Philip Roth und Prag

Eine transatlantische Wahlverwandtschaft

Von Simone KrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Kraus

 

1. Prag in der US-amerikanischen Literatur

Die Aufzeichnungen des amerikanischen Schriftstellers und Diplomaten Washington Irving über seinen Aufenthalt in Prag im Jahr 1822 stellen den Ausgangspunkt für eine bemerkenswerte Entwicklung in der US-amerikanischen Literatur dar: Seit fast 200 Jahren spielt Prag in einer Vielzahl von Werken der fiktionalen wie nicht-fiktionalen Literatur als narratives Motiv eine zentrale Rolle. Als Hintergrundmotiv, Hauptschauplatz, Reiseziel oder Sehnsuchtsort wird diese Stadt entweder als physisch erlebbarer Ort erkundet, oder sie wird in einem symbolischen Sinn als Idee, sogar Vorbild, imaginiert. Prag über den Weg der Imagination heraufzubeschwören, gilt für Cynthia Ozicks Roman The Puttermesser Papers (1997) und für Arthur Phillips Debütroman Prague (2002), der nicht in Prag, sondern in Budapest spielt.

In The Spirit of Prague and Other Essays (1994) vergleicht der tschechische Schriftsteller Ivan Klíma die Stadt Prag mit einem Menschen, dessen Persönlichkeit und Geschichte es gilt kennenzulernen. Ohne diese Annäherung bleibt nur ein Name, eine äußere Form („it remains a name, an external form that soon fades from our minds“). Zu den prominenten amerikanischen Autoren und Reisenden, die zu Prag auf unterschiedliche Weise eine Beziehung aufgebaut haben, zählen – um nur einige Namen zu nennen – neben Washington Irving auch Booker T. Washington (Life and Labor on the Continent, 1911), F. O. Matthiessen (From the Heart of Europe, 1948), Marcia Davenport (Too Strong for Fantasy, 1967), Cynthia Ozick (The Puttermesser Papers, 1997) und Philip Roth.

In seinen Erzählstoffen hat Roth der Stadt Prag eine besondere Bedeutung, ja fast eine privilegierte Stellung, zukommen lassen. Wie ein roter Faden ziehen sich die Bilder, die er von Prag – und dem Prager Kafka – zeichnet, durch sein literarisches Leben. Roths Hinwendung zu Prag zeigt sich sowohl in seinen autobiographischen Werken als auch in einigen seiner Romane. Seine intensive Auseinandersetzung mit Kafka, der politischen Situation in der damaligen Tschechoslowakei und den Auswirkungen des kommunistischen Regimes auf das intellektuelle Leben kommentierte der gebürtige Prager Peter Demetz in seinem Aufsatz „Mit Franz Kafka in den Straßen von Newark“, der 2002 in Frankfurter Allgemeine Zeitung erschien, wie folgt: „Ich kenne keinen anderen amerikanischen Schriftsteller, der Kafka mit treuerer Hartnäckigkeit (grenzend vielleicht an eine sanfte Obsession) gelesen und studiert hat und der sogar – trotzig eine modische französische Idee ignorierend, daß außerhalb des Textes nichts existiert – nach Prag gereist ist, in den schwierigsten Zeiten der sogenannten Normalisierungs- oder besser Unterdrückungsphase, um mehr über den historischen Schauplatz von Kafkas Leben zu erfahren“. Für Demetz stellt Roth in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur eine Ausnahmeerscheinung dar, denn er „wußte schließlich mehr über Leiden und Größe der tschechischen Lande als irgendein anderer amerikanischer Autor unserer Zeit“.

 

2. „A Czech Education“: Die Bedeutung des Prag-Motivs für Roth und sein Erzählwerk

Die Rolle, die Roth der Stadt Prag in seinem Erzählwerk zuweist, ist mit Franz Kafka aufs Engste verknüpft. Mit Blick auf die vielen intertextuellen Bezüge, die Roth zu Kafka herstellt, merkte die amerikanische Schriftstellerin Cynthia Ozick einmal an, dass Roth ohne Kafka schlicht nicht vorstellbar sei („You cannot have Philip Roth without Franz Kafka“). Dass Kafkas Leben und Werk einen zentralen Platz in Roths Gedankenwelt einnehmen, demonstriert seine 1973 verfasste Erzählung „‘I Always Wanted You to Admire my Fasting‘; or, Looking at Kafka“, in der er für Kafka – um es mit Roths Begriff „Counterlife“ auszudrücken – ein „Gegenleben“ erfindet. Kurzerhand wird aus dem Prager Schriftsteller, der im Jahr 1924 starb, Franz Kafka, ein Holocaust-Überlebender. Dieser lebt in Newark und arbeitet als Hebräisch-Lehrer der Erzählerfigur Philip. Einige Jahre später erhält Philip eine Todesanzeige, in der es über Kafka sachlich heißt: „Dr. Kafka was born in Prague, Czechoslovakia, and was a refugee from the Nazis. He leaves no survivors“. Ein alternatives Leben in den USA führt zu einem Verlust von Kafkas Werken und damit zum Verlust eines bedeutenden Teils des kollektiven literarischen Gedächtnisses. Die heute weltbekannten Werke wie beispielsweise Das Schloß, Der Prozeß oder Kafkas Tagebücher würden nicht existieren („He also leaves no books: no Trial, no Castle, no Diaries. The dead man’s papers are claimed by no one, and disappear“).

Welch hohen Stellenwert Roths Erzählung „‘I Always Wanted You to Admire my Fasting‘; or, Looking at Kafka“ und das Prag-Motiv in seinem Gesamtwerk bis heute haben, bestätigt Roths Sammelband Why Write?: Collected Nonfiction 1960-2013, der 2017 von der Library of America publiziert wurde. Die Erzählung, die Roth im Vorwort als „a hybrid essay-story“ bezeichnet, eröffnet den Band, der drei thematische Hauptteile umfasst. Der erste Teil enthält Aufsätze und Interviews aus Roths Buch Reading Myself and Others (dt. Eigene und fremde Bücher, wiedergelesen), einschließlich „Writing American Fiction“, „Writing About Jews“„Interview with The Paris Review sowie „Interview on Zuckerman. Die beiden genannten Interviews sind im Hinblick auf Roths Beschäftigung mit tschechischen Themen von großer Relevanz, da sie seine Erinnerungen an die Erlebnisse in Prag festhalten und seine Motivation, sich mit der Lage tschechischer Autoren auseinanderzusetzen, beleuchten. Der zweite Teil des Sammelbands enthält die vollständige Ausgabe des Buches Shop Talk: A Writer and His Colleagues and Their Work (dt. Shop Talk: Ein Schriftsteller, seine Kollegen und ihr Werk), das Roth 2001 veröffentlichte. Zum Kernstück dieses essayistischen Werkes, in dem die Prag-Thematik fortgesetzt wird, gehören Roths Gespräche mit Ivan Klíma und Milan Kundera. Im dritten Teil von Why Write? findet sich eine Rede mit dem Titel „A Czech Education“. Diese hielt Roth im April 2013 anlässlich des PEN Literary Service Award. Darin blickt Roth auf seine Reisen nach Prag zurück, die er zwischen 1972 und 1977 jedes Jahr unternahm, und er erwähnt die Begegnungen mit dort lebenden Schriftstellern. Aus den Treffen mit Ivan Klíma entstand eine besonders enge Verbindung. Nach 1977 wurde Roth das Visum zur Einreise in die Tschechoslowakei verweigert. Erst mit dem historischen Umbruch im Zuge der Samtenen Revolution konnte er zurückkehren. Es sei erwähnt, dass Roth auch diese Erfahrung schriftlich fixierte. Sein ausführlicher Aufsatz „A Conversation in Prague“, der ein Interview mit Ivan Klíma enthält, erschien 1990 in The New York Review of Books.

Um die Bedeutung Kafkas für Roth besser einordnen zu können, ist es wichtig zu verstehen, dass das Kafka-Motiv in Werken amerikanischer Autoren eine außerordentlich starke Präsenz hat. Roths Hinwendung zu Kafka knüpft an die US-amerikanische Kafka-Rezeption an, die mit der Publikation der englischen Übersetzung von Das Schloß im Jahr 1930 – und insbesondere in den 1940er Jahren – einen Aufschwung erlebte. Die vielschichtige amerikanische Kafka-Rezeption zeigt, dass Kafka in den USA den Status einer literarischen Ikone hat. Dies unterstreicht auch der neue Roman von Nicole Krauss, Forest Dark (dt. Waldes Dunkel), in dem Bezüge zu Kafka und Prag mit der Romanhandlung verwoben sind. Ähnlich wie Roth in „‘I Always Wanted You to Admire my Fasting‘; or, Looking at Kafka“ – jedoch auf ihre ganze eigene Weise – erschafft Krauss für Kafka ein „Gegenleben“. Dieses findet nicht in den USA, sondern in Palästina statt. Leser, die mit The Professor of Desire vertraut sind, werden des Weiteren durch die Erwähnung des Prager Friedhofs in Forest Dark unweigerlich an Roths Figur Kepesh erinnert, der Kafkas Grab besucht. Roth selbst lobte Krauss mit den Worten „Ein brillanter Roman. Ich bin voller Bewunderung“. Mit ihren Versionen der Figur Franz Kafka nehmen sowohl Roth als auch Krauss ein Stück Prag aus dem lokalen und historischen Kontext heraus und erwecken es – vielleicht mit einem Seitenblick auf die Golem-Legende – in neuer Erde zu neuem Leben.

Im Jahr 1972 reiste Roth zum ersten Mal nach Prag. Lange davor hatte er sich intensiv mit Kafkas Werken beschäftigt. Wie aus einem Gespräch mit George Plimpton aus dem Jahr 1969 hervorgeht, unterrichtete Roth an der University of Pennsylvania einen Kurs, in dem Kafkas wichtigste Werke im Fokus standen, darunter auch der „Brief an den Vater“ sowie Max Brods Kafka-Biographie. Einige der Ideen, die Roth damals entwickelte, flossen in seinen späteren Roman Portnoy’s Complaint (dt. Portnoys Beschwerden) ein. Roth betont Plimpton gegenüber, dass es ihm nie darum ging, einen Roman zu schreiben, der wie ein Roman Kafkas („a Kafka-like novel“) klingt. Vielmehr fand Roth – inspiriert durch Kafka – die Möglichkeit, die emotionale Orientierungslosigkeit und Unsicherheit, die Roth in seinen Dreißigern als Mensch einerseits und als Schriftsteller andererseits verspürte, kreativ zu nutzen.

Roth begab sich auf Spurensuche in Prag, um die Stadt, in der Kafka wirkte, mit eigenen Augen zu sehen. Was Roth in Prag dann sah und erlebte, übertraf seine Erwartungen. Die Gefühle, die er beim Erkunden der Stadt empfand, fasste er in seinem Aufsatz In Search of Kafka and Other Answers (1976) zusammen. In anderen europäischen Ländern (England, Frankreich, Italien) hatte sich Roth lediglich als ein Amerikaner auf der Durchreise betrachtet. In Prag traf diese Wahrnehmung nicht zu. Innerhalb von Stunden nach seiner Ankunft war sich Roth einer Verbindung zwischen ihm und der Stadt bewusst, die einem Dejá-vu-Erlebnis gleichkam. Wie er in seinem Aufsatz ausführt, verschmelzen in seiner Vorstellung für einen Moment Prag und das Gebiet, aus dem seine Vorfahren auswanderten, zu einem imaginären Ort, der in Roth ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit und des Wiedererkennens auslöst („Austro-Hungarian Lemberg and Czarist Kiev, where the two branches of my own family lived before their emigration to America at the beginning of the century“). Roth reiste nach Prag, um Kafka zu finden, doch was er fand, war weit mehr: Er fand Prag – und dies auf eine Weise, die über den Kafka-Kontext hinausgeht. Nach seinem ersten Aufenthalt in Prag stand für Roth fest, dass er zurückkehren musste. Er freundete sich mit tschechischen Autoren an, studierte die Geschichte ihres Landes, las tschechische Romane in Übersetzung und traf sich mit Tschechen, die in den USA lebten.

