfertigungslehre judenfeindliche Strukturen auf. Wie sich diese in Luthers Schriften artikulieren, von der frühen Psalmen-Vorlesung, die wie ein Lehrbuch des theologischen Antijudaismus wirkt, bis zur Vermahnung wider die Juden, die „Luthers theologisches Testament“ bildet, wird im längsten Kapitel des Buches unter dem Titel „Martin Luthers Lügen über die Juden“ unerbittlich genau nachgewiesen. Das geschieht in Fortführung der Pionierarbeit von Reinhold Lewin: Luthers Stellung zu den Juden, die gerade neu gedruckt worden ist, und des unüberholten, vergriffenen, unverständlicherweise nicht neu aufgelegten Meisterwerks von Peter von der Osten-Sacken Martin Luther und die Juden.

Pangritz rundet sein Buch mit einigen teils ergänzenden, teils resümierenden Kapiteln und einem kurzen „Ausblick“ ab. In Widerspruch zu fortgesetzter „Luther-Apologetik“ zieht er ein hartes Fazit zur „Dialektik der Reformation“: Da Luthers Antisemitismus notwendige Konsequenz seiner Theologie ist, „verurteilt sie sich selbst“. Es ist also nötig, sich von ihr und dem reformatorischen Ansatz Luthers „zu verabschieden“. Tut man das, so müsse man nach einer nicht-lutherischen „Rechtfertigungslehre ohne Antijudaismus“ suchen. Zu der könne man Ansätze unter Luthers Mitreformatoren bei Andreas Osiander und Wolfgang Capito, unter modernen Theologen bei Barth und Marquardt finden. (Luthers Zeitgenosse Sebastian Castellio, der in seiner bewundernswerten Kunst des Zweifelns und Glaubens ausführlich auch von der Rechtfertigung handelt, wird von Pangritz leider ebenso übergangen wie Marquardts Zeitgenosse Hans-Joachim Kraus, ein theologischer Pionier des christlich-jüdischen Dialogs nach 1945.) Der das Werk abschließende „Ausblick“ ist zwar weit mehr als ein Abschied nur von der apologetischen Betriebsamkeit der „Propaganda-Maschine der ‚Lutherdekade‘“, und er gibt lutherischen Theologen eine harte Nuss zu knacken. Aber für einen religionsfrei denkenden wissenshungrigen Leser eröffnet er enttäuschend wenig. Erwartet er doch, gemäß dem Untertitel des Buches, mit Hilfe von Luther als einem „Beispiel“ – wofür? natürlich für den fast zweitausend Jahre alten christlichen Antisemitismus – auch für diesen eine schlüssige Erklärung.

Dieser nur allzu berechtigten Erwartung aber weicht der Bonner systematische Theologe geradezu systematisch aus. Er, der durch das ganze Buch hindurch gegen apologetische Lutherforscher polemisiert, demonstriert selber unfreiwillig, dass Apologetik die ‚Logik‘ der Theologie selbst ist. Das zeigt sich vor allem in drei Punkten: Der erste ist die Einengung der Analyse von Ursachen des Judenhasses Luthers auf die Rechtfertigungslehre. Interessieren kann das nur Theologen, die unter sich sind und bleiben wollen. Denn diese Lehre ist, ob von Paulus, Luther oder Karl Barth vorgetragen – ähnlich wie auch die Trinitätslehre – ein wildes Gewirr von dogmatischen Aussagen, die einem vernünftig Denkenden noch niemals eingeleuchtet haben und es auch nicht können, es sei denn er opfert seinen Intellekt zugunsten eines Credo quia absurdum. So kann Pangritz Leser, die von seiner Lutherkritik in Richtung auf eine Kritik des Christentums weiterfragen, heraushalten.   

Der zweite Punkt, an dem man die apologetische Tendenz des Autors beobachten kann, ist sein bewusst ungenauer Umgang mit der ebenso brisanten wie richtigen Einsicht der scharfsinnigsten Lutherkritiker vor ihm, dass die Hauptursache für Luthers Angst vor und Feindschaft gegenüber den Juden der ‚Streit um die Bibel‘ ist, und zwar aus gutem Grund. Denn Luther sah mit Recht und in Gegensatz zu späteren, sich aufgeklärt gebenden Theologen, was passiert, wenn man den Juden ihre Bibel lässt: Dann fällt das ganze christliche Dogma in sich zusammen, das in apostolischer Zeit aus der jüdischen Bibel, die erst später Altes Testament genannt worden ist, herausgelesen wurde – eine andere Bibel hatten die ersten Christen ja noch nicht.

Genau darin aber liegt die tatsächlich gegebene „Bedrohung“, die Luther von den Juden ausgehen sah, was heutige Lutherkritiker als Wahn hinstellen möchten. Denn Juden können mit unwiderleglichen Argumenten die christlichen Bibellektüren – das krasseste Beispiel: Jungfrauengeburt – als Fehllektüren nachweisen. Genau das haben sie ja auch, Christenhass auf sich ziehend, von Anfang an getan. Und sie sind darin zudem von der historisch-kritischen Forschung bestätigt worden, die von dem ‚modernen‘ Theologen Karl Barth ähnlich gehasst wurde wie die rabbinische Bibelinterpretation von Luther. Denn ohne diese gewaltsame biblische Begründung hängt das christliche Dogma haltlos in der Luft, also auch das der Rechtfertigung. (‚Moderne‘ Theologie ist der vergebliche Versuch, diese Haltlosigkeit als Haltbarkeit auszugeben.)

Man kann sich also nicht einfach, wie Pangritz es tut, aus den drei dogmatischen Knäueln ‚Christologie‘, ‚Gesetz oder Evangelium‘ und ‚Rechtfertigungslehre‘ nur letztere herauspicken, denn alle drei haben ihr historisches Fundament in christlichen Gewaltlektüren der jüdischen Bibel. Man kann an dieser Erkenntnis auch nicht, wie Pangritz es gleichfalls versucht, vorbeikommen, indem man sich aufgeklärt gibt und auf eine Pluralität von Bibellektüren beruft, denn die jüdische ist in für das Dogma entscheidenden Punkten eine schlüssige Widerlegung der christlichen. Diese Berufung dient nur als Scheinargument gegen eine Einsicht, als deren Konsequenz weit mehr droht als ein Abschied von Luthers Version der Rechtfertigungslehre des Paulus. Dieser, obwohl selber wohl noch gar kein Christ im späteren Sinne, war dennoch mit seinem „großartigen Kultdrama über den Mythos vom sterbenden und auferstehenden Gottessohn“ (Geza Vermes) der Erfinder des Christentums in dessen am meisten verbreiteter Gestalt. Und er lieferte eben auch, beginnend mit der Lüge, die Juden hätten den Herrn Christus getötet (1. Thess. 2, 15), die ersten Steine zum Lügengebäude des christlichen Antisemitismus, in dem auch Luther seine Wohnung hatte.

Diese auf die Bibeldeutung bezogene Hauptursache des Judenhasses nicht nur Luthers, sondern auch all seiner antisemitischen theologischen Vorgänger seit dem Verfasser des Barnabasbriefs hatte Reinhold Lewin, den der NS-Staat ermordete, klar und mit triftigen Gründen herausgearbeitet, und Peter von der Osten-Sacken hat diese Diagnose gewissenhaft geprüft und bestätigt. Aber obwohl Pangritz Lewin zu Recht an die Spitze seines Forschungsberichts stellt, erwähnt er dessen bahnbrechende kritische Haupterkenntnis irreführend nebenbei in gerade nur einem einzigen Satz. Dazu passt, dass er den Abschnitt über Forscher, die genau diese Erkenntnis weiterführen, vor allem Osten-Sacken, so kurz wie möglich hält und einige von ihnen, so René Süss, Hans Martin Kirn, Matthias Morgenstern, lieber in anderen Abschnitten unauffällig versteckt. Und obwohl er selber die deutsche Ausgabe des Werks von Süss Luthers theologisches Testament (2017) dankenswert gefördert hat, erwähnt er im Referat über ihn dessen Einsicht in Luthers christozentrischen Umgang mit der Hebräischen Bibel als Basis seines Judenhasses gleichfalls irreführend nebenbei.

Am auffälligsten ist die apologetische Tendenz von Pangritz jedoch in einem dritten Punkt: Bei der historischen Einordnung von Luthers Antisemitismus widmet er sich, und hier fast unapologetisch, nur der einen Richtung: der inzwischen von anderen, auch nicht-theologischen Forschern einigermaßen aufgearbeiteten Wirkungsgeschichte von Luthers theologischem bis in den modernen Antisemitismus hinein. Nur fast unapologetisch, denn er hält sich mit Kritik am christlichen Antisemitismus in der ‚Bekennenden Kirche‘ (BK) zurück, obwohl der ihm bekannt ist.

Die andere historische Richtung, Luthers Position in der historischen Kontinuität einer perennierenden Judenfeindlichkeit von apostolischer Zeit, Neuem Testament (wie Rosemary Ruether gezeigt hat) und ‚Kirchenvätern‘ spricht Pangritz, beispielsweise in seinem Referat zu Süss, zwar an, aber möglichst beiläufig. Er selbst umgeht sie wie die Katze den heißen Brei. Er erlaubt sich sogar, wenn man Luther in diesem Kontext sieht, das als Verharmlosung hinzustellen.

Dabei liegt es auf der Hand: Die allermeisten derjenigen Aussagen Luthers gegen die Juden, die er als theologische Argumente gemeint hat und nicht einfach als Hass-Rhetorik ausgestoßen hat, sind nicht nur durchs ganze Mittelalter zu finden, sondern bereits bei den ‚apostolischen‘ und übrigen ‚Kirchenvätern‘, die ganz überwiegend, wie Luther, theologische Antisemiten waren. Bei diesem konstanten antijüdischen Diskurs hat er sich weitestgehend bedient. Sogar seine ekelhafte Allegorie über die Exkremente des Judas – also christliche Hate Speech pur – ist nicht Produkt perverser Phantasie oder poetischer Kreativität, sondern treu nach Bibelstellen und Kirchenvätern gearbeitet. Warum hat das überwältigende Beweismaterial für Luthers fast vollständige Zugehörigkeit zur traditionellen Adversus-Judaeos-Theologie in einem umfangreichen Buch über seinen Antisemitismus keinen angemessenen Raum gefunden?

Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang eine gezielte Zitatverkürzung, die sich Pangritz bei seinem theologischen Kollegen Thomas Kaufmann erlaubt, einem Spezialisten für Luthers Antisemitismus. Dabei kritisiert er völlig zu Recht dessen unangenehme Tendenz, das Thema ‚Luther und die Juden‘ in der Weise zu ‚historisieren‘, das heiß zeitgeschichtlich ‚einzubetten‘, dass es so am besten zur ewigen Ruhe kommt. Ein einziges Mal spricht Kaufmann, jedoch ohne selber die notwendige historiographische Konsequenz daraus zu ziehen, die peinliche Wahrheit aus: nicht nur über die Kontinuität von Luthers Judenfeindschaft mit der allgemeinen christlichen vor ihm, sondern auch über die Kontamination des Christentums mit Antisemitismus von Anfang an: Luthers Wiederentdeckung der biblischen Grundlage des christlichen Glaubens trug dazu bei, „antijüdische Motive, die das Christentum in historischer und theologischer Hinsicht konstituieren, in neuartiger Intensität wirksam werden zu lassen“. Genau die hochbrisante Passage in diesem Zitat, die hier hervorgehoben ist, lässt Pangritz aus. Das spricht Bände.  

Warum diese peinliche Einschränkung eines legitimen historischen Erkenntnisinteresses, das eine hinreichende Erklärung von Luthers Judenfeindschaft nur über eine schlüssige Erklärung des allgemeinen christlichen Antisemitismus für möglich hält? Die Antwort ist einfach: Eine solche Erklärung droht die Grundlagen des christlichen Dogmas in Frage zu stellen, also nicht nur einen „Geburtsfehler des Protestantismus“ (Klaus Wengst), sondern der christlichen Religion aufzudecken. Womöglich wäre dann statt eines Abschiedes nur von Luthers Theologie einer vom Christentum fällig, wie ihn zum Beispiel William Nicholls, der Verfasser des herausragenden Meisterwerks Christian Antisemitism: A History of Hate, Geza Vermes, der international kompetenteste unter nicht-theologischen Jesus-Forschern, und auch der Luther-Forscher René Süss genommen haben. Um aber Theologe zu bleiben und diese Gefahr abzuwehren, ist anderes als Apologetik nötig: Man muss sich taub stellen, in diesem Fall für die mittlerweile vielstimmige historische Forschung zum christlichen Antisemitismus einschließlich des lutherschen. Diese Forschung, vor allem, wenn sie nicht von christlich-parteilichen Forschern betrieben wird, scheut der Theologe wie der Teufel das Weihwasser. Allenfalls erwähnt er, als Alibi, beiläufig einzelne Stimmen.

Genau das tut Pangritz, und wieder durch Verstecken: Er bringt dieses Thema, das ein Hauptkapitel in seinem Buch verdient hätte, unauffällig in einem kurzen terminologischen unter, das im Übrigen, im Gegenzug zum herkömmlichen Festklammern am scheinbar harmloseren Begriff ‚Antijudaismus‘, plausibel dafür plädiert, den Begriff ‚Antisemitismus‘ auch auf Luther anzuwenden. Das aber haben zuerst nicht Luther-, vielmehr Antisemitismus-Forscher getan. Pangritz erwähnt außer dem unvermeidlichen Léon Poliakov zwei Pioniere in Bezug auf den christlichen Antisemitismus: Jules Isaac und Marcel Simon, dazu Eleonore Sterling und Jacob Katz, die Mediävistin Edith Wenzel – leider jedoch nicht die zahlreichen, teilweise auch direkt auf Luther bezogenen Arbeiten des Mediävisten Winfried Frey –, außerdem mit Recht die theologischen Forscher Rosemary Ruether und John G. Gager.

Pangritz erwähnt aber nicht die wichtigen Pionierarbeiten von James Parkes, Friedrich Heer, Charlotte Klein, William Nicholls, Susannah Heschel, die von Peter Richardson herausgegebenen Bände über Anti-Judaism in Early Christianity, die einschlägigen Arbeiten von Jeremy Cohen, zuletzt: Christ Killers, Robert Michael: Holy Hatred, Eric W. Gritsch, Anders Gerdmar, Amy-Jill Levine. Er übergeht auch, Blicke über den theologischen Tellerrand vermeidend, das sehr beachtliche Werk Anti-Judaism von David Nirenberg, das nachweist, dass christlicher Antisemitismus Bestand- und Erbteil nicht nur der gesamten abendländischen Kirchen-, sondern auch Geistesgeschichte ist, und das natürlich auch ein Luther-Kapitel enthält. Pangritz erwähnt nicht einmal den kommentierten Reader seiner Theologen-Kollegen Brooks Schramm und Kirsi I. Stjerna Martin Luther, the Bible, and the Jewish People, in dem glasklar dargelegt ist, Luther bewege sich mit seinem theologischen Antisemitismus „alongside that legion of Christian thinkers and leaders“, die bereits vor ihm Judenhass gepredigt hatten.

Als symptomatisch darf man es wohl auch ansehen, dass Pangritz bei seinem Überblick über die Luther-Rezeption im 20. Jahrhundert zwar oft Barth und Bonhoeffer nennt, aber auffällig flüchtig, wie bereits erwähnt, die ebenso erklärungsbedürftige wie beklemmende Tatsache, dass Antisemitismus auch in der BK verbreitet war, und zwar unter Berufung auf Luther. Und auch auf die Forschungsergebnisse dazu geht er nicht ein, von dem Pionierwerk Wolfgang Gerlachs Als die Zeugen schwiegen bis zu den Erkenntnissen von Christopher J. Probst und Siegfried Hermle – letztere in Publikationen zu lesen, die Pangritz kennt. So wollte beispielsweise Wilhelm Halfmann, führendes Mitglied der BK und förderndes der SS, mit seiner Schrift Die Kirche und der Jude den Nazi-Antisemitismus mit einem christlichen überbieten, natürlich unter Berufung auf Luther. Und auch andere Theologen der BK stellten Luthers „christlichen Antisemitismus“, wie sie ihn ausdrücklich nannten, positiv gegen den faschistischen.

Hans von Campenhausen, bedeutender Kirchenhistoriker und Mitglied der BK, publizierte 1940 Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen als eine seiner „Hauptschriften“, gewiss nicht, um wie René Süss Luthers theologischen Judenhass kritisch vorzuführen. Dazu passt, dass Campenhausen, als er sich nach dem Krieg auf die Kirchenväter zurückzog, deren notorischen und giftigen Antisemitismus vollständig verschwieg, dessen dankbarer Erbe wie unzählige andere Theologen auch Luther war. Und gleichfalls nach 1945 publizierte der „Reichsbruderrat“ der BK ein Wort zur Judenfrage, in dem nicht nur die uralten christlichen Diffamierungen der Juden reproduziert werden, sondern auch die Shoah theologisch geradezu gerechtfertigt wird. Es ist aber wissenschaftlich ebenso unzulässig, wie es allzu menschlich ist, solche peinlichen Zeugnisse aus einer theologischen Richtung, der man nahesteht, wie Pangritz es tut, zu verschweigen.

Dieses Verschweigen in einem Buch von fast 600 Seiten, das sonst für Vieles Raum hat, lässt sich nur so erklären: Fragt man konsequent und radikal nach den Gründen und Ursachen für die skandalöse Zähigkeit des christlichen Antisemitismus von den Anfängen über Luther bis in die Epoche nach Auschwitz, dann stößt man unweigerlich nicht nur, wie Pangritz, auf einen „Grundschaden“ im Zentrum von Luthers Theologie, sondern auch im Zentrum der christlichen Religion. Dann aber wäre erheblich mehr Abschied fällig als von einem nervenden ‚Lutherjahr‘ oder von der vertrackten ‚Rechtfertigungslehre‘ des Wittenberger Reformators. Wer als Christ davor Angst und vom Theologenstreit genug hat, mag sich an die vermutlich von Luther verfasste Variante eines alten Judas-Liedes halten, an die auch er selbst sich hätte halten sollen: „Unsere große Sünde und schwere Missetat  / Jesum, den wahren Gottessohn, ans Kreuz geschlagen hat. / Drum wir dich, armer Judas, dazu der Juden Schar, / nicht feindlich dürfen schelten, die Schuld ist unser, fürwahr.“

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Andreas Pangritz: Theologie und Antisemitismus. Das Beispiel Martin Luthers.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
570 Seiten, 64,95 EUR.
ISBN-13: 9783631733622

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