Der erste große Entwurf

Marcel Prousts „Das Flimmern des Herzens“ auf Deutsch

Von Olaf KistenmacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Kistenmacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es kann ein Vergnügen sein, einer bildenden Künstlerin oder einem bildenden Künstler bei den ersten Skizzen zuzuschauen. Zunächst sind auf dem Papier oder der Leinwand nur vereinzelte Striche und Farbflächen zu sehen, dann entsteht mit einem Mal durch einen Strich, eine Schraffur oder eine Farbfläche ein Bild, das wir, die Betrachterinnen und Betrachter, unweigerlich ergänzen und erweitern. Wir stellen uns vor, ohne dass wir es wollen müssen, wie das endgültige Gemälde aussehen könnte. Doch dann ändert sich etwas auf der Leinwand, wird übermalt, ergänzt, und es entsteht wieder ein anderes Bild, erneut tun sich Welten auf und alternative Versionen des ursprünglichen Motivs werden erahnbar. So dokumentierte es Henri-Georges Clouzot 1956 in seinem Film Le Mystère Picasso. Das Schreiben eines Romans stellt man sich landläufig ganz anders vor. Hat die Autorin oder der Autor erst einmal den Plot und den Einstieg gefunden, scheint das Schreiben im Unterschied zur bildenden Kunst ein linearer Prozess zu sein – auch wenn manche Autorin oder mancher Autor länger an einem einzelnen Satz herumfeilt, woran in Albert Camus’ Roman Die Pest der Schriftsteller Joseph Grand verzweifelt.

Marcel Prousts großer Roman Á la recherche du temps perdu scheint eher wie ein Gemälde entstanden zu sein, wie man jetzt anhand der erstmals vorliegenden Übersetzung von Das Flimmern des Herzens nachverfolgen kann. Die korrigierten, oder besser: die überarbeiteten und überschriebenen Druckfahnen von Intermittences de cœur lagen lange in Archiven und sind auch im Original erst 2013, zum Jahrestag der ersten Veröffentlichung des ersten Bandes von Á la recherche du temps perdu, erschienen. Die Andere Bibliothek hat nun eine aufwändige, mehrfarbige deutsche Fassung herausgebracht, die es erlaubt, die ursprüngliche Version mit ihren Streichungen und Ergänzungen und die endgültige Fassung in ihren verschiedenen Stadien parallel zu lesen. So zeigt sich, dass Proust nicht nur lange nach dem berühmt gewordenen ersten Satz „Lange Zeit bin ich früh zu Bett gegangen“ suchte, den der Übersetzer Stefan Zweifel nun in „Lange Zeit, ging ich zu guter Stunde zu Bett“ umwandelt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wunderte sich der Proust-Experte und -Übersetzer Jürgen Ritte schon über das sonderbare Komma und fand auch ansonsten die neue Fassung nicht besser als die bislang übliche.

Die Gegenüberstellung der beiden Fassungen des Beginns von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zeigt, wie intensiv Proust die 1913 eingereichte ursprüngliche Fassung überarbeitete: Er strich weite Passage, schrieb neue. Zu Recht wählt Zweifel als Motto für seine Einleitung eine Bemerkung Roland Barthes’, der auf Prousts Schreiben den Begriff der „Sade’schen ecriture“, eine Form der „Korrektur“, die „niemals im Streichen [besteht], sie kastriert nicht“, sondern ergänzt, fügt hinzu, und die Proust mit Jean-Jacques Rousseau, Stendhal und Honoréde Balzac verbinde. Prousts Vorgehen erinnert nicht nur ans Malen, sondern auch das Ergebnis erinnert an ein Bild: „Mein Buch ist ein Gemälde“, wird Proust später über seinen großen Roman sagen. Auch im Roman selbst klingt das an. Der Ich-Erzähler vergleicht sich mit einem Maler, dem nicht viel Zeit bleibt und der „aus der Erinnerung“ die Stellen eines Porträts ausführt, für die „die Gegenwart des Modells nicht zwingend notwendig ist“. Prousts Überarbeitungseifer ist allerdings insofern erstaunlich, als in der ersten Fassung eigentlich schon alles enthalten ist. Wie Zweifel in seiner Einleitung schreibt, bestehe ein „Paradox“: Proust habe „ein ganz neues Buch geschrieben – und: es hat sich nichts verändert.“

Tatsächlich ist das nun übersetzte Flimmern des Herzens kein neues Buch, sondern eine frühere Version des ersten Bands von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, des Anfangs von Unterwegs zu Swann beziehungsweise Auf dem Weg zu Swann. Doch die deutsche Ausgabe bietet mehr, indem sie die frühere der endgültigen Fassung gegenüberstellt. Ob durch diese Parallelstellung „zwischen ihnen“, wie Zweifel hofft, ein „drittes Buch“ entsteht, lässt sich bezweifeln. Doch es wird erkennbar, wie Proust die großen Themen seines großen Romans konturierte.

Ein – bislang nicht vollständig ausgeleuchtetes – Thema ist die mitunter latente, mitunter offen artikulierte Judenfeindschaft in Frankreich (siehe „Die innere Dunkelkammer“), die sich entsprechend gegen die titelgebende Figur des ersten Bands, Charles Swann, richtet. Swann ist, wie der Literaturwissenschaftler Hanno Helbling in Erinnertes Leben. Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ hervorhebt, für den Ich-Erzähler „der erste nicht zur Familie oder zum Haus gehörige Erwachsene“. Das war in Das Flimmern des Herzens noch nicht der Fall: Dort tauchte zugleich mit Swann ein Monsieur Vington auf, der die naturwissenschaftliche Rationalität verkörpert und den Proust in der endgültigen Fassung viel später auftreten lässt. Das Thema des Judentums ist auf verschiedene Weise latent von Anfang an präsent, zum Beispiel als der Verhaltenskodex der Hausangestellten Françoise charakterisiert wird, der aus einer fernen Vergangenheit zu stammen schien, die „in ihr“ fortlebte. Zur Erklärung heißt es in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, dieser Kodex habe „den Anschein“ von „antiken Gesetze[n]“; als Beispiel werden koschere Kochvorschriften genannt. In der ursprünglichen Version, Das Flimmern des Herzens, hieß es hingegen noch ausdrücklich: „das alte Gesetz der Juden“.