Roth betrachtet seine Werke als Mittel der Selbstreflexion, da er – so erklärt er in einem Interview mit Alain Finkielkraut – durch das kreative Schaffen zu dem Teil von sich vordringen kann, den er als „the heart at least of my own life“ bezeichnet. Dieser Standpunkt bedeutet jedoch nicht, dass seine Person mit seinen fiktionalen Figuren gleichzusetzen ist. Grundsätzlich lehnt Roth direkte Vergleiche ab. Jedoch räumt er die Möglichkeit ein, dass er seinen Figuren ähnelt, und stellenweise deutet er mehr als eine Ähnlichkeit an. Finkielkrauts Frage, ob der fiktionale Lonoff sein Alter Ego sei, beantwortet Roth mit Gegenfragen: Bin ich Lonoff? Bin ich Zuckerman? Bin ich Portnoy? Ich denke, ich könnte es wohl sein. („Am I Lonoff? Am I Zuckerman? Am I Portnoy? I could be, I suppose“). Gleichzeitig rückt Roth seine Protagonisten in den Vordergrund, indem er sich als „amorphous“ bezeichnet—quasi unsichtbar, ohne Intention, seine Figuren als zweites Ich zu kreieren. Seine mehrdeutigen und unterschiedlichen Aussagen zum Aspekt des Alter Ego können als Ausdruck seiner Verärgerung über die oft gezogenen Vergleiche zwischen ihm und seinen Figuren verstanden werden.

 

3. „Professor der Begierde“ und „Die Prager Orgie“

Zu den fiktionalen Werken Roths, die ein vielschichtiges und komplexes Bild der Stadt Prag in ihrem historischen Kontext zeichnen, gehören der Roman The Professor Desire (dt. Professor der Begierde) sowie der Epilog zu Roths Zuckerman-Trilogy, The Prague Orgy (dt. Die Prager Orgie). Die Hauptfigur aus The Professor of Desire, der Literaturdozent David Kepesh, möchte Kafkas Geburts- und Heimatstadt sehen, bevor er auf einer Konferenz in Brügge einen Vortrag über das Thema „Hungerkunst“ hält. Er glaubt, das Prag vorzufinden, das in seiner Vorstellung als „Kafka’s city“ existiert. Dies erweist sich allerdings als illusorisch. Im Verlauf seines Aufenthalts wird er mit dem gegenwärtigen Prag konfrontiert. Es sind die 1970er Jahre, ein Jahrzehnt, in dem die damalige Tschechoslowakei die sogenannte „Normalisierung“ erlebte. In Prag beginnt Kepesh, sich mit der Lebenssituation anderer Menschen und deren Blick auf Prag zu beschäftigen. Dieser Vorgang unterscheidet sich völlig vom ersten Teil des Romans, in dem Kepesh vor allem auf sich selbst, seine Zweifel, Ängste und Begierden fokussiert ist. Roth setzt die Gedankengänge seines Protagonisten mit dem Erleben der Topographie Prags in Beziehung. Jedes Gespräch findet an einem bestimmten Ort in Prag statt. Die Reihenfolge, in der Kepesh diese Orte aufsucht, entspricht aus narrativer Perspektive einem Kreis, der sich am Ende der Reise für Kepesh zu schließen scheint.

Im Zentrum von Kepeshs Interesse stehen der Altstädter Ring, das Goldene Gässchen sowie Kafkas Grab auf dem Neuen Jüdischen Friedhof. Sein Wissen über diese Orte bestimmt zunächst die Art, wie er Prag wahrnimmt. Allerdings wird durch ein langes Gespräch mit dem tschechischen Akademiker Soska, der Kepesh die Stadt zeigt, ein Aufklärungsprozess angestoßen, der Kepeshs Sicht auf sich und Kafka verändert. Die Wirklichkeit, die Kepesh in Prag vorfindet, stimmt ihn nachdenklich.

Die Kapitel von The Professor of Desire, die in Prag spielen oder die unter dem Eindruck von Kepeshs Pragreise stehen, gehen über eine stereotype Darstellung Prags als gebrochene Stadt des Kalten Krieges hinaus. Roth verdeutlicht, dass Kepeshs Gespräche mit Soska vor dem Hintergrund einer anderen Zeit stattfinden, da Prag durch den Eisernen Vorhang von seiner Rolle als kulturhistorisch bedeutende Stadt Europas losgelöst ist. Kepeshs Wahrnehmung Prags ist ohne die Menschen, auf die er trifft, nicht denkbar. Soska öffnet Kepesh die Augen für den politischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die Prager befinden. Das kommunistische Regime betrachtet Soska als politischen Gegner. Aus diesem Grund verlor er seine Stellung an der Universität. Um der geistigen Abstumpfung zu entgehen, flüchtet er sich in die Welt der Übersetzungen aus der westlichen Literatur. So übersetzt er Herman Melvilles Roman Moby-Dick. Obwohl eine Übersetzung bereits existiert, ist der Vorgang des Übersetzens für Soskas psychisches, emotionales und intellektuelles Überleben notwendig. Mit Blick auf die Bedeutung von Übersetzungen sei auf die Penguin-Reihe Writers from the Other Europe verwiesen, die u.a. Werke von Milan Kundera, Ludvík Vaculík, Tadeusz Borowski, Witold Gombrowicz, Géza Csáth und Bruno Schulz in englischer Übersetzung umfasst und deren Herausgeber Roth war. Das von ihm initiierte Übersetzungsprojekt verdeutlicht, dass für Autoren, die ihre Leserschaft mitunter durch Publikationsverbot verlieren, die Übersetzung der eigenen Bücher alles bedeuten kann.

Zu den Passagen in The Professor of Desire, die Kepeshs innere Zerrissenheit in ihrer ganzen Bandbreite zum Ausdruck bringen, zählen jene, in der Prag der Schauplatz des Erzählgeschehens ist. Es ist in genau dieser Stadt, in der Kepesh erkennt, dass die Dinge in seinem Leben nicht so negativ sind, wie sie ihm bis zu diesem Zeitpunkt erschienen. Weit weg von seinem Heimatland entwickelt er in Prag ein geschärftes Bewusstsein für sich, seine Vorfahren, die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin und seine Ambitionen als Literaturdozent. In Prag findet er Hoffnung auf einen Neuanfang. Ob es ihm gelingt, die neu gefundene Lebens- und Daseinsfreude in den USA zu bewahren, ist die Frage, die der letzte Teil des Romans thematisiert.

In The Prague Orgy lässt Roth seinen Helden, den Schriftsteller Nathan Zuckerman, dessen Suche nach literarischen Vorbildern im ersten Band der Zuckerman-Trilogie begann (The Ghost Writer), ebenfalls nach Prag reisen. In diesem Buch besteht das Ziel nicht darin, „Kafkas Stadt“ zu sehen, sondern die vermeintlich verschollenen Manuskripte eines jiddischen Autors zu finden. Vor diesem Hintergrund – und im Gegensatz zu The Professor of Desire – spielt die Topographie Prags eine untergeordnete Rolle. Stattdessen bilden Hotelräume und ein für Prag typisches Palais, „a small seventeenth-century palazzo on the Kampa“ die Kulisse. An diesen Orten stellt sich für Zuckerman ein Gefühl der Beklemmung und des Gefangenseins ein.

Zuckerman gelingt es nicht, die Manuskripte, die sich vielleicht oder vielleicht nicht in der ihm überreichten Schachtel befinden, nach New York zu bringen. Doch im Fokus des Erzählgeschehens steht nicht das Finden des Buches, das in den USA hätte publiziert werden können, sondern Zuckermans Suche danach und die Situationen, in denen er sich wiederfindet. Die Eindrücke, die er von Prag und den dort lebenden Menschen gewinnt, hält er in Tagebucheintragungen fest. Auf diese Weise bieten sich Zuckerman neue literarische Möglichkeiten. Frei von Selbstzweifeln und weit entfernt von den amerikanischen Literaturkritikern, befindet er sich in einem politisch aufgewühlten Land, in dem sein Status als berühmter Autor keine Rolle spielt. Dies ist eine Erfahrung, die für ihn zunächst neu und zudem befremdlich ist. Allerdings findet er schnell Gefallen daran, Zuhörer und Zeuge der Ereignisse zu sein.

 Zwischen Fiktion und Wirklichkeit bewegt sich Zuckerman im okkupierten Prag der 1970er Jahre. Es ist ein Prag, das in die Rolle eines Opfers gedrängt wurde und das nun seine Einwohner zu Opfern macht. Die Gespräche, die Zuckerman mit tschechischen Intellektuellen führt, lassen ihn erkennen, dass sich Prag in einem Ausnahmezustand befindet. In einer Art Vakuum bewegen sich die Menschen, die Zuckerman auf den Straßen sieht, wie maskierte Figuren – wie Geister aus einer anderen Zeit. Ihm wird bewusst, dass es nicht nur ein Prag gibt. Es gab das Prag vor der russischen Okkupation, das den Prager Frühling erlebte, und es gibt das Prag nach der Niederschlagung dieser Reformbewegung. Roth erinnert daran, dass Prag und der Rest des Landes nicht das einzige Opfer der damaligen politischen Ereignisse sind, sondern der gesamte europäische Kontinent. Mit der kommunistischen Tschechoslowakei verlor Europa sein, um die Formulierung des Tschechen Bolotka aus The Prague Orgy aufzugreifen, „Mitteleuropa“. In einem Gespräch mit Roth, das in den 1980er Jahren stattfand, beschreibt Milan Kundera, welche kulturhistorische Bedeutung Böhmen im Besonderen und Mitteleuropa als Ganzes haben: „Böhmen, Polen, Ungarn aber haben, ebenso wenig wie Österreich, nie zu Osteuropa gehört“. Wie er betont, waren diese Länder von Anfang an am „großen Abenteuer der westlichen Zivilisation“ beteiligt – einschließlich der Gotik, Renaissance und Reformation.

 

4. Fazit: Kepesh, Zuckerman, Roth und Prag

Mit Prag betreten Kepesh und Zuckerman eine Zwischenwelt, denn das freie, intellektuelle, historisch bedeutende Prag existiert nicht mehr. Das Dasein der tschechischen Hauptfiguren Soska und Olga drückt die Entfremdung von ihrer Heimatstadt und ihrer Kultur aus. Kepesh und Zuckerman sind Männer, deren Gefühlswelt oft nicht in Einklang mit ihren Entscheidungen ist. Sie sind Suchende. Gefangen in seiner inneren Widersprüchlichkeit sucht Kepesh nach der einen Lebensführung, die ihn zur Ruhe kommen lässt. In Zuckermans Fall ist es die dauerhafte Suche nach literarischen Vorbildern – darunter Henry James, Anne Frank, Franz Kafka sowie der fiktive Lonoff –, die ihn zu einer rastlosen Figur machen. In Prag relativieren sich all diese Dinge. Die Willkürlichkeit einer feindlichen Ideologie setzt in Kepesh und Zuckerman Energien frei, durch die sie als zielbewusstere und reifere Menschen in ihr Heimatland zurückkehren.

Was Kepesh und Zuckerman ebenfalls verbindet, ist ihre Rückbesinnung auf die jüdische Geschichte Europas. Sowohl in The Professor of Desire als auch in The Prague Orgy ist der  Bezug zu den europäischen Vorfahren für die Protagonisten zunächst irrelevant; zumindest scheinen sie dies zu glauben. Diese Haltung ändert sich mit Kepeshs und Zuckermans Ankunft in Prag. In einer Zeitspanne von wenigen Tagen haben beide Männer intensive Erlebnisse, die in ihnen intensive Gefühle auslösen. In Prag – das in der jüdischen Tradition als „Mutter in Israel“ bekannt ist – nehmen sie ihre jüdischen Wurzeln bewusster wahr. Sie sehen die Geschichte ihrer Familien in einem anderen Licht. Diese Erfahrung versuchen sie als kreative und identitätsstiftende Komponente für ihr Leben und ihr Schreiben zu nutzen. Kepesh und Zuckerman sind Kinder der sogenannten dritten Generation. Für sie ist der europäische Kontinent und seine jüdische Geschichte eine Welt, die sie nur indirekt kennen – oder in Eva Hoffmans Worten „by extension“. Kepesh und Zuckerman haben konkrete Gründe, in diese Welt zu reisen. Gleichzeitig spüren sie intuitiv, dass eine Kraft sie antreibt, diese Welt zu betreten.

Mit The Professor of Desire und The Prague Orgy stellt Philip Roth zwei Geschichten vor, die –  um an die eingangs erwähnten Reiseaufzeichnungen Washington Irvings anzuknüpfen –  Teil einer langen narrativen Kette sind. In dieser Kette stellt die Stadt Prag das zentrale Verbindungsstück dar. Als Teil dieser Tradition schuf Roth die Grundlage, auf der spätere Vor- und Darstellungen von Prag in der amerikanischen Literatur entstehen konnten.

 

Lektüreempfehlungen und Anmerkungen:

1. Für eine ausführliche Besprechung Franz Kafkas als intertextueller Bezugspunkt in Roths Erzählwerk sowie für einen Blick in die US-amerikanische und tschechische Kafka-Rezeption siehe Prag in der amerikanischen Literatur: Cynthia Ozick und Philip Roth von Simone Kraus (Verlag Peter Lang, 2015).

2. Cynthia Ozicks Roman The Puttermesser Papers handelt von einer geistigen Annäherung an Prag, die das Erzählgeschehen maßgeblich bestimmt. Die Textstellen, in denen Prag konkret genannt wird, sind auf ein Minimum beschränkt. Doch gerade mit einer engen Fokussierung auf topographische und historische Bezüge gelingt es Ozick, die Bedeutung dessen, was genannt wird, zu unterstreichen. Die Erschaffung von Puttermessers Golem Xanthippe und die vorübergehende Erneuerung der Stadt New York bilden den zentralen Teil des Romans.

3. Als Kapitel mit dem Titel On Portnoy’s Complaint ist Roths Gespräch mit George Plimpton aus dem Jahr 1969 in Roths Aufsatz-/Interview-Sammlung Reading Myself and Others enthalten.

4. In ihrem Buch After Such Knowledge: A Meditation on the Aftermath of the Holocaust beleuchtet Eva Hoffman, was der Holocaust für die Nachfahren von Überlebenden—„the so-called second generation“—bedeutet. Mit Blick auf die Unterscheidung zwischen den Bezeichnungen „Central Europe“ und „Eastern Europe“ ist auch ihr autobiographisches Werk Exit into History: A Journey through the New Eastern Europe von Interesse.

5. Für einen Einblick in Romane, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs publiziert wurden, siehe auch Prague (2002) von Arthur Phillips, The Russian Debutante’s Handbook (2002) von Gary Shteyngart sowie Everything Is Illuminated (2002) von Jonathan Safran Foer. Diese Romane weisen direkte und indirekte Bezüge zu Prag auf.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz