Klasse oder Masse?

Bodo Plachta legt ein Handbuch zur neugermanistischen Edition im Wandel vor

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1997 erschien bei Reclam Bodo Plachtas Einführung Editionswissenschaft, damals in der bewährten Reihe „Literaturstudium“, also offenbar vor allem für Studierende gedacht. Der Band ist das lesbarste und zugleich anspruchsvollste Lehrwerk zum Thema Edition, das man sich für Studierende der germanistischen Literaturwissenschaft denken kann. Das vom Verfasser dieser Rezension in vielen Seminaren genutzte Büchlein vermag nachgeborene Leser*innen vom Sinn und Nutzen der Edition zu überzeugen, die vom Autor mit Bedauern konstatierte Hemmschwelle der eigentlichen Zielgruppe ist leicht überwunden. Didaktisch höchst sinnvoll ist der Aufbau: Ausgehend von Editionstypen und von einer Institutionengeschichte wird Editionstheorie und -praxis sowohl produktions- als auch überlieferungs- und rezeptionsseitig abgehandelt, werden Vor- und Nachteile des konstituierten (Lese-)Texts diskutiert und wird die einem kanonischen Autor gewidmete historisch-kritische Werkausgabe mit ausgabenspezifisch komplexer Variantendarstellung als editorische Höchstleistung gerühmt.

Erweitert, aktualisiert und in verwandelter Gestalt kommt das Bändchen im Jahre 2020 als Handbuch wieder, ein Format, das sich wohl eher den Editor*innen selbst empfiehlt als einem akademischen Lesepublikum. Es wäre dann also mehr Ratgeber für die eigene Praxis als Vorschule des Lesens historisch-kritischer Ausgaben.

Die Historie des Edierens seit Karl Lachmann, Karl Goedeke, Bernhard Suphan und seit der Weimarer Goethe-Ausgabe bildete im ursprünglichen Bändchen schon einen Schwerpunkt – mit einem kulturkritisch gewendeten Ausblick am Ende auf Dietrich Sattlers Frankfurter Hölderlin-Ausgabe sowie Roland Reuß’ und Peter Staengles Brandenburger Kleist-Ausgabe, die in den Augen vieler Kritiker das Ende editorischer Kunst einzuläuten schienen (sich aber bei einem akademischen wie auch bei einem breiten nichtakademischen Publikum durchgesetzt haben!). Handschriften- und Druckfaksimiles hielten Einzug in die Edition, der („Normal-“?)Leser sollte plötzlich editorische Entscheidungen kritisch begleiten oder gar höchstselbst treffen. Andererseits war der Appell Hans Zellers und anderer zugunsten einer theoretischen Begründung der Edition zu verzeichnen, hatte sich das Jahrbuch „editio“ bereits etabliert und hatte sich die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition gegründet – Garanten einer Transformation der Editorik in eine vollgültige, auch mit Studiengängen ausgestattete Wissenschaft.

An die editionsgeschichtliche und -methodische Situation der 90er Jahre knüpft nun auch der vorliegende Band an. Das Handbuch bietet neben einer Geschichte des Edierens Theorie plus Anschaulichkeit mittels einer großen Auswahl an Best-Practice-Modellen – etwa von Friedrich Beißner, Hans Zeller, Gunter Martens, Klaus Hurlebusch. Dabei werden mehrere Perspektiven bedient, nämlich die der Entstehung/Textgenese und Überlieferung einerseits, die der editorischen Arbeitsweisen andererseits. Folglich wird so manches Phänomen auch mehrfach, mal materialaffin, mal akteuraffin, betrachtet.

Sosehr Plachta daran gelegen ist, Handbuchwissen als gesichertes Wissen zu vermitteln, so wenig kann er den Wandel im editorischen Bemühen verleugnen. Die Rolle des Editors verändert sich: Sein „Schatten“ (Hans Zeller) ist in der Edition nach wie vor sichtbar – aber längst ist die „‚autoritätsfreie‘ Dokumentation“ (Klaus Kanzog) des Überlieferten hehres Ziel.

Nur scheinbar hatten Editoren den großen Autoren Denkmäler aus Papier und Leinen errichtet – der kritische Blick des Editors wollte im Zweifel immer genauer sein als einst der Autor, hätte diesen im Grunde gern über sich selbst aufgeklärt. Doch mit der Autorität des kanonischen Dichters steht auch die des Editors zunehmend in Frage: Er tritt nun mehr und mehr hinter das Material zurück, will so wenig wie möglich entscheiden, überlässt es der Leserin und dem Leser, die Edition als Angebot zu begreifen, aus dem sie sich das aussucht, was sie gerade benötigt. Der klassische „edierte Text“ als les- und genießbares Endergebnis ist längst nicht mehr unumstritten – Plachta freilich setzt sich mit Verve dafür ein, dass er erhalten bleibe. Zur Disposition stehen gleichwohl die Beschränkung der Edition auf den Kanon, eine Publikation bevorzugt in Buchform und die Verfügbarkeit allein in großen Bibliotheken; auf dem Prüfstand steht das Ideal der Vollständigkeit, aufgewertet werden Bibliothek und Archiv vom Dienstleister zum gleichberechtigten Partner. Plachta sieht dies alles, anerkennt auch den Mehrwert digitaler Editionen und integriert deren Methoden nach Möglichkeit in seine Konzeption klassisch zu nennenden Edierens, während gleichzeitig Editionen zu erscheinen beginnen, die umgekehrt klassisches Edieren in ihre Konzeptionen von Bild- und Textdigitalisierung, von linked open data und open access einzubinden unternehmen.

Die sich in Plachtas Handbuch abzeichnende Geschichte der Edition scheint sich von Masse (im 19. Jahrhundert) zu Klasse und damit zu einer theoretischen Begründungspflicht des Edierens vor allem zum Ende des 20. Jahrhunderts hin zu entwickeln – kehren wir nun wieder von ‚Klasse‘ zurück zur ‚Masse‘ fast beliebiger ‚Daten‘? Stecken wir schon mitten in einer Nachgeschichte des Edierens, in der die im vorliegenden Handbuch noch einmal akribisch präsentierten, über fast 200 Jahre gewachsenen Methoden und Techniken des Edierens – zusammen mit philologischer Bildung überhaupt – langsam verschütt gehen? Oder bildet die Ära von Lachmann bis Sattler vielmehr die Vorgeschichte einer Editionswissenschaft, die sich als vorrangig digitale Wissenschaft erst zu etablieren beginnt und die ihre Vorzüge peu à peu – Enttäuschungen inbegriffen – zu entfalten weiß?

Die vielfältigen Veränderungen editorischer Praxis in den vergangenen Jahrzehnten nimmt Bodo Plachta sehr wohl zur Kenntnis;  international sei das Edieren geworden, interdisziplinär, medien- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen seien ebenso hinzugekommen wie solche zur Materialität, zu Schreibprozessen, zu Werkpolitik und Literaturbetrieb. Hervorzuheben ist hier das für Fragen der Materialität offene Kapitel „Überlieferung“. Längst also ist nicht mehr allein die hohe Kunst der Variantendarstellung A und O der Edition. Denkt man an laufende Projekte und zur Verfügung stehende Fördergelder, steht fest, dass sich die Editionswissenschaft institutionell zunehmend verfestigt hat. Offen ist, wie sie künftig mit all ihren Chancen umgeht.

Ganz am Ende des Bandes erfährt der im digitalen Zeitalter eingeleitete Wandel erhöhte Aufmerksamkeit, schon 1997 hatte Plachta hellsichtig die Möglichkeiten wie die Grenzen digitalen Edierens erkannt und auf künftige Segnungen des Hypertexts verwiesen. Auch Gefahren hatte er beschworen, sei es eine Konsumhaltung oder eine beliebige Anhäufung von Material, dem editorische und damit: wissenschaftliche Durchdringung fehlt. Plachta listet zahlreiche Vorzüge der digitalen Edition auf, erkennt solche aber vor allem auf dem Gebiet der Datensammlung und -präsentation (zumal in quantitativer Hinsicht), weniger bezüglich eines möglichen editionstheoretischen Schubs und das hieße: einer Neudefinition von Textkritik. Dass durch Extraktion und Weiterverarbeitung hochwertiger Meta- und Registerdaten beispielsweise komplexe Suchoptionen und schließlich auch neue Erkenntnisse zu erwarten seien, sieht er durchaus. Hier liegen zahlreiche Herausforderungen inzwischen offen zutage. Als beispielhaft benennt er die abgeschlossene Faust-Hybrid-Edition sowie die im Entstehen begriffene Online-Edition von Arthur Schnitzlers Werken der Jahre 1904 bis 1931.

Weder das Faksimile noch das breite ‚Angebot‘ an Materialien ersetzt den Edierten Text – diesen Grundsatz gibt Plachta künftigen Editor*innen mit auf den Weg: ‚Klasse statt Masse‘ bleibt seine Parole – wenngleich in der ausgefeilten digitalen Edition Materialsicht und genetische Sicht dominieren, gar ein Selbstverständnis der Multiperspektivität herrscht.

Plachta denkt die Editionswissenschaft konsequent historisch und er denkt sie von den großen Editionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts her, von der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe bis zur Marburger Büchner-Ausgabe. Das Kompendium vermittelt den aktuellen Stand der Dinge, vorsichtig blickt der Verfasser in die schier unvermeidliche Zukunft des Digitalen. Was Wunder: Bislang hält die digitale Edition nicht immer, was sie verspricht, bleibt in ihrer Benutzbarkeit und vielleicht noch häufiger auch in ihrem textkritischen Anspruch hinter den Erwartungen und hinter ihren Vorgängern zurück. Statt im ‚händischen‘, qualitativen Arbeiten einer gut ausgebildeten und somit teuren Editorin sucht man sein Heil in automatisierten Verfahren – auch wenn es um das Transkribieren von Handschriften geht. Edition unter den Auspizien von Klasse sensu Plachta muss – crowdsourcing und machine learning zum Trotz – erhalten bleiben. Dies fordert das vorliegende Handbuch mit vollem Nachdruck und mit vollem Recht ein.

Titelbild

Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Handbuch zu Geschichte, Methode und Praxis der neugermanistischen Edition.
Hiersemann Verlag, Stuttgart 2020.
VII, 288 Seiten , 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783777220086

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