Pein und Zeit
Fünf geschichtsphilosophische Fragmente aus Georgien
Von Luka Nakhutsrishvili
1. Von der verfehlten Rettungsaktion der Swetlana Alexijewitsch
Im September 2017 besuchte die weißrussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch die georgische Hauptstadt. Kurz davor war die georgische Übersetzung ihres dokumentarischen Romans Secondhand-Zeit über das Nachleben des sogenannten homo sovieticus erschienen.[1] Während eines der Treffen mit der georgischen Leserschaft, in dem der mit der Schriftstellerin gemeinsame geschichtliche Erfahrungsraum ausdrücklich absteckt werden sollte, erinnerte man sie daran, sie habe ihrem Tschernobyl-Buch ein Zitat des sowjetgeorgischen Philosophen Merab Mamardaschwili vorangestellt. Darauf antwortete Alexijewitsch, Mamardaschwili sei ihr Lieblingsphilosoph, denn niemand könne uns – d.h. den Menschen, die aus der sowjetischen Unfreiheit herkämen – besser belehren, wie heute Freiheit zu lernen sei.
Galt doch Mamardaschwili (1930-1990) als der ‚georgische Sokrates‘, der „den einzigartigen Versuch [unternahm], für die sowjetische Erfahrung, die er als eine ‚anthropologische Katastrophe‘ ansah, eine philosophische Sprache zu finden“.[2] Angesichts des erstarrten Dogmas der marxistisch-leninistischen Staatsphilosophie gestaltete er seine legendären Vorlesungen aus den 1980er Jahren zu Orten der Schöpfung ex nihilo des philosophischen Gedankens (und blieb doch bei all seiner Selbstinszenierung als nonkonformistische Ritter des Denkens zutiefst von der offiziellen „philosophischen Kultur“ des Sowjetsystems geprägt). Freiheit bedeutete in diesem Kontext so viel wie die ständige Suche nach Formen sowohl für die eigene Existenz als auch für das gesellschaftliche Zusammensein, wobei diese Formen nur dann als lebendig gelten durften, wenn sie von der jeweils individuellen Anstrengung, Denkakte zu vollziehen, getragen wurden.[3]
Wenn nun Alexijewitsch in einem russischsprachigen Interview behauptet, nach dem Fall der Sowjetunion seien ‚wir‘ aus der eigenen Geschichte in die ‚allgemeine Weltzeit‘ hinausgeworfen worden, recycelt sie wiederum nur den Spruch Mamardaschwilis, während den siebzig Jahren der Sowjetunion habe man in einem komatösen Zustand gelegen, aus dem man zu erwachen lernen müsse. Woraus man erwacht, besagt aber noch lange nicht, worein man erwacht. Kommt es im Prozess des Erwachens zu einer allmählichen Wiederherstellung des heimlichen Raumes, wie am Eingang des Romanzyklus von Proust, dem literarischem Liebling Mamardaschwilis und dem Gegenstand der berühmtesten seiner Vorlesungen, oder schließt sich ein noch nie dagewesener Horizont auf? Genauso wie Mamardaschwili nicht nur für eine enge georgische Erfahrung zu sprechen prätendiert, könnte uns das literarische Verfahren Alexijewitschs Anhaltspunkte für das Verständnis der zeitgenössischen ‚geistesgeschichtlichen Lage’ Georgiens bieten, die gänzlich auf sein (Un)Verhältnis zur Sowjetvergangenheit fußt.
Mit ehrfurchtsgebietender Gewissenhaftigkeit zeichnet Alexijewitsch die Stimmen der Menschen auf, deren Leben unwiederbringlich beschädigt worden ist durch den schockartigen Umsturz, der sie fast über Nacht aus einem sozialistischen System in die wildeste Art der Marktwirtschaft hinüberkatapultierte. Je mehr Meisterschaft einer Dokumentalistin Alexijewitsch bei der Montage ihres Materials aufbringt, umso eindringlicher wirken diese klagenden Stimmen. Um dieser Menschen willen selbst meint sie darauf verzichten zu können, ihre Erzählungen nochmals in ein starkes teleologisches Geschichtsschema einzubetten. Müde wie sie ist von so vielen die Individuen überfahrenden ‚großen Narrativen‘ und opferverlangenden Menschheitsprojekten, soll ohne aufgezwungene Interpretationen die jeweils einmalige Leiderfahrung zur Sprache gebracht werden. So behauptet Alexijewitsch in einer der wenigen Passagen, wo sie sich in eigener Person meldet, in ihrer Arbeit „ein nüchterner Historiker“[4] bleiben zu wollen und ruft die Zeit als einzige Richterin für die vielen Schicksäle an, von denen sie unparteiisch Zeugnis abzulegen meint.
