So war das Mittelalter wirklich

Goslar und sein Recht

Von Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn wir gemeinhin auf das Mittelalter blicken, haben wir edle Ritter, große Helden, Minnedamen und Aventiuren im Blick. Aus der Perspektive der Moderne fällt häufig auch das Diktum ‚finster‘ beziehungsweise ‚rückständig‘. Der vorliegende Sammelband lässt diese Vorurteile erst gar nicht zu, denn es geht um das mittelalterliche Leben an sich, um so etwas wie die Rechts- und Lebenswirklichkeit. Wie sehr dabei Recht und Verwaltung – heute würde man vielleicht von ‚Rechtsstaatlichkeit‘ sprechen –  eine Rolle spielen, überrascht und zwingt zu einer kritischen Revision der Mittelaltervorstellungen. Blicken wir also hinein in diese Lebenswirklichkeit.

Zunächst begegnen wir dem Landrecht, das im gesamten Reich den Rahmen vorgibt, und schließlich dem im 14. Jahrhundert kodifizierten Goslarer Stadtrecht. Um die mittelalterliche Harzmetropole Goslar dreht sich fortan alles im Buch. In gut einem Dutzend Einzelbeiträgen wird die Dimension dieser Rechtswirklichkeit entfaltet. Wie sehr wir es hier mit einem generellen Phänomen zu tun haben, kommt in Dieter Pötschkes Skizze zur Ausstrahlung des Goslarer Rechts auf andere Städte zum Ausdruck. Gezeigt wird, wie sich schon im 13. Jahrhundert überall im deutschen Sprachraum, dann aber vor allem seit dem 14. Jahrhundert, Rechts- und Verwaltungsstrukturen entwickeln, die ein friedliches Zusammenleben sowie vor allem dem sich mit rasanter Dynamik entwickelnden Fernhandel grundlegende Strukturen geben. Es kristallisieren sich dabei Rechtsfamilien heraus, die jeweils für Jahrhunderte und letztlich bis heute ganze Räume prägen – so das Lübische Recht den Ostseeraum bis hinauf nach Riga, Reval (Tallinn) und Nowgorod oder das Magdeburger Recht den Osten bis hinein nach Russland. In Goslar entwickelt sich über rund zwei Jahrhunderte ebenfalls ein solches Basisrecht. Es wirkt freilich primär im engeren Umfeld (zum Beispiel in Altenburg und Osterode).

Mehrere Beiträge im Sammelband nehmen Längs- und Querschnitte in eben dieses Goslarer Recht vor. So werden einzelne Ämter, wie der Reichs- und später Stadtvogt, Rechtsvorschriften, aber auch Beziehungen zu anderen Rechtsfamilien herausgearbeitet. Letztlich erfährt der Leser en detail Vieles zur konkreten Lebenssituation, und zwar nicht nur zu einer auch durch andere schriftliche Quellen greifbaren Elite, sondern über die gesamte Breite der Stadtbevölkerung hinweg. Seitenblicke auf Berlin, Quedlinburg, Wernigerode, Braunschweig oder Echtedingen ergänzen diese Einzelbilder zu einem auch geographischen Ganzen.

Als Beispiele seien das Recht der Handwerker und das Strafrecht herausgegriffen: Die Handwerker spielen für jede mittelalterliche Stadt eine wichtige Rolle, stellen sie doch eine der wirtschaftlichen Grundlagen. In Goslar – wie überhaupt für diese Zeit üblich – sind die Handwerker in Gilden organisiert, die als Große Gilde (ab 1290) mit Kaufleuten, Krämern, Bäckern, Schuhmachern und Fleischern und als Kleine Gilde mit Schmieden und Kürschnern explizit in der Ratsverfassung verankert sind. Die Aufnahme in eine dieser Gilden ist für die Ausübung des jeweiligen Handwerks verbindlich und kostet eine nicht unerhebliche Summe. Neben diesen fest organisierten ratsfähigen Handwerkern gibt es eine Reihe nicht ratsfähiger Handwerke: Goldschmiede, Glockengießer, Tischler, Färber und so fort. Der Ratskodex regelt für all diese Handwerke sowohl Branchenspezifika wie allgemeine Bestimmungen. Es wird beispielsweise genau geregelt, was ein Schmied schmieden darf und dass man für die Herstellung bestimmter Werkzeuge Mitglied der Schmiedegilde sein muss. Es finden sich detaillierte Bestimmungen für Stadtfremde. So darf kein Gast (Stadtfremder) Messer verkaufen oder Äxte, Sensen, Sicheln und Schneidwerkzeuge herstellen. Ganz besonders scharf sind die Bestimmungen für Gold- und Silberschmiede, die schwören müssen, dass sie „kein schlechteres Geld – gemeint ist Silber – machen als zu halbem Lot. Und mit keinem Schildergold soll er vergolden, vielmehr mit schimmerndem, reinem Golde oder mit kleinen Florentinen; auch soll er kein Gold schlechter machen, als es ihm übergeben wird“. Es wird greifbar, wie bedeutsam auch schon in der mittelalterlichen Gesellschaft die Betrugsproblematik war.

Aus moderner Perspektive besonders Interessant ist das Strafrecht, geht es doch grundsätzlich von anderen Prämissen aus. Grundidee sind die spiegelnden Strafen, das heißt jede Tat wird in der Strafe 1:1 widergespiegelt: Wer jemanden tötet oder verwundet, der wird selbst getötet; man schlägt ihm das Haupt ab. Im Goslarer Strafrecht sind die Strafen allerdings um ein Vielfaches radikaler als selbst im mittelalterlichen Maßstab üblich: Wer jemanden vergiftet, der wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt; wer Diebstahl oder Friedensbruch begeht, wird lebendig begraben; wer stiehlt, was mehr als fünf Schillinge wert ist, der kommt an den Galgen. Anders als beispielsweise im ‚Sachsenspiegel‘ des Eike von Repgow sind im Goslarer Recht auch keine Optionen des materiellen Schadensausgleichs oder der Buße zu finden. Eigentlich war es im mittelalterlich-germanischen Recht gang und gäbe, durch Sühneleistungen und Geldzahlungen die Strafen ablösen oder durch Buße göttliche Vergebung erlangen zu können. In Goslar nicht! Wie heute ist das Grundziel aller Strafandrohungen jedoch ‚irgendwie‘ identisch: die Bewahrung beziehungsweise Wiederherstellung des Rechtsfriedens.

Der Band bietet selbstverständlich noch unzählige weitere Beispiele, führt in Sakralräume, erläutert die Bedeutung der Rolande als Rechtssymbole, führt die Geschichte weiter bis zu den Polizeiordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Viele, teilweise auch farbige Abbildungen, machen das Gesagte transparent und erhöhen ganz nebenbei auch das Lesevergnügen – das bei so vielen neuen, überraschenden Einblicken in das wirkliche Leben aber sowieso garantiert ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Dieter Pötschke / Wilhelm Brauneder / Gerhard Lingelbach: Stadtrechte, Willküren und Polizeiordnungen. Teil I: Goslar und Wernigerode.
Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2017.
256 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783867322669

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