„Community sense“ – Hannah Arendts politische Ästhetik

Jennifer Pavlik untersucht die „Ausbildung einer ästhetischen (Denk-)Haltung“ in Arendts Werk

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der philosophische Beitrag, den Hannah Arendt zum politischen Denken geliefert hat, ist höchst originell. Man ist versucht, zu sagen, er sei in seiner Originalität beispiellos, denn Hannah Arendt weigert sich, die im Verlauf der gesamten westlichen Tradition anerkannte Auffassung von Politik zu übernehmen.“ Mit diesem Statement Hans Morgenthaus von 1979 rahmt Pavlik ihre Dissertation, die ein um Verstehenskunst bemühter Nachvollzug der Arendtschen Denkbewegung ist. Neben der von Morgenthau benannten Exzeptionalität kommt aber auch die Nähe zur Phänomenologie – eher implizit im Deutungsverfahren – zum Ausdruck, wie sie auch in Sarah Bakewells beeindruckender Integration Arendts in den philosophiegeschichtlichen Kontext auf quellenkritisch elaborierte Weise aktuell vorliegt (At the Existentialist Café. Freedom, Being and Apricot Cocktails, London 2016) und den produktiven Austausch mit Karl Jaspers, nicht nur über Kant, fokussiert. Was Bakewell im Konkreten ausführlich als gemeinsames Arbeiten der existentialistischen Autorinnen und Autoren an philosophisch-politischen Fragen der Zeit und faszinierenden Beleg einer Praxis intensiven Austausches beschreibt, bringt die englische Autorin aber nicht auf den philosophischen Begriff, den „Gemeinsinn“. Diesem wichtigen Leitwort, das gerade für unsere Zeit als politische Ästhetik auszubuchstabieren ist, widmet sich Pavlik, und die Relevanz ihres Anliegens ist nicht zu überschätzen.

Dass Hannah Arendt in ihrem Nachlasswerk Das Urteilen eine politische Philosophie Kants in der Kritik der Urteilskraft entdeckt, findet im Augenblick ein hohes Interesse der Forschung. Denn der bisherige Ansatz politischer Philosophie erscheint obsolet; der Kern, das Politische als Lebensform, ist mit Hannah Arendt wiederzugewinnen. Gerade der scheinbare Umweg über die Ästhetik bietet den notwendigen Freiraum, von heutigen Problemen einer zum System erstarrten Demokratie das Augenmerk auf den Ursprung, den Sinn, die anthropologische Basis des freiheitlichen Miteinanderlebens in einem Gemeinwesen zu lenken. Warum will und soll ich als Einzelner mich der Welt und Anderen in dieser Welt zuwenden, sie nicht als Bedrohung meiner Eigeninteressen ansehen, sondern als Ermöglichung eines Lebensraums? Die Überwindung des Begriffes „Interesse“ als egoistischer Profit im Gegeneinander und in der Abgrenzung stellt somit eine erste große Herausforderung an die politische Philosophie dar. Durch die paradoxe Formulierung des „uninteressierten Weltinteresses“ will Arendt in ihrem Aufsatz Kultur und Politik (englisch The Crisis of Culture) 1958 eine dritte Möglichkeit gewinnen, die die Welt weder nur als „das sinnliche Leben“ noch als „das moralische Selbst“ begreift, also nicht mit „reiner“ oder „praktischer Vernunft“, sondern mit „Geschmack“ im Sinne der Kritik der Urteilskraft. Dadurch soll die Welt „aussehen und ertönen“ und „sich ansehen und anhören“, dadurch vermeidet Kunst Gewalt und Zwang durch Funktionszusammenhänge und Verobjektivierungen. Arendt deutet Kants Begriffe „Gemeinschaft“, „Geselligkeit“ und „Gemeinsinn“ durch die Formulierung „community sense“, die Pavlik im Nachlass entdeckt; dies ist hilfreich für die Wiedergewinnung der Lebensform des Politischen: der öffentliche Platz der Pluralität als „Zwischenraum“, „Freiraum“ an Stelle eines oberflächlichen, soziologisch-deskriptiv-statischen Begriffs von „Gesellschaft“.

Aber was heißt der Untertitel der Dissertation, Ausbildung einer ästhetischen (Denk-)Haltung? Ist das Attribut „ästhetisch“ im Sinne der griechischen koiné aisthesis identisch mit ‚kulturell‘, ‚narrativ‘, ‚literarisch‘, ‚dichterisch‘‚ ‚textual‘ („Bezugsgewebe“ in Arendts Vita activa), ‚lebenspraktisch‘/‚lebensnah‘ bzw. ‚sinnlich-sichtbar‘, ‚performativ‘, vielleicht auch ‚achtsam-wahrnehmend‘ oder ‚interaktiv-intersubjektiv‘? Innerhalb dieser Offenheit wäre aber eher von einer „Handlung“ im Sinne der „vita activa“ als von einer „Haltung“ zu sprechen, was Pavlik auch andeutet, denn, wenn auch das Produzieren eines Kunstwerkes Herstellen wäre, so ist doch die Rezeption eines Kunstwerks ein Handeln als Sprechen, Mitteilen und Urteilen. Mit Pavlik kann Arendts Nachlass-Schrift Das Urteilen parallel zu Kants Kritik der Urteilskraft gelesen werden, andere Schriften der Philosophin und des Philosophen werden geschickt und kenntnisreich zugeordnet. Rahmend ist Arendts Ausdeutung der drei Maximen des sensus communis nach Kant: „‚Selbstdenken‘ (die Maxime der Aufklärung), ‚An der Stelle jedes andern denken‘ (die Maxime der ‚erweiterten Denkungsart‘), ‚Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken‘ (die Maxime der Widerspruchsfreiheit).“ Die Erweiterung durch Mitteilung bildet den Schwerpunkt, Mitteilbarkeit bedeutet Öffentlichkeit, Überwindung von Egoismus und Privatheit. Während Sokrates den Marktplatz für seinen Auftritt, die Denk-Vorführung, wählte, ist Kant nach Arendt nicht auf den Marktplatz gegangen, sondern denkt an ein „Lesepublikum“, das unter der Voraussetzung der „Freiheit der Feder“, immer in der Pluralität von Zuschauern, unparteilich-uninteressiert gegenüber den parteilichen Akteuren ist und über das „Weltspektakel“ urteilt. Kant sah sich als „Weltbürger“, worunter er – durchaus zeittypisch – einen „Weltbetrachter“ durch eifrige Lektüre aller möglichen Reiseberichte verstand. Für Arendt ist entsprechend ein aktives Lesen vergleichbar der Teilhabe am ‚In-Erscheinung-Treten‘ und eine ‚Vorstellung-Geben‘ in Sokrates‘ Reden bei der Festgesellschaft des Symposion. Bei Arendt ist allerdings der Vergleich von Sokrates mit einem Flötenspieler nicht, wie in Alkibiades‘ Rede, auf das Schicksal des Marsyas oder die Gewalt von Häutungserfahrungen der ihm Zuhörenden bezogen, sondern auf die Macht der gemeinschaftlichen Erkenntnis.

Im Unterschied zu diesem sokratischen Denken ist das, was die „große Unparteiischkeit Homers“ sein soll, als die von Arendt entdeckte „enge Verbundenheit […] zwischen dem Politischen und dem Homerischen“, bei Pavlik weniger im Fokus. Das ist bedauerlich, weil nur so die aus dem Nachlass rekonstruierte Schrift Was ist Politik? zu verstehen ist, die die Lebensform des Politischseins erläutert, durch klare Bezüge auf die homerischen Epen Ilias und Odyssee. Deren Deutung sollte nach Arendt „die Grundlage“ sein „für eine Auffassung von Politischer Wissenschaft, die das Besondere (Geschichten, historische Beispiele) und nicht Universalien (den Begriff des historischen Prozesses, allgemeine Gesetze der Geschichte) in den Mittelpunkt stellt.“ Der bei Pavlik gewählte Begriff „Ausbildung“ findet damit auch nicht die Präzisierung im eigentlich intendierten Begriff der „Bildung“, speziell der nicht nur durch die Arbeiten von René Torkler mit Arendt hochaktuell verhandelbaren „politischen Bildung“, die notwendige Voraussetzung der Urteilskraft ist. Auch besteht die Notwendigkeit einer genaueren Abgrenzung von „Erziehung“, wie Arendt sie fordert. Die sich wiederholende Formel von der „Pluralität und Alterität“ als Ort der Gewinnung von Urteilen muss im Einzelnen gefüllt werden.

Verdienstvoll ist Pavliks Anliegen, in einem „Überblick über den Forschungsstand“ recht unbekannte Beiträge aufzugreifen, aber Pavliks Kritik an diesen hinsichtlich begrifflicher Unschärfe trifft auch sie selber, z. B. wenn sie in Bezug auf Bhikhu Parekhs Monographie von 1981 feststellt, dass die Definition von Politik als „aesthetic activity“ diese nur pragmatisch als ‚ökologisch‘, ‚architekturplanerisch‘ und ‚nachhaltig‘ auffasst. Auch die Kritik an Irina Spiegels Dissertation von 2011 ist gleichsam eine gegen Pavlik selbst zu wendende, wenn Pavlik das Attribut „poetisch-kreativ“ als Kennzeichen des Arendtschen Urteilskraft nach Spiegel in „poetologisch“ wendet. Es fehlen die literarischen Beispiele. In Homers Epen wären sie aber mit Arendt zu finden.

Dennoch ist Pavliks eingehender Nachvollzug der Arendtschen Besonderheit des politischen Denkens immer wieder erschließend, wenn die Dissertation Begriffe klärt. Der Begriff „Freiheit“ weist nach Arendt weniger auf ein inneres Vermögen von Willens- oder Wahlfreiheit, sondern Bewegungsfreiheit, um in der „Volksversammlung“, im öffentlichen Raum echten Austausch statt Schlagabtausch fixer Interessen zu pflegen. Freiheit ist „Macht“ und nicht „Gewalt“, „nicht auf der Suche nach [ewiger, tyrannischer] Wahrheit, sondern nach [phänomenologischem, präsentischem, dialogischem, publikem] Sinn“ (nach Arendts Vom Leben des Geistes), ohne „Zwangscharakter des Logos“ (nach Arendts Essay Hermann Broch), ist Bürgersinn und ‚Weltbildung‘ durch praktische „Beziehungen“ im „Miteinander der Menschen“ und darin unabhängig von apriorischen Vorgaben („nicht die Zehn Gebote Gottes oder die Stimme des Gewissens oder das Licht der Vernunft“, nach Arendts Vom Leben des Geistes).

Wie wird Freiheit gewonnen, im Kampf der Waffen oder der Worte? Ausgehend von Kants Lösung der Antinomien des Geschmacks, der Deutung der Redensart: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“, fragt Pavlik zu Recht nach der Lösung der Forschungskontroverse um Arendts Auffassung des „Agon“: Ist es der blutige Kampf im Krieg oder sportliche Rhetorik in der „Agora“-Kommunikation in der Politik? „Agon“ kennzeichnet in Arendts Gewaltkritik eindeutig den Pol des Lebensfeindlichen, der stummen Gewalt, die sprachlose Ohnmacht erzeugt, während der Gegenpol die Macht des befreienden Wortes im Gesprächsraum der Pluralität ist. Veranschaulicht wird die Bipolarität, nicht aber metaphorisch überzogen benannte ‚Agonalität‘, am Beispiel des Trojanischen Krieges (Arendt, Was ist Politik?), auf dessen historischer Kontrastfolie Homer erzählt bzw. den Kriegsexilanten Odysseus am Hof der Phäaken erzählen lässt. Grundsätzlich betont Arendt mit Kant, dass das menschliche Handeln unter dem Vorbehalt einer Unabsehbarkeit steht und deshalb durch die Kunst, z. B. das Erzählen in einer Gemeinschaft, von der Unvollkommenheit und der Unvollendbarkeit erlöst wird. Dies geschieht am Erscheinungsort des öffentlichen Raums, der den Künstler als Schauspieler und die Zuschauer zusammenschließt, und der wiederum aktual und deshalb endlich ist. Homers Literatur ist also nicht einfach ewig, im Unterschied zum endlichen Trojanischen Krieg, über den er dichtet, sondern an die Aufführung und Rezeption einer Deutungsgemeinschaft mit immer wieder abgerissenem „Faden der Tradition“ gebunden, um das „Band der Menschheit“ zu stiften (nach Arendts Denktagebuch-Formulierung). Über diese Verstehensleistung kann man trefflich streiten, hier aber den Begriff des Agonalen zu wählen, erscheint vermessen, denn es ist „liebender Streit“ (Hölderlin), Dialektik, Redewettstreit, aber auch Kunstwettstreit (im Sinne der Musen), lebensorientierte Auseinandersetzung und keine Gewalt oder Aggression. Es ist aber auch mehr als eine „Haltung“, es ist „Handeln“ im Sinne der „vita activa“. Die Urteilskraft ist darin, nach Kants Differenzierung, nicht „bestimmend“, apriori, ein Besonderes unter ein Allgemeines subsumierend, sondern „reflektierend“, ein Besonderes würdigend, für das es keinen vorgegebenen Maßstab, keine Regel, kein Allgemeines gibt, deshalb über Kant hinausgehend aposteriorisch, historisch-politisch, lebensweltlich. Analog gibt es keinen objektivierbaren archimedischen Punkt als distanzierte Position außerhalb des engen Kampfplatzes für den Agon zweier Krieger, sondern nur den offenen, weiten und sich stets immer weiter öffnenden Platz der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Involviertsein aller in Multiperspektivität.

Wie aber Denken grundsätzlich sprachlich in allen Dimensionen des Dialogischen, Metaphorischen und deshalb auch Dichterischen funktioniert, können nur Untersuchungen klären, die über Zitate hinausgehen. Was ist der politische Gesprächsraum nach Homer oder auch Hölderlin, um das Dichten als „An-Denken“, Gedichte als „Denkmal“-Weltkonstituierung in sprachlichem Austausch, dem einzig möglichen „Heimatgefühl“ nach Arendts Gaus-Interview, zu erfassen? Einerseits dienen Gespräche über Literatur der Kultur- und Lebenskritik und sind als historische Möglichkeiten zu rekonstruieren, Shaftesburys freundschaftliche Gesprächsrunden, Kants Mittagstisch. Arendt interpretiert mit ihrem ersten Ehemann Günther Anders-Stern Rilkes Gedichte, diskutiert mit Heidegger direkt zu Beginn ihrer Beziehung über den gerade erschienenen Zeitroman Der Zauberberg Thomas Manns, dann lebenslang über Hölderlins kulturpolitische Texte. Zu Arendts „tribe“ in ihrem gastfreundlichen „living room“ in New York gehört der Dichter Robert Lowell, der Gedichte wie Gastgeschenke bei den Treffen zum Gesprächsgegenstand macht, Freunde besonderer Art sind auch W. H. Auden, Hermann Broch und Uwe Johnson. Andererseits ist für unsere Zeit zu fragen, wie formalisierte Rituale wie Neujahrsempfänge der Kommunen oder Parteien zur Revision und kritischen Reflexion der Zukunftsprojekte und Planungsprioritäten durch Kunstbeiträge belebt werden können und dabei z. B. Bürgerforen zur Gestaltung von Innenstädten über Konsumgelegenheiten hinaus mit Kunstideen zu initiieren sind, z. B. eine Architektur des öffentlichen Raumes mit Kommunikationsgelegenheiten wie Künstlercafés. Denn hierin liegt der komplexe Begriff der „Welt“ bei Arendt, in der wirkmächtigen Formel der „amor mundi“, aber mit Kant durchaus zu konkretisieren unter der Metapher des „Platzes“, Kant-Zitate, die Arendt ausdeutet: „Die Welt ist schön und daher für den Menschen ein geeigneter Platz“, der Standpunkt als „Platz“ sollte erweiterbar und damit unparteilich sein, um „über menschliche Angelegenheiten nachdenken“ zu können, denn die Welt ist eine Erdkugel mit gemeinsamer Oberfläche, so „daß die Rechtsverletzung an einem Platze der Erde an allen gefühlt wird“. Über Denkmäler ist deshalb mit breiter Bürgerbeteiligung kunstpolitisch zu diskutieren: Ist es möglich, neben die historistische Wiedererrichtung antikisierender Kolonnaden, als Symbol der Stabilität des öffentlichen Raumes auch in der Demokratie, etwas Anderes, Dynamisches zu stellen, z.B. das Freiheits- und Einheits-Denkmal „Bürger in Bewegung“. Auf dem Sockel des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmals auf der Schlossfreiheit am Berliner Schloss liegt eine Schale oder Waage, die sich bewegt, wenn sich mindestens 30 Bürgerinnen und Bürger auf ihr in eine Richtung bewegen. Ob die Rezipienten in ihren Bewegungen das Kunstwerk gemeinsam gestalten oder verunstalten werden, ist offen. Die Ausbildung ästhetischer Haltungen und Handlungen des „community sense“ steht aus.

Weiterführende Literatur

Maria Behre: „Vom Krieg zur Kunst – vom Agon zur Agora. Homers ‚Odyssee‘ als philosophischer Text für die Jugend nach Hannah Arendt und Michael Köhlmeier“. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 38 (2016), Heft 1: „Jugendliteratur“, S. 74-87.

Maria Behre: „GIVE US A PLACE“ – Politischwerden auf dem Oranienplatz. Jenny Erpenbecks Roman ‚Gehen, ging, gegangen‘ als Narrativ zu Hannah Arendts politischer Philosophie“, In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 39 (2017), Heft 1: „Hannah Arendt“, S. 58-65.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jennifer Pavlik: „Uninteressiertes Weltinteresse“. Über die Ausbildung einer ästhetischen (Denk-)Haltung im Werk Hannah Arendts.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
203 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783770558629

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