Alexijewitschs Einstellung gegenüber den Entwicklungen im postsowjetischen Raum ist alles andere als positiv. Aber die vermeintliche Objektivität und Kälte der Historikerin, der angebliche Verzicht auf jegliche starke Geschichtsteleologie, wodurch sie sich in die Sowjetmenschen einzufühlen sucht, macht ihre Einfühlung, wie in Walter Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte, zwangsweise zu einer in die Perspektive der Sieger. Die Zeit, die dann Alexijewitsch in ihrem Verfahren trotz aller emphatischer Weigerung dennoch mitkonstruiert, entpuppt sich als die ‚allgemeine Weltzeit‘ des siegreichen kapitalistischen Westens, die im Vornherein als Vorgabe hereingeschmuggelt und normalisiert worden ist. Vor diesem temporalen Hintergrund werden die Redenden zu passiven Opfern, zu Instanzen einer ungelungenen ‚Transition‘ in die (westliche) ‚Normalität‘. Wie die Personen des Danteschen Inferno, scheinen sie in ihrer je eigenen Vergangenheit „versteinert“ (Hegel) zu sein; ewig dazu verdammt, secondhand, gestrig zu sein. Über ihre Vergangenheit dürfen sie der Fragenden alles Mögliche erzählen. Nie richtet aber Alexijewitsch an sie die Frage: was tun? Für halbtote Überbleibsel aus der Vergangenheit kennt das Tempus der Grammatik, die ihnen mit humanitärer Großzügigkeit zur Verfügung gestellt wurde, kein Futurum, das sie ersthändig mitgestalten können würden.
Umso symptomatischer ist es dann, dass gerade dort, wo einer ihrer Befragten versucht, die Bereitschaft zu Selbstaufopferung und Gewalt um des Aufbaus einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft willen nachdrücklich zu rechtfertigen, die Autorin sich abermals verpflichtet fühlt, ausnahmsweise sich selbst in den Text einzubringen: „Ich sage ihm, dass ich das niemals verstehen werde. Er explodiert.“[5] Der Redende wird im entscheidenden Moment im Stich gelassen. Seine Rede, wie auch immer gewissenhaft überliefert, wird zum Wahnanfall eines Geisteskranken. Und ihre ‚nüchterne‘ Selbstabgrenzung von einem ‚irrationalen‘, ‚utopischen‘, aufopferungsbereiten Idealismus wird zur Attitüde, zur Binsenweisheit. Ihr empörtes ‚Nicht-Verstehen‘ angesichts von so viel Gewalt und Gewaltbereitschaft, mündet letzten Endes in die blanke Anpassung an das ohnehin besiegelte Ende der Geschichte.
Bei ihrer ausdrücklichen Suche nach einer Sprache, die die sowjetische Erfahrung sagbar, verstehbar, machen würde, wird Alexijewitschs genial durchgeführter Zugriff auf das dokumentarische Fragment zu einem Instrument, das wegen der Kapitulation vor der Zeit der Sieger den Fall der Sowjetunion und die darauffolgende ‚Transition in die Normalität‘ wie eine Naturkatastrophe erscheinen lässt, vor dessen elementarischer Gewalt die jeweilige gescheiterte ‚Sowjetexistenz‘ hilflos nach Sinn ringt. Hier wird offensichtlich, dass Alexijewitschs Konformismus nicht minder zeitlich als sprachlich ist. Bleiben doch ihre Befragten letztendlich mehr oder weniger exotische, teilweise nostalgische Exponate, die eigentlich im Vorfeld für das westliche lesende Auge bestellt worden sind. Nichts bleibt wirklich unverständlich, denn die Zeit des westlichen Lesers, innerhalb deren Koordinatensystems sich Alexijewitschs Syntax entfaltet, bleibt als Achse unangefochten, sei es im russischen Original oder den georgischen und deutschen Übersetzungen. Sogar der Wutanfall des entwaffneten Besiegten kann mitgefühlvolles Verständnis erwecken, solange er hinter dem Zoogitter isoliert bleibt.
2. Die georgische Chronik der Nino Haratischwili
Im Rahmen der diesjährigen Tbilisser Theaterfestspiele präsentierte sich am 23. September das Thalia-Theater mit seiner 5-stundenlangen Bühnenfassung von Nino Haratischwilis 1300-seitigem Bestseller Das achte Leben (Für Brilka).[6] Mit einem Publikum im Saal, das auch in Tbilissi fast zur Hälfte aus Deutschsprachigen bestand, und einem Set äußerst suggestiver Bühnenbilder auf der Szene, die mehr orientalisierendes und anti-kommunistisches Lokalkolorit aufboten, als der Vorlageroman selbst, legte diese Bühnenfassung sämtliche im Roman angelegten Probleme bloß. Gerade die wagnerianischen Ausmaße der Theatervorstellung reduzierten die 1300 Seiten des Romans auf das nötige Minimum: viele Dialoge und das oft ziemlich monotone sprachliche Repertoire wurden auf wie auch immer überdehnte Pantomimen verkürzt und bis zum Überdruss von musikalischen Nummern begleitet. Das Verfahren ließ auf jeden Fall nichts vermissen, was beim Transfer des Werks aus dem literarischen ins theatralische Medium hätte verlorengehen können (bzw. müssen).
Das Stück folgt derselben rein chronologischen Reihenfolge, die im Roman die Figuren und Geschehnisse ein ganzes Jahrhundert georgischer Geschichte hindurch ohne jeglichen wirklichen Kausalzusammenhang einer wie selbständig dahinfließenden ‚homogenen und leeren Zeit‘ (Benjamin) überlässt. Trotz Nizas Manövers einer retrospektiven Suche nach der verlorenen Zeit, die alle Figuren und Epochen auf einer reflexiven Ebene auffangen und vereinigen sollte, kommt es nicht zu einem zeitschöpferischen Eingedenken. Es bleibt bei einer passiven Hingabe an die chronologische Abfolge, in der Alle – vom Zeitalter des Russischen Zarenreichs über die Sowjetisierung Georgiens, des darauffolgenden Stalinismus, des Spätsozialismus bis zur georgischen Unabhängigkeit und der Rosenrevolution – letztendlich dasselbe heutige Alltagsdeutsch reden und historisch völlig unterbestimmt, von jeglichem historischen Kern entleert bleiben. Besteht doch das eigentlich Historische an einem historischen Roman, wie z.B. Flauberts L’Éducation sentimentale, darin, aus der Beschreibung von Frédérics Liebschaften und Handlungen ersichtlich machen zu lassen, dass in keiner anderen Epoche und in keinem anderen gesellschaftlichen Zusammenhang genauso geliebt und agiert werden könnte. Zeichnet sich zudem mit Frédérics Verwicklung in die revolutionären Ereignisse im Paris des Jahres 1848 ein komplexes Tableau, das die Überschneidung der individuellen Existenz und des großen historischen Geschehens als konkreten Zufall ausmalt, operiert Das achte Leben jedes Mal mit einer Art Sensationalismus, das die entscheidenden Lebensereignisse der Romanfiguren mit den weltgeschichtlichen Ereignissen in einem äußerlichen Parallelismus zusammenbringt. Epochemachende Einschnitte und Umschwünge fungieren nur als fader Hintergrund, die den einzelnen Figuren keine Konturen zu verleihen imstande sind.
Ihr einziger logischer Zusammenhalt besteht dann ausschließlich im naturgeschichtlichen Schema der seifenopernhaft ewigen Wiederkehr von Verlieben, Sex, ungewollten Schwangerschaften, Abtreibungen, Abtreibungsweigerungen und der Zeugung einer Nachkommenschaft, die selber wieder von vorne anfangen wird. Dieser zoologischen Zeugungskette gesellt sich der nicht ganz funktionsträchtige mythische Zauber der heißen Schokolade als generationenübergreifender Schicksalsfaden, die zur (von der Literaturkritik bereits hervorgehobenen) Schwankung zwischen magischem Realismus und historischem Roman beiträgt und die 1300 Seiten historische Epik einer eigentlichen historischen Entwicklungsdynamik entledigt.
In rigidem Gegensatz sollen das Individuum als Träger einer abstrakten Freiheit und das System als absoluter Unterdrückungsapparat sich unvermittelt gegenüberstehen. Was dem Individuum übrigbleibt, ist das im Roman unzählige Male wiederkehrende Topos vom ‚Hinausbrüllen‘-Wollen eines inneren Protests, das in einer ahistorisch verschwommenen und gehaltlosen Affektivität befangen bleibt. Dass auch das wenige, was an historischer Qualifizierung der Geschehnisse geboten wird, leer ausläuft, ist besonders bei der Behandlung der stalinschen, eigentlich ‚totalitären‘ Phase der Sowjetgeschichte zu spüren. Die Frauenversammlungen, wo sie über ihre Rechte aufgeklärt werden, verdienen die Bewertung, das sei „merkwürdigerweise eine Initiative [gewesen], die die Partei unterstützte.“[7] Und wenn im Jahr 1931 an der Tbilisser Oper Bellinis Norma gegeben wird, folgt der Kommentar, man hätte sie „erstaunlicherweise nicht oder noch nicht wegen des religiösen Inhalts verboten“ (S. 168). Dabei hätten doch die harmlosen Druiden dieser Belcanto-Oper, mit ihrem Mondkult als konventionellem Hintergrund für das Liebesdreieck-Sujet, bei weitem nichts vom militanten Atheismus des Sowjetstaates zu fürchten gehabt.
Das Adverb „erstaunlicherweise“ fußt dann nicht auf dem aristotelischen Staunen, das „am Anfang einer Erkenntnis“ (Benjamin) in Sachen Geschichte steht, sondern, wie bei Alexijewitsch, Erkenntnis blockiert. Weniges ist so totalitär wie ein Totalitarismus-Verständnis, dem Alles unverständlich sein muss, was nicht von Vornherein in die Zwangsjacke eines angeblich allumfassenden, nahtlosen Unterdrückungssystems hineinpasst. So erzählt Niza ihrer Nichte, in einem abermals misslungenen Versuch, die Vergangenheit nachzuschaffen, Tante Kitty habe nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges „ihre erste Hauptrolle in einer Studentenaufführung [gespielt]; in meiner Vorstellung war es Antigone. Aber wahrscheinlich war dieses Stück zum damaligen Zeitpunkt verboten“ (S. 359). Sind überhaupt die übermäßig angehäuften Adjektive und Adverbien die eigentlichen Feinde des ganzen Romantexts, so auch hier das Adverb „wahrscheinlich“. Man ist sicher, auf der richtigen Seite zu liegen, wenn man gratis eine Vermutung über die totalitäre Zensurierung eines Theaterstücks hereinwirft (das, in loser Anspielung an Kittys und Andros Situation, vom Verbot handelt, einen zum Staatsverräter erklärten Bruder zu begraben). Es wird lediglich ein Vorurteil bekräftigt, das in der Gegenwart, der unsrigen, aus der Niza über die fragliche vergangene Epoche erzählt, ohnehin die herrschende Binsenweisheit ausmacht.
An historische Konkretion und Dynamik rückt der Roman am nächsten dort, wo er die s.g. ‚dunklen 90er‘ beschreibt, als Georgien nach der Erlangung der Unabhängigkeit in Bürgerkrieg und Anomie versank. Denn, genauso wie in dem Film Die langen hellen Tage, der dieselbe Epoche behandelt, darf sich der Text an die Oberfläche einer Gesellschaft schmiegen, deren Struktur und Zusammenhalt selber Anomie und Chaos gewesen zu sein scheint. Jene bräuchten nicht hinter den unmittelbar wahrnehmbaren Gegebenheiten aufgesucht zu wurden, um den Roman zu einer die vielseitige Realität prozessierenden, vermittelten ‚konkreten Totalität‘ (Lukacs) zu machen. Dennoch bleibt es auch in der gesamten Sequenz vom Fall der Sowjetunion bis zur Saakaschwili-Ära einerseits bei einer zerstreuten Buntheit von Tatsachen und Details, andererseits mangelt es wieder an konkreter historischer Durchdringung der Geschehnisse. Die gesamte Rosenrevolution und die damit angesetzten ultra-neoliberalen Reformen werden lediglich auf die Enttäuschung von rosa Erwartungen reduziert, die ordnungs- und europagesinnte georgische Bürger angesichts von ‚Exzessen‘ staatlicher Gewaltanwendung erlitten hätten. Die Polizeigewalt auf der Demo vom 7. November 2007 verwandelt sich in eine beliebige Variation derselben ahistorischen, immer wiederkehrenden zerstörerischen Kraft, die keinen qualitativen Unterschied kennt zwischen den anderen erzählten gewaltsamen Großereignissen, wie dem 9. April 1989 oder auch den vielen militärischen und paramilitärischen Begebenheiten der darauffolgenden Jahre.
Was dann übrig bleibt, ist eine Gegenüberstellung zweier auf ewig grundverschiedener Welten: auf der einen Seite der östliche Raum, der immer wieder in Aufruhr ist und viel Blut vergießt, ohne dass dort ‚jemals etwas gelernt wird‘ und es jemals zu einer wirklichen Entwicklung kommt; auf der anderen Seite das ‚alte, müde‘ Europa, der „Kontinent der Gleichgültigkeit“ (S. 1205), der im Gegenteil auf der Oberfläche erstarrt zu sein scheint, während er doch wegen nichts anderem so müde ist, als des langen, echten Lern- und Entwicklungsprozesses, den er Jahrhunderte hindurch geleistet haben soll. Es braucht nicht erst Nizas Übersiedlung ins wiedervereinigte Berlin, von wo aus am Ende des Romans die Erzählung in Angriff genommen wird, um zu verstehen, dass eine derartige Konstruktion oder eher: die unbedachte Übernahme festgesetzter räumlicher, geopoetischer Dichotomien nur dann mitgemacht werden kann, wenn man die früher erwähnte ‚allgemeine Weltzeit‘ als Achse bereits adoptiert hat. So wird daraus ein deutschsprachiger Roman für deutschsprachige Leser aus einer ‚westlichen‘ Perspektive. Schon von den ersten Seiten an senden die Ballettschritte der Paris-süchtigen Stasia und die heiße Schokolade als Talismane organischen Europäertums inmitten einer von ‚Asien‘ umzingelten Enklave dem westlichen Leser die nötigen beruhigenden Signale aus, dass er sich hier, wenn nicht auf heimlichem Territorium, so doch in einer nahen und geheueren Peripherie bewegt.
3. Mamardaschwili & Söhne
Im Januar 1988 trat Merab Mamardaschwili auf einem in Paris veranstalteten ‚internationalen Symposium zur europäischen kulturellen Identität‘ mit dem Vortrag Die europäische Verantwortung auf.[8] Obwohl er inmitten des Marxismus-Leninismus jahrelang die Gültigkeit jeglichen festen Standpunktes für die Philosophie bestritten hatte (natürlich mit dem zum Dogma erstarrten ‚proletarischen Standpunkt‘ als erst nur impliziter und später immer offener angegriffener Hauptzielscheibe), fühlte er sich nun keineswegs daran gehindert, den in Paris versammelten europäischen Intellektuellen zu erklären, er als Mann der provinziellen Peripherie nehme gerade dank seines Abstandes von Europa einen „privilegierten Beobachtungspunkt“ ein. Dies erlaube ihm, besser zu erkennen, was das Wesen Europas ausmache (nämlich die bis zum Überdruss betonte unaufhörliche Anstrengung des Menschwerdens), dessen Verständnis doch den Europäern selbst inzwischen abhanden zu kommen drohe, weil es für sie fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden sei.
Man braucht schon lange nicht die Leseart zu teilen, es gehe in diesem Vortrag lediglich um die ‚Idee‘ Europas, die sich mit keinem räumlichen, empirischen Europa decke,[9] um dann in eine Diskussion einzutauchen, ob und inwieweit dieser Diskurs die normative Vorherrschaft des ideellen oder geographischen ‚Westens‘ bekräftigt.[10] Die Szenerie, die uns einen nicht-europäischen Intellektuellen vorstellt, der ins europäische Zentrum reist, um den ‚Kerneuropäern‘ zu predigen, was Europa eigentlich sei, müsste an sich bereits peinlich genug sein, um uns überhaupt davon abzuhalten, uns in eine wie auch immer geartete Begründung der ‚Idee‘ Europas einzulassen. Dass die Peinlichkeit einer solchen Szene nicht wahrgenommen wird, ermöglicht es denn, dass man auch noch dreißig Jahre nach Mamardaschwilis Auftritt selber den Anwalt Europas spielen kann.
Mamardaschwili war tatsächlich auf der Suche nach einem Ausweg aus dem der Verwesung preisgegebenen Spätsozialismus. Nur besteht der äußerst begrenzte historische Wert dieser Suche darin, dass er der sowjetischen ‚Sackgasse‘ eine Alternative entgegenstellte, die auf philosophisch hochtrabendem Umweg lediglich die allergemeinsten Binsenweisheiten des sich auftrumpfenden Thatcherschen Neoliberalismus hereinschmuggelte. Seine 1990 den westlichen Marxisten zugeschleuderte Behauptung, ihre westlichen kapitalistischen Gesellschaften seien doch „einfach nur normale menschliche Gesellschaften“,[11] entleerte denn Europa (diesen angeblichen Ort des unaufhörlichen Menschwerdens) von jeglicher geschichtlicher Gewordenheit. Von der englischen Magna Carta bis zur heutigen ‚Normalität‘ (in der der Staat sich Gott sei Dank nicht zur ‚nanny‘ seiner freien, selbstdenkenden Bürger machte), schmolz Europa zu einer monolithischen Idee zusammen.
Und dennoch ging es ihm nicht um ein Fortschrittsmodell, nach dem der – angeblich nur um der begrifflichen Konvention willen – zum „Osten“, zum „ewigen Naturzustand“ gestempelte kommunistische Raum hätte den „Westen“ mit großer Verspätung einholen müssen. Europa erstarrt zum Schicksal und zur Glückssache. Die Magna Carta ereignete sich; sie ereignet sich seitdem als ständiger Denk- und Kraftakt und so ereignet sich seitdem auch „der Engländer“ (!) im Wahrheits- und Freiheitsfeld der Magna Carta. Zwischen „dem Engländer“ und dem im ‚kindischen‘ Kommunismus steckengebliebenen Sowjetmenschen gibt es keinerlei Möglichkeit zum Brückenschlag. Wie ein geknackter Jackpot müsste uns ein Erkenntniserlebnis befallen, damit auch wir uns auf unseren eigenen Weg der Menschwerdung begeben können. So die „historiosophischen“ Spekulationen Mamardaschwilis in seinem allerletzten Vorlesungs-Zyklus aus dem Jahr 1990.
Dann starb er. Und wäre er nicht gestorben, wäre er vielleicht noch versnobt genug gewesen, um aus rein prinzipiellem Drang nach Non-Konformismus inmitten des Einmarsches der zügellosesten Form von Marktwirtschaft und Privatisierung zu einem glühenden Kommunisten zu werden. Wurde es doch für gewisse georgische Dissidenten zur Fatalität, dass sie im Gegensatz zu dem von ihnen verehrten Mamardaschwili das Sowjetsystem überlebten und in ihrer Rolle als Hüter des ‚heiligen Dunkels‘ bis heute Dissidenten der Vergangenheit bleiben. Das Koordinatensystem der Gegenwart wird hingegen, außer einigen zu kritisierenden internen Details, kaum berührt. Und wenn ein Lewan Berdsenischwili dreißig Jahre nach seiner Verhaftung wegen antisowjetischer Propaganda mit humorvoller Exaktheit Zeugnis von seiner Gulag-Erfahrung ablegt,[12] wird das Ganze auch räumlich von Vornherein als eine Tausendundeine-Nacht-Erzählung eingerahmt, die ausgerechnet einer in Washington sitzenden Ärztin gilt. Der ersehnte westliche Hörer als ‚Idealleser‘ sowie der Westen als die nötige safe space ist abermals das vorgegebene Setting.
Was sich bei Mamardaschwili als eine Art Geschichtspessimismus, ja -fatalismus erwies und ihn in die Nähe der russischen ‚Westler‘ des 19. Jahrhunderts rückte, die um des unüberbrückbaren Abstandes Russlands vom ‚Westen‘ verzweifelten, wird bei seinen selbsternannten Söhnen (denn männliche Sprösslinge sind es meistens), die in der zeitgenössischen intellektuellen Szene Georgiens den Ton angeben, zur Selbstermächtigung und zur Invektive gegen die eigenen Landesgenossen. Einem rigiden Fortschrittsschema wird der Weg gebahnt; man ist nicht mehr nur Anwalt Europas, sondern im selben Atemzug auch Ankläger der Heimat, die ‚immer noch‘ in der ‚sowjetischen Mentalität‘ steckenbleibt, ‚noch nicht‘ europäisch genug ist. Sie nehmen ihre Egos in die tragische Kollektivität der rückständigen Heimat zurück und klagen in der ersten Person Plural (‚uns fehlt es noch an einer echten modernen bürgerlichen Gesinnung‘, ‚wir haben die Reformation und die Aufklärung und die natürliche kapitalistische Entwicklung verpasst‘, ‚wir lagen siebzig jahrelang in komatösem Schlaf‘, usw.). Und dennoch reden sie von ‚dem Georgier‘, der nach derselben kolonialen Verdinglichung schmeckt, wie ‚der Neger‘ und ‚der Araber‘. Innerhalb dieses rückständigen Kollektivs selbst übernimmt man die Rolle der Avantgarde, die schonungslos die bestehenden Verhältnisse kritisiert, die stets an der europäischen Norm gemessen werden. Außerhalb, vor der europäischen Tribüne, bzw. auf dem Podium einer europäischen Buchmesse tut man sich als besorgter Lehrer auf, der sich über seine äußerst lernunfähigen Schüler beschwert.
