Wie eines ganz nahen Menschen gedenken
Anne Pauly beschreibt Räume der Trauer beim Abschied von ihrem Vater
Von Stephan Wolting
Gerne gesteht der Rezensent vorweg, dass er wegen des Titels mit anderen Erwartungen an das Werk von Anne Paulys Bevor ich es vergesse herangetreten ist. Er war eigentlich davon ausgegangen, dass es ist sich um eine Demenz-Geschichte handelt, von einem Abschied nehmenden Vater. Doch dieses Werk ist in vielerlei Beziehung ganz anders und beglückt die Leser*innen durchaus in der Enttäuschung dieser falschen Erwartungen. Überraschenderweise ist das Werk erst nach fünf Jahren ins Deutsche übersetzt worden, obwohl die Autorin in Frankreich bereits 2020 mit dem Publikumspreis Prix Livre Inter ausgezeichnet wurde.
Kurz auf den Punkt gebracht, handelt es sich bei dem Werk um die chronologisch kurze, sprachliche knappe und räumlich begrenzte Beschreibung eines Vatertods und dessen Folgen. Und das, was im Vorfeld, im Umfeld und als Reaktion darauf geschieht, versucht die Tochter so schnell wie möglich auf den Punkt zu bringen: Bevor ich es vergesse. Die Erzählerin zeigt sich das gesamte Werk über mit Räumen der Trauer und des Abschieds beschäftigt, den Vater im Krankenhaus zu besuchen, nach dessen Tod in der Leichenhalle, dazu die Habseligkeiten des Vaters mit ihrem Bruder Jean-Francois zusammenzusuchen (äußerst detailliert beschrieben), die Beerdigung durch den Pfarrer, die Musik, die Texte etc. zu organisieren und diese schließlich mitzugestalten. In kleinen Beschreibungen bringt sie den Abschiedprozess auf den Punkt: „Ich habe auch gut zwei Stunden damit zugebracht, die Geräusche des Hauses mit der Diktierfunktion meines Handys aufzunehmen, aus Angst, sie nie wieder zu hören.“
Die Autorin, die das so beschreibt, heißt im Roman wirklich Anne Pauly. Das Werk ist trotz allem mit Roman überschrieben. obwohl auch der Vater Jean-Pierre Pauly heißt. Im Großen und Ganzen geht es um ein Abschiednehmen im Sinne des Totengedenkens (an den Vater) und Trauerns der beiden Kinder, insbesondere der Tochter, um einen Vater, der in seinem Leben, um es euphemistisch zu sagen, sehr zwiespältige Spuren hinterlassen hat. Das Werk stellt eine Art Requiem vor, wenn man so will: „In dem müden Körper, unter der weichen, schuppigen Haut, steckte auch noch ein wenig Stolz (…).“
Das Werk ist der Debütroman einer sprachmächtigen Autorin. Was an dem relativ schmalen Werk (173 Seiten) besonders auffällt, ist seine sprachliche Tendenz zu Verben, zur Beschreibung von „Aktionen“ ohne Aktionismus, ohne dabei aber in eine zu wenig poetische Sprache zu verfallen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das Werk strahlt eine große Poesie aus, „Güte und Poesie“ könnte man mit Cyprian Kamil Norwid sagen, die die Autorin in Bezug auf ihren Vater entwickelt, eine „Poesie der bescheidenen Dinge“, die er ihr selbst vermittelt hat. Ergreifend in ihrer ganzen Nüchternheit wird etwa die Szene seines Todes erzählt, dem die Tochter beiwohnt: „In dem Moment habe ich seine Augen gesehen und begriffen, dass er tot war, aber mein Hirn hat die Information verweigert.“ Diese Art einer „Betroffenheitsprosa“ wird von der Autorin aber immer wieder durch (tragi-) situationskomische Darstellungen wie der Szene bei der Predigt der Beerdigungszeremonie mit der Beschreibung des Priesters konterkariert:
André dagegen hat sich in einen Sessel gesetzt und die Augen geschlossen. Fünf Minuten später hatte er sich noch immer nicht gerührt. Wir machten uns langsam Sorgen. Ein paar Leute begannen zu hüsteln, während Freddys Gesicht verrutschte. Eugénie fand die Lösung, indem sie auf die Tastatur ein paar kämpferische Akkorde anschlug. André ist erschrocken aufgesprungen und hat geschrien: Gepriesen sei das Wort Gottes.
Wie geht die Autorin nun im Vergleich zu großen Vorbildern oder anderen Autor*innen vor, die sich vor ihr der Thematik ebenfalls angenommen haben wie etwa Annie Ernaux? Letztere charakterisiert dieses Werk von Anne Pauly wie folgt: „Anne Pauly erzählt von einem Leben, das fortgeflogen ist wie ein Vogel.“
Es finden sich im Werk einige, zum Teil vom Vater stammende, sehr beziehungsreiche Zitate wie „die Reusen auswerfen“, oder die Beschreibung der Empfindung, „mit einer Pinzette den Ozean zu leeren“, was an die Legende des Heiligen Augustinus und dem Knaben am Meer und dem Bild von Sandro Botticelli von 1487 erinnert, der mit einem Löffel das Meer auslöffeln möchte. Damit verbunden wird die Beschreibung der Beziehung des Vaters zur Familie, die in der Provinz lebt, und zur Autorin, die in Paris lebt. Das markiert die Distanz von Großstadt Paris und Provinz, der Kleinstadt Poissy, „einer der vielen Provinzorte in der Nähe von Paris“. An manchen Stellen lässt sich bei der Vater-Tochter-Beziehung an den Film von Bertrand Tavernier Ein Sonntag auf dem Lande denken. Darüber hinaus wird sich im Werk immer wieder auf Filme und Songs bezogen.
Als eine weitere Figur fungiert der Bruder, der selbst im Abschiednehmen keine engere Beziehung zu dem Vater aufbauen und sich mit ihm auch nicht versöhnen kann: „Schon komisch, dass ich nichts empfinde außer Wut.“ Zugleich fordert an solchen Tagen die Alltäglichkeit stärker als sonst ihren Tribut: „Der Tag neigte sich dem Ende zu. Das Leben, ebenso hässlich wie komisch, folgte seinem gewohnten Gang, an einem Abend im September auf dem Rathausplatz in Carriereres-sous-Poissy.“
Dieser Vater war eine äußerst kontroverse Person, der seine Familie, sich dessen durchaus bewusst, in eine Art „Bürgerkrieg“ verwickelte. Dieser zwiespältige wie unbezwingbare Mann stammte aus einfachen Verhältnissen, war ein Autodidakt, ein Punk, interessierte sich für orientalische Philosophie, soweit so gut, aber zugleich war er ein Alkoholiker und gewalttätig, sodass er seine ganze Familie in einer Art von Wiederholungszwang, wie er es selbst in seiner Familie erlebt hatte, so tyrannisierte, dass er auch schon mal mit einem Messer „sturzbetrunken hinter der Mutter Françoise, einer gütigen, unglaublich liebevollen Frau, herlief“. Deshalb fällt es Leser*innen auch schwer, am Ende im Werk eine wirkliche Versöhnung zu erkennen als eher den Versuch einer Versöhnung. Dazu ist vorher zuviel Porzellan zerschlagen worden und die Tochter selbst in diese Situationen existentiell geworfen worden:
Euch würde ich gerne sehen, wie ihr im Hagel von Beleidigungen und Drohungen, die Kraft findet, mit euren Kindern zum Bahnhof zu laufen, um in einen Zug zu steigen, ohne zu wissen, ob und zu welchen Bedingungen es je ein Zurück geben wird.
Zudem geschieht diese Art von versuchter Versöhnung erst durch Einfluss von außerhalb, als ein Brief einer Jugendfreundin des Vaters Juliette eintrifft, die die Erzählerin nach dessen Tod kontaktiert, weil ihr der Vater kurz vor dem Tod von ihr erzählt hat, und wovon sich herausstellt, dass er die Geschichte ganz anders als die Freundin erlebt hat.
Dieser briefliche Kontakt (die Briefe sind kursiv gesetzt) erlaubt es der Protagonistin und Erzählerin, ihre ambivalente Haltung zum Vater, auf eine versöhnliche Weise für sich selbst auszudrücken. Diese Ambivalenz bringt die Autorin in Sätzen wie dem folgenden meisterhaft zum Ausdruck:
Es war ein Spiel zwischen uns, ein Mechanismus aus einer anderen Zeit, dem ich nicht entrinnen konnte. Er drängte und drängte, und ich gab nach, erst unter Protest, dann mit einer ganz und gar katholischen Selbstverleugnung. Aber es endete stets damit, dass ich diesen so verletzlichen Körper, dessen Unberechenbarkeit und Brutalität ich so lange gefürchtet hatte, umarmte, küsste und pflegte.
Aufgrund der Art, wie der Vater gelebt hat, hegt die Autorin aber auch die Befürchtung, dass niemand zur Beerdigung kommen würde, „dass sein armes Leben nichts gebracht und keinen gekümmert hatte“. Immer wieder taucht in diesem Zusammenhang das Motiv von dunklen Wolken auf, die sich allerdings mit der Entwicklung, sich in das Unvermeidliche zu fügen, gegen Ende des Werks immer mehr verflüchtigen. Was der Tochter am schwersten fällt, ist auf die Stimme des Vaters und die damit verbundenen Gespräche zu verzichten: „Was ich schließlich am schwersten fand, das war, ihn gar nicht mehr sprechen, nichts mehr von ihm zu hören. Am Anfang schaute ich immer wieder unwillkürlich auf mein Handy, um zu checken, ob er mich nicht angerufen hatte, aber nein.“
Auch die Zeremonie der eigentlichen Beerdigung wird zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, wozu es kein Muster gibt und weshalb sich die Teilnehmenden kaum angemessen zu verhalten wissen. Noch virulenter wird dies bei dem „kleinen Imbiss danach“: „Tatsächlich bildeten Freunde und Bekannte kleine, seltsam angeregte Gespräche, die nichts mit dem Anlass zu tun hatten (…). „Zudem werden die „Zombies“, die ihn ins Grab hinablassen, in Anklang an eine Gruselgeschichte erwähnt.
Anne Paulys Abschied von ihrem Vater ist ein lesenswertes Buch, weil es auf sprachlich differenzierte Art und Weise, die Ambivalenzen aufzeigt, die bei der Sterbebegleitung eines nahen Menschen und der Trauer über einen sterbenden Vater auftreten können.
Damit gehört das Werk in eine Reihe von Büchern wie das auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stehende Werk von Dana von Suffrin Nochmal von vorne oder Alte Eltern von Oliver Kitz, was im Sinne eines literarischen Essays, hier eher eines essayhaften Romans, Gefühle und Gedanken beim Hinscheiden deutlich macht. Wenn es bei der Sterbebegleitung darauf ankommt, wie vielfach immer wieder behauptet wird, sich mit anderen Menschen zu verbinden und deren Erfahrungen beim Sterben eines Angehörigen mit in die eigenen Empfindungen einzubeziehen, dann hat die Autorin dies mit ihrem Werk vollumfänglich geleistet. Die einzige Einschränkung, die evtl. zu machen wäre, ist, dass die Beschreibung des Abschieds- und Trauerprozess so viel Raum einnimmt, dass andere essentielle Aspekte wie das berufliche Leben der Autorin in einer nicht näher spezifizierten Presse-Agentur, wo ihre untergeordnete Aufgabe darin besteht, „Artikel über Familiendramen oder mysteriöse Verschwinden zu redigieren“, nur in Bezug auf eine Befreiung von der Arbeit beim Tod des Vaters erwähnt wird, und auch ihre Beziehung zu ihrer Partnerin Félicie und zu den Freunden, wie dem in jeder Situation das richtige Wort findende David, etwas zu kurz kommt. Aber dieser besondere Fokus war von der Autorin wohl bewusst intendiert.
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