Trotzki im Theater-Exil
Das neue Stück von Peter Weiss zerredet die Revolution (1970)
Von Marcel Reich-Ranicki
Was sich hier abspielte, kommt mir widerