Werde, der Du bist!
In „Ich bin Dynamit“ erzählt Sue Prideaux das Leben des Friedrich Nietzsche neu
Von Stefanie Leibetseder
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Anschluss an zwei preisgekrönte Biografien über Edvard Munch und August Strindberg hat die Kunsthistorikerin Sue Prideaux die vorliegende, ebenfalls sehr erfolgreiche, Biografie über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900) mit dem treffenden Titel: Ich bin Dynamit verfasst. Flüssig und mit abwechslungsreichen Schilderungen geschrieben rekapituliert sie die vielfach verschlungene Lebensreise des protestantischen Pfarrersohnes aus Röcken aus Naumburg und führt in dessen Œuvre ein. Gleichzeitig räumt sie en passant mit vielen liebgewordenen Klischees und Vorurteilen über Person und Werk Nietzsches auf.
Wie ein roter Faden zieht sich das von Beginn an ambivalente Verhältnis des vaterlos nur mit Mutter und Schwester aufgewachsenen Friedrich zu eben diesen durch das Buch: sinnfällig geworden in Nietzsches Bild von der „Ketten-Krankheit“, d. h. des unauflösbar aneinander Gekettetseins. Zunächst startete der Junge seine Ausbildung mit dem Ziel wie sein Vater Pfarrer zu werden, und zwar unter anderem in der altehrwürdigen Fürstenschule Schulpforta bei Naumburg, wo er den Lehrern durch sein Talent in den alten Sprachen auffiel: Als er wegen mangelnder Leistungen in Mathematik das Abitur nicht bestehen sollte, war es sein Mathematiklehrer, der den Kollegen in einem berühmt gewordenen Ausspruch entgegenhielt, sie könnten nicht dem begabtesten Schüler, den die Pforte jemals hervorgebracht habe, das Abschlusszeugnis verwehren. Noch heute zeugt eine Gedenkplakette neben dem Eingang des Hauptgebäudes in Pforta von Nietzsches dortigem Schulbesuch.
Im Anschluss daran nahm Nietzsche seine Studien der Theologie und Philologie in Bonn und Leipzig auf, wo er das Werk des Philosophen Arthur Schopenhauers kennenlernte, das ihn in der Folge stark beeinflussen sollte. In diese Zeit fällt auch ein Bordell-Aufenthalt, um den sich später viele Gerüchte ranken sollten. Nach seinem Militärdienst kam es durch seine Begeisterung für Richard Wagners Musik zunächst zu einer Begegnung und im Weiteren zu einer langjährigen Bekanntschaft mit dem Ehepaar Wagner, das zur Zeit von Nietzsches späterer Professur an der Universität Basel im unweit davon gelegenen Tribschen wohnte. Unmittelbarer Ausfluss davon ist Nietzsches kulturgeschichtlich einflussreiche Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1871), in der er das Begriffspaar apollinisch-dionysisch für den Gegensatz von Form und Entgrenzung prägte. In die Baseler Zeit fiel auch der Beginn der lebenslangen Freundschaft mit dem Theologie-Professor Franz Overbeck und dem Kulturhistoriker Jacob Burckhardt. Nietzsche verlor immer mehr das Interesse an der Philologie und fühlte sich zur Philosophie hingezogen, für die er jedoch im Kontrast zu Schopenhauers weltverneinender Betrachtungsweise eine Umwertung aller Werte anstrebte, wie sich in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) nachlesen lässt.
Nachdem er 1876 mit der Niederschrift der zwei Jahre später veröffentlichten Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches begann, die schon im Titel Bezug auf Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit nimmt, verließ er schwer geplagt von zahlreichen Krankheiten, darunter Magenkatarrh und zunehmende Sehstörungen bis hin zur teilweisen Erblindung, die Universität Basel. Von da an begann er auf der Suche nach Erlösung von seinen zahlreichen Leiden ein ausgeprägtes Wanderleben, und zwar hielt sich Nietzsche wegen der guten Luft fortan besonders gern im Hochgebirge – vor allem in Sils Maria im Tessin – und am Meer, u. a. in Genua, auf. Während dieser Reisen entstanden in den Jahren 1881–1885 unter anderem die vier Teile seines bekannten sprach- und erkenntnistheoretischen Werkes Also sprach Zarathustra.
Alle seine damaligen Werke verkauften sich jedoch schlecht und er lebte von einer Pension der Universität. Allerdings fand er in dieser Zeit neben anderen Frauen wie Meta von Salis-Marschlins und Resa von Schirnhofer mit Lou von Salomé Kontakt zu derjenigen Frau, die ihn vor allem auch intellektuell am meisten inspirieren sollte; eine Verbindung, die von seiner eifersüchtigen Schwester Elisabeth rücksichtslos hintertrieben wurde. Nietzsche nannte sie wegen ihrer geistigen Beschränktheit und Borniertheit Das Lama und brach mit ihr und der Mutter. Elisabeth heiratete später mit Bernhard Förster einen ausgesprochenen Antisemiten, dem sie nach Paraguay folgte, um dort die Siedlung Nueva Germania zu gründen, die sich als Fehlschlag herausstellen sollte.
Nachdem er 1887 die Schriften Zur Genealogie der Moral, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft veröffentlicht hatte, fand Nietzsche mit den Kopenhagener Vorlesungen von Georg Brandes 1888 endlich öffentliche Anerkennung und schrieb seine letzten bleibenden Werke, darunter: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert; Der Antichrist. Fluch auf das Christentum und vor allem seine Autobiografie Ecce Homo. Wie man wird, was man ist. Verfolgte er in der Götzen-Dämmerung weiter sein Ziel der Umwertung aller bisherigen Werte, so rechnete der Pfarrersohn Nietzsche in der Schrift Antichrist in schärfster Form mit dem Christentum seiner Zeit ab, dem er als Religion eine Sklavenmoral vorwarf: Die Bergpredigt sei demnach, verkürzt gesagt, etwas für Schwächlinge, es gelte das Mitleid in seiner Form als Leiden mit dem Anderen zu überwinden, und zwar zugunsten des entgegengesetzten positiven Affekts, der Mitfreude! Der Titel seiner Autobiografie Ecce Homo spielt hingegen auf die Worte des Pontius Pilatus über den gegeißelten Christus an und lässt Nietzsche hiermit Christus gleich erscheinen. Er kontrastierte dies jedoch durch den Untertitel der Schrift, eine Anspielung auf die Sentenz des antiken griechischen Dichters Pindar: Werde, der Du bist! Das Werk selbst dient der Erläuterung von Nietzsches Philosophie, es stellt jedoch auch eine bissige Travestie des Genres der Autobiographie dar.
In die Zeit vor der Jahrhundertwende, in der sich Nietzsches Ruhm besonders unter der jüngeren Generation langsam zu entfalten beginnt, fällt sein Zusammenbruch 1889 in Turin. Man diagnostizierte damals bei ihm; ob zu Recht, ist aufgrund verschiedener Geisteskrankheiten in seiner Familie bis heute ungeklärt, die Spätfolgen der Syphilis, basierend auf seinem einzigen und noch dazu irrtümlichen Bordell-Besuch während seines Studiums. Es folgten Aufenthalte in den Psychiatrischen Kliniken in Basel und Jena, ehe ihn 1890 seine Mutter zur Pflege nach Naumburg zu sich nahm. Sein geistiger Zustand verschlechterte sich nun immer mehr. Sein Ansehen verbreitete sich dagegen zunehmend, weshalb seine Schwester, die sich nun Förster-Nietzsche nannte, der Mutter die Obhut über den Kranken entwand und mit Nietzsche und seinen Schriften nach Weimar in die von Henry van de Velde repräsentativ umgestaltete Villa Silberblick umzog, um das Nietzsche-Archiv zu gründen. Hierfür zog sie den gesamten erreichbaren Schriftwechsel ihres Bruders an sich, aus dem sie mit ausgesprochen krimineller Energie sämtliche Textstellen tilgte, aus denen dessen negatives Verhältnis zu ihr hervorging. Deshalb bildet das Baseler Universitätsarchiv mit dem Schriftwechsel Overbecks und Burckhardts eine Gegenüberlieferung zu Weimar, denn die dortigen Schriften spiegeln das authentische Verhältnis Nietzsches zum Lama.
Auch wenn es heute Positionen gibt, die dagegen sprechen, das Lama zum Sündenbock zu stempeln, so ist mit Prideaux festzuhalten, dass die verzerrende Nietzsche-Rezeption des Nationalsozialismus mitsamt der Publikation Der Wille zur Macht auf die verfälschenden Eingriffe des Lamas in seine Werke zurückgeht, denn Nietzsche war weder Nationalist noch Antisemit. Der Übermensch ist in seinem Verständnis ein Mensch, der im Ringen mit sich selbst über sich siegt. Sein negativ gefärbtes Frauenbild speist sich hingegen wohl aus den Erfahrungen im Umgang mit Mutter und Schwester.
Abschließend festzuhalten ist leider: Das Lama hat gesiegt und es wird wohl noch vieler Bemühungen bedürfen, das Werk Nietzsches von seinen Verstümmelungen und Verzeichnungen zu befreien. Sue Prideaux hat mit ihrer Biografie einen Beitrag dazu geleistet, der vor allem den Menschen Nietzsche ins Zentrum rückt und umso mehr zu schätzen ist, als sich ihr Buch, anders als Nietzsches Schriften, ausgesprochen unterhaltsam liest.
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