Das Thema der jahrtausendealten Religion und der Traditionen des Judentums, das auf eine noch weiter zurückreichende Geschichte zurückblicken kann als die französischen Adligen, die in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit so stolz auf ihre Genealogie sind, ist für die Anlage des Romans wichtig. Doch für die endgültige Fassung ließ Proust das Thema im ersten Band unterschwellig anklingen, um es erst in den folgenden Bänden herauszuarbeiten.

Außer der ursprünglichen Version Das Flimmern des Herzens enthält der deutschsprachige Band verworfene Skizzen. In einem solchen Entwurf sagt der Erzähler von seinem Großvater noch explizit, dass er „Juden nicht mochte“. So deutlich wird die Judenfeindschaft des Großvaters in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nicht benannt. Zwar pfeift der Großvater gern eine Melodie aus Fromental Halévys Oper La Juive, wenn der Erzähler von einem jüdischen Schulkameraden besucht wird – in der ursprünglichen Fassung stimmt der Großvater bei solchen Gelegenheiten sogar den Gesang Israel brich deine Fesseln an –, er ist auch nicht davon abzubringen, jedes Mal „die jüdische Abkunft all meiner Freunde“ zu erraten. Doch der Erzähler schränkt in der frühen wie auch in der endgültigen Fassung sogleich ein: „Diese kleinen Ticks meines Großvaters bedeuteten keinerlei missgünstige Gefühle gegenüber meinen Kameraden.“

Handschriftlich hatte Proust ursprünglich ergänzt, dass über dieses Verhalten auch der „Israelit Swann“ gelacht habe, „im Wissen, dass mein Großvater ihm gegenüber in keiner Weise feindlich gesinnt war“. So schwer greifbar war eine subtile Form der Judenfeindschaft also bereits vor über 100 Jahren. Später, im sechsten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, wird der Ich-Erzähler darauf hinweisen, dass Adlige Bürgerlichen mitunter „schmeicheln“ würden, um sie auf subtile Weise zu „demütigen“, ganz so wie auch „ein Antisemit zu einem Juden [spreche], den er im gleichen Augenblick mit Liebenswürdigkeiten überhäuft, schlecht von den Juden im allgemeinen spreche, was ihm erlaubt, zu verletzen, ohne grob zu sein“.

Berühmt ist Auf der Suche nach der verlorenen Zeit für andere Themen, etwa die unwillkürliche Erinnerung oder die verzweifelte, von Eifersucht geplagte Liebe zu Albertine. Wenn man nun die Ursprungsfassung liest, ist man erstaunt, wie viel bereits von Anfang an enthalten ist. Im sechsten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Die Flüchtige beziehungsweise Die Entflohene, wird es heißen: „Um in uns einzutreten, muss ein Mensch die Gestalt der Zeit annehmen, sich ihrem Rahmen einfügen; da er uns immer nur in einzelnen Minuten nacheinander erscheint, hat er sich uns immer nur unter einem einzigen Aspekt auf einmal zeigen können“. In der Ursprungsfassung steht bereits in einer gestrichenen Passage, „unsere soziale Persönlichkeit ist ein Gedankengefüge der anderen“. Von der Liebe sagt der Erzähler in der Ursprungsfassung, sie nehme „die Gestalt einer chronischen Krankheit“ an, und die Eifersucht vorwegnehmend, die ihn später gegenüber Albertine quälen wird, weiß der Ich-Erzähler in einer später gestrichenen Passage, dass sich „zwischen unseren Geist und diese Frau immer wieder jenes Licht brechende Gemengelage von Verdächtigungen, die vor ihre Zeit zurückreichen“, schieben würde.

Nach der Veröffentlichungen der ersten Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wird Proust unermüdlich betonen, dass sein Roman ein literarisches Werk und keine Autobiografie sei und einer strengen Komposition folgt („Auf der Suche nach dem verlorenen Anfang“). Davon zeugen besonders die Streichungen und Umarbeitungen in Das Flimmern des Herzens. Dass seine Arbeit eher der eines Malers als der eines Schriftstellers ähnelt, liegt daran, dass es Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nicht um eine Geschichte oder um mehrere Geschichten ging, sondern darum, den Prozess des Erinnerns zu erfassen: wie die Vergangenheit durch Gesprächsfetzen, Eindrücke und Impressionen wiederkehrt, in Bildern, an die man immer weiter heranzoomen kann. Wer Prousts Hauptwerk noch nie gelesen hat, kann nun mit dem ersten großen Entwurf dazu beginnen. Wer den ersten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit kennt, kann ihn nun wieder und ganz neu lesen. Und wer mit dem Ich-Erzähler schon die ganze verlorene Zeit auferstehen lassen hat, wird erstaunt sein, wie viel die ersten 100 Seiten bereits enthalten. Wie auch immer, diese Veröffentlichung der Anderen Bibliothek ist ein schönes Geschenk.

Titelbild

Marcel Proust: Das Flimmern des Herzens. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die ursprüngliche Fassung.
Aus den französischen Druckbogen erstmals übersetzt, mit einem Anhang und einem Vorwort versehen von Stefan Zweifel.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2017.
600 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783847703952

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