Per Anhalter durch das Leben

Sylvain Prudhomme erzählt in „Allerorten“ von der Freundschaft zweier grundverschiedener Männer

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der alleinstehende Ich-Erzähler Sacha ist von Paris in die kleine Stadt V. im Südosten Frankreichs gezogen und träumt von „einem Buch, das mit einem Mal hervorquellen würde, in ein paar Wochen nur“. Haben wir es mit einem der öden Romane zu tun, in denen ein Möchtegernschreiber schreibt, wie toll er schreiben wird? Das befürchtet nicht, wer die Bücher Legenden und Ein Lied für Dulce des französischen Autors Sylvain Prudhomme kennt. Zumindest ist Sacha ein erfolgreicher Autor, der sich außerhalb der Metropole sammeln und fassen will, um noch bessere Literatur zu schaffen.

Nicht die Literatur, sondern das Trampen ist Lebensinhalt eines Mannes, der im Buch „der Anhalter“ genannt wird und vor rund zwanzig Jahren Sachas Freund war. Bis der zu ihm sagte: „Ich will, dass du aus meinem Leben verschwindest.“ Zu tief war die Kluft geworden zwischen dem lebensvollen Anhalter und dem zum Reflektieren neigenden Sacha. Zufällig wohnt der Anhalter in V., mit seiner Frau Marie und seinem Sohn Agustín, der noch zur Schule geht. Der muskulöse Mann verrichtet als geschickter Handwerker manche Gelegenheitsarbeit. Seine Frau übersetzt Belletristik aus dem Italienischen. Die Männer begegnen sich kurz nach Sachas Umzug. Sacha erfährt, dass der Anhalter monatelang trampt und seine Familie allein lässt. Zunächst kennt er nur die Autobahnen. Später gelangt er über Verzweigungen bis in die entlegensten Dörfer. Doch das Fahrtziel ist ihm unwichtig. Ihm geht es um die Menschen, die ihn mitnehmen und Gastfreundschaft in intimer Nähe gewähren. Diese Einstellung verrät er den Autofahrern, sobald er sicher ist, mitfahren zu dürfen. Die Reaktionen reichen von ungläubigem Staunen bis zu raschem Verständnis.

Das tiefste Verständnis bringt Sacha auf, als der Freund ihm dies alles erzählt. Der Anhalter betrachtet Mitmenschen nie als lästig, sondern sucht die unwiederbringliche Begegnung mit ihnen. Er lässt die, die ihn im Auto mitnehmen, in sein Leben, und fertigt massenweise Porträtfotos mit der Polaroidkamera an. Sein suchtähnlicher Drang ist stärker als die Liebe zu Frau und Kind.

Marie erkennt bei der Begegnung mit einem früheren Geliebten, dass sie nur mit dem Anhalter zusammen sein möchte. Sie findet ihn nach langer Suche in Nordfrankreich. Doch im Hotel verlangt sie spontan ein eigenes Zimmer. Am Morgen fährt sie heim; es ist vorbei. Stattdessen wird Sacha Maries Geliebter. Agustín, der sehr an seinem Vater hängt, sagt in hartem Ton: „Er ist ja schließlich nicht tot.“ Mit Postkarten hält der Anhalter die Verbindung zunächst aufrecht und bezeichnet Marie und Sacha ohne Bitterkeit als seine Freunde. Er bekommt von ihnen Aufträge, welche Orte mit „sprechenden“ Namen er aufsuchen soll. Schließlich unternehmen die Männer eine gemeinsame Fahrt in die Pyrenäen. Doch am Morgen nach der Übernachtung in kalten Zelten ist der Anhalter verschwunden. Lange kommt von ihm kein Lebenszeichen. Dann erhalten Marie und Sacha eine Mail von einer Adresse, an die man nicht antworten kann. Der Anhalter lädt alle, die ihn mitgenommen haben, zu einem Wochenendtreffen in einem kleinen Dorf ein.

Sacha, Marie und Agustín fahren ebenfalls hin. Die verwegene Idee hat gezündet. Fahrzeuge aller Größen und Altersklassen stehen in langer Reihe. Die meisten der Hunderte von Gesichtern kennt Sacha von den Polaroids. Die Menschen sind glücklich; der Anhalter hat eine Gemeinschaft gestiftet. Aber er kommt nicht. Sacha weiß, dass der Freund sich nie in den Mittelpunkt stellen würde. Er vereint sie alle aus der Ferne. Und was geschieht, falls der Anhalter eines Tages auftauchen sollte? Sacha nimmt sich vor, elegant und ruhig zu reagieren. So wie Leonard Cohen in seinem Lied Famous Blue Raincoat, das er sich Hunderte Male angehört hat.

Vieles an diesem Buch fasziniert. Die Unbedingtheit, mit der der Anhalter das ihm gemäße Leben führt. Die Toleranz des Freundes. Die schnörkellose poetische Sprache, die Landschaften und Stimmungen anschaulich macht. Die einfühlsame Schilderung von Maries Schwanken zwischen Liebe und Verzicht. Die kundigen Verweise auf Bücher, die Marie übersetzt hat. Vor allem aber zeigt Sylvain Prudhomme, was wichtig ist im Leben, ohne es plakativ zu verkünden. Auch damit bezaubert sein Roman.

Titelbild

Sylvain Prudhomme: Allerorten.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Unionsverlag, Zürich 2020.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005617

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