Die Millionen von vollbeschäftigten und zukunftssicheren Existenzen zerbrechende Katastrophe der 90-er Jahre, in denen die gesamte sowjetgeorgische Industrieinfrastruktur der Plünderung preisgegeben wurde, um sie Ziegelstein für Ziegelstein und Nagel für Nagel als Schrott und Baustoff zu exportieren, wird auf eine abstrakte, geometaphysisch überformte Rede von einer sowjetverschuldeten Unmündigkeit und der organischen Unfähigkeit zur Freiheit verkürzt. Ist doch diese Verklärung ökonomischer, geopolitischer Konflikte zur empirischen Emanation eines im Himmel ausgefochtenen metaphysischen Streits selber nichts als ein ornamentales Anhängsel der europäischen Osterweiterungspolitik, die überhaupt die institutionellen Vorbedingungen und das politische Rationale schafft für ein Ereignis wie die Ehrengastschaft Georgiens auf der Frankfurter Buchmesse. Über Nähe und Abstand bestimmt, wer die Vormacht besitzt, akribisch zu messen, ob und inwiefern man in der anstrebenden Peripherie die EU-Richtlinien erfüllt hat, sprich: inwiefern man weitere Fortschritte geleistet hat bei der organischen Aneignung der als ‚europäisch‘ beschlagnahmten ‚Werte‘.
4. Immergrüne Flugzeugjungs
1983 wurde die Utopia des Thomas Morus aus dem Lateinischen ins Georgische nach allen Regeln der sowjetischen Übersetzungskunst übertragen. Damals hatte Mamardaschwili bereits mit seinen allersten Proust-Vorlesungen zur „psychologischen Topologie des Weges“ begonnen und Lewan Berdsenischwili war im Begriff, auf drei Jahre ins „heilige Dunkel“ befördert zu werden. Die Übersetzung der Utopia stellte vielleicht einen verspäteten Versuch dar, der erodierten kommunistischen Zukunftsvision des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ wieder etwas vormarx(isti)schen utopischen Lebenssaft zu injizieren. Aber für einen Teil der jungen Generation stand bereits fest, wo im realen geographischen Raum die Utopie ihren Ort hatte – nämlich im bunten, freien, kapitalistischen Westen. So versuchte im selben Jahr eine Gruppe junger Georgier ein in Tbilissi gestartetes Flugzeug Richtung Türkei zu entführen, um von dort ins gelobte Land zu kommen. Der Drang nach Freiheit der s.g. „Flugzeugjungs“ und das tragisch gescheiterte Abenteuer wurden seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit immer wieder in Literatur, Theater und Film bearbeitet.
Bezeichnenderweise waren diese ‚Jungs‘ vorwiegend Söhne der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenzija, denen es, mit den Worten der schockierten ‚Älteren‘ und ‚Vorgesetzten‘ im Film vom 2017, „doch an nichts gemangelt hatte“. Nichts, außer einer ganz abstrakt verstandenen und mit endlosen Konsum westlicher Waren gleichgesetzten Freiheit, das nur Kinder der Intelligenzija sich hätten wünschen können, u.zw. einer Intelligenzija, die „das unzerstörbare Bündnis der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz“ ihrerseits bereits gekündigt hatte, als das Breschnew-Regime versuchte, es in der letzten sowjetischen Verfassung 1977 festzuschreiben.[13] Angesichts der Arbeitsteilung in körperliche und geistige im Rahmen der abermals zur Klassenherrschaft geronnenen sowjetischen Gesellschaft war die Intelligenzija nur zu anfällig dafür, auf eklatante Art zu verkennen, wo sie mit ihrer privilegierten Stellung innerhalb der sozio-ökonomischen Gesamtverfassung lag.
Dabei hatte ihr Großteil selber von den präzedenzlosen Chancen ‚sozialer Mobilität‘ (Sheila Fitzpatrick) profitiert, die das Sowjetsystem unzähligen Menschen aus den Provinzen und den untersten Schichten eröffnet hatte. Ebendieser ‚kleine Mensch‘ ist das Hauptanliegen einer Alexijewitsch, während er in Haratischwilis Roman höchstens als gewalthungriger gesichtsloser Statist des revolutionären Chaos von 1917 vorkommt. Zelebriert doch Das achte Leben grundsätzlich eine privilegierte höhere Mittelschicht, die es schaffte, vom erfolgreichen Privatunternehmertum im Kaiserreich über ihre Einreihung in die Sowjetintelligenzija und -nomenklatura bis zur Krise der 90er, in der sie von den üppigen Ressourcen des vergangenen Privilegs zerrte, ihre Stellung zu wahren.
Fähig wie diese Gruppe sich erwies, dank ihres sozialen Kapitals die für die Mehrheit fatale materielle Katastrophe nach dem Fall der Sowjetunion zu überstehen, sind es heute wieder die verwöhnten Kinder derselben Intelligenzija, die die plebejische Ausrottung des ‚besten Teils der Gesellschaft‘ von dem großen stalinschen Terror bis zur Exekution der Flugzeugjungs als ihren eigenen heroisch-märtyrerischen bürgerlichen Gründungsmythos feiern, das dem kommunistischen Bündnis mit Arbeitern und Bauern vollends durch einen zum Symbol idealisierten Terrorakt gekündigt hat. Ebendiese Kinder wird man in ihrer ganzen multimedialen Breite höchstpersönlich auf der Frankfurter Buchmesse bestaunen dürfen.[14]
Allerdings müsste dabei die grundsätzliche Frage gestellt werden, ob sie als erlesene Vertreter des Ehrengastlandes (die teilweise mit dutzenden Übersetzungen und Podiumsveranstaltungen aufwarten werden, während etliche zumindest genauso uninteressante georgische Schriftsteller und Künstler so gut wie nichts von der Buchmesse abbekommen werden) außer sich selbst eigentlich noch jemanden vertreten. ‚Sowjetische Inertia‘ ist der Allzweck-Begriff, den sie bereithegen um von der Bevölkerungsmehrheit zu reden, die zurzeit zu Hunderttausenden als halbwegs illegale Gastarbeiterschar in den unerwünschtesten Beschäftigungssektoren in Russland und dem Westen sich über Wasser zu halten versucht. Und sie, die eigentlich die Kosten des Zerfalls der Sowjetunion getragen haben, müssen noch mit der eingeschärften Scham wegen ihrer ‚Sowjetnostalgie‘ draufzahlen.[15]
Auch bei unseren Flugzeugjungs ist dann die Scham vor dem Westen wegen sich selbst und der eigenen Landsleute – zu denen man unbedingt gehören will, um sich über sie zu erheben – eines der wenigen ihrer ohnehin gedankenarmen Themenstränge. Kaum humorlos ernster könnte es der zum Meister des Selbsthumors erkorene Anführer des Literaturexpress mit seiner Beichte meinen, er habe Angst, dass er im Flughafen
von Grenzpolizisten für einen Terroristen gehalten werde, die ich mit meinem wilden Englisch keineswegs überzeugen kann, doch jemand ganz anderer zu sein. Ich hasse diese Momente, wenn ausländische Beamte meinen Pass kontrollieren (vor einheimischen Beamten habe ich keine Angst). Ich hasse diesen Augenblick auf der anderen Seite des Glases, wenn ich auf den Einlass ins Paradies warten muss, den mir ein Mitglied eines fremden Stammes mit grüner Kopfbedeckung gewähren soll. In solchen Situationen versuche ich, möglichst vertrauenerweckend auszusehen. Ich will, dass sie von meinem Gesichtsausdruck ablesen, wie bedauerlich es ist, dass sie mich nicht persönlich kennen und daher nicht wissen, dass ich nichts Böses anstelle und genauso gesetzestreu bin wie sie selbst. Ich vermute, dass Europäern solche Komplexe fremd sind. Man muss schon ehemaliger Sowjetbürger sein und vier Kriege hinter sich haben, um solche Ängste nachvollziehen zu können.[16]
Ob inzwischen die Visafreiheit diese Wunde gelindert hat?
Gleich frivol in Prosa, Blog, Rundfunk- und Fernsehsendung oder einer öffentlichen Diskussion, wird die georgische Bevölkerung mit endlosen Variationen auf ein und dasselbe Paradigma bombardiert. So wirkungsmächtig ist es, dass es unerschöpflich die Einbildungskraft der Denker und Schriftsteller mobilisiert, von der Mamardaschwilis Ur-Plattitüden nachkomponierten „mentalen Geographie“ von Ost und West bis etwa zum gebloggten Lob des Anführers des Literaturexpress auf die Schweizer Müllverarbeitung. Vorerst nur pro domo, in georgischer Sprache, wird darin der gesamte ontologische Transformationsweg abgezeichnet, den der Schweizer Müll von seiner gemeinen Materialität bis zur Verklärung in eine geradezu mystische, jeglicher Müllhaftigkeit entkörperte Hypostase durchläuft.
Auch darin gleicht der heutige Blogger seinen privilegierten Vorfahren, die in der spätsowjetischen Phase ausnahmsweise ins ‚kapitalistische Ausland‘ ausreisen durften und nach der Rückkehr in die Heimat den Zurückgebliebenen ‚vom Westen erzählten‘.[17] Nur, was früher noch irgendeinen Sinn gehabt hätte, da nur sehr wenige ‚dahin‘ reisen durften und nur wenig Information von ‚dort‘ herüberreichte, wird heute zur doppelt grotesken Überflüssigkeit, zumal den heutigen Flugzeugjungs nicht nur die georgische Provinz zum Ort wird, wo sie ‚vom Westen erzählen‘, sondern auch eine Szene wie die Frankfurter Buchmesse, wo sie dem Westen selbst vom Westen erzählen werden.
5. Auf der Suche nach einer neuen Zeit
Nicht, dass für eine wie auch immer ‚authentische‘ georgische Sicht und Schreibweise plädiert würde, die hinter dem Diskurs der hier kritisierten Westler begraben läge. Ob es diese bereitliegende Authentizität überhaupt gibt, bleibt fraglich, und wer auf sie pocht, verfällt nur allzu oft in nationalistischen Atavismus. Es müsste allerdings unbedingt bei der Destruktion der oben beschriebenen herrschenden Paradigmen angesetzt werden, deren Dominanz grundsätzlich verhindert, dass außerhalb von ihnen irgendetwas überhaupt verständlich formuliert werden kann. Erst durch diese Kritik hindurch könnte der Weg freigelegt werden für eine Sprache, die – auf Georgisch oder auf Deutsch – für Georgien, d.h. für dessen eigene historische Zeitlichkeit und Räumlichkeit und nicht von dem globalisierten Un-Ort des westlichen Blicks aus, sprechen würde.
Eine ausdrückliche kritische Stellung gegenüber der herrschenden Perspektive ist deswegen geboten, weil eine zu passive Hingabe an herrschende Zeitschemen jede Rede vom Gewesenen automatisch in Futter für das Bestehende zu verwandeln droht. Eine schwache Geschichtsphilosophie, vielleicht die einzig noch mögliche, käme zustande, die das Gewesene weder rechtfertigen noch besserwisserisch verpönen, sondern erzählend auflockern würde, indem seine konkrete historische Bedingtheit aufgezeigt und mitbedacht würde, dass das einmal Geschehene nicht auch festzulegen braucht, was noch kommen könnte.
Somit könnte Kritik auch zu einer Vorbereitung auf ‚das‘ Werk, zum Versprechen einer Literatur werden, das noch kommen müsste. Eines ihrer Erkennungsmerkale wäre dann vielleicht, dass, im Gegensatz zur flinken, standardisierten Übersetzbarkeit der heutigen georgischen Literatur ins Deutsche[18], die Sprache ins Stammeln geraten würde, sich Alles nicht so leicht hersagen und schon gar nicht so leicht übersetzen ließe.
Literatur
[1] Auf Deutsch: Alexijewitsch, Swetlana: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus, übers. v. Ganna-Maria Braungardt, Berlin, 2015.
[2] Andronikashvili, Zaal: „Europa und das postsowjetische ‚Drama der Freiheit‘. Die historische Schöpfung eines freien Raumes nach Merab Mamardašvilis Bewusstseinsphilosophie“, in: Andronikashvili/Weigel: Grundordnungen. Wechselbeziehungen zwischen Geographie, Religion, Kultur und Gesetz, Berlin, 2013, S. 260.
[3] Zur gesamten Problematik siehe van der Zweerde, Evert: “Philosophy in the Act: The Socio-Political Relevance of Mamardašvili’s Philosophizing”, in: Studies in East European Thought, 58(3), 2006, S. 179–203.
[4] Alexijewitsch, Secondhand-Zeit, S. 86. Das Adjektiv хладнокровным im russischen Original ließe sich buchstäblich mit „kaltblütig“ übersetzen.
[5] Ebd., S. 212.
[6] Siehe: http://www.tbilisiinternational.com/en/program/international-program/16/the-eighth-life-_for-brilka
[7] Haratischwili, Nino: Das achte Leben (Für Brilka), Frankfurt a.M., 2014, S. 152. Hervorhebung d. V.
[8] Für den Text sowie das Tonband des französischen Vortrags siehe: https://mamardashvili.com/archive/interviews/responsibility-fr.html
[9] Eine solche findet sich bei Andronikashvili, „Europa und das postsowjetische ‚Drama der Freiheit‘“, S. 264f.
[10] Für eine Kritik an der in georgischen intellektuellen Kreisen oft anzutreffenden Überformung Europas zu einer ‚Idee‘, die sich als umso problematischer erweist, als ihr kein reales Europa entspricht und diesem dennoch in seiner idealisierten ‚Hyperrealität‘ den normativen Vorrang belässt, siehe: Tskhadadze, Tamar: „‚Der Westen‘ und der ‚georgische Unterschied‘. Über Geschlecht und Frauenemanzipation in Georgien“, in: Georgien, neu buchstabiert. Politik und Kultur eines Landes auf dem Weg nach Europa, hg. v. Luka Nakhutsrishvili u. Heinrich-Böll-Stiftung, Bielefeld, 2018, S. 51-61.
[11] Ryklin, Michail: „Bessere Menschen“, in: DIE ZEIT, 28.08.2008 Nr. 36, https://www.zeit.de/2008/36/Georgien-fr-her/komplettansicht
[12] Auf Deutsch: Berdsenischwili, Lewan: Heiliges Dunkel. Die letzten Tage des Gulag, übers. v. Christine Hengevoß, Halle, 2018.
[13] Siehe Kapitel 3, Artikel 19 der Verfassung von 1977: http://www.verfassungen.net/su/udssr77-index.htm
[14] Siehe z.B. die folgende Veranstaltung: https://catalog.services.book-fair.com/en/events/event-overview/event/action_eventcalendar/detail/controller_eventcalendar/Eventcalendar/objid_eventcalendar/2049/
[15] Zu den eigentlichen materiellen Gründen der Sowjetnostalgie äußerte sich auch Giorgi Maisuradze in einem Interview mit Jungle World: https://jungle.world/artikel/2018/36/freiheit-wo-es-sonst-keine-gab
[16] Bugadze, Lasha: Der Literaturexpress, übers. v. Nino Haratischwili, Frankfurt a.M., 2016, S. 18.
[17] Siehe dazu: Ghvinjilia, Giorgi: „Rosen, Kondome und Schlagstöcke. Von der sonderbaren Ehe zwischen Staatsmacht und sexueller Emanzipation im neuen Georgien“, in: Georgien, neu buchstabiert, S. 164.
[18] Zur vorgefertigten Standardisierung des Originaltextes auf seine reibungslose Übersetzbarkeit hin, siehe die Kritik von Zaal Andronikashvili: http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/06/14/zaal-andronikashvili-georgische-literatur-heute-zwischen-kleiner-literatur-und-weltliteratur/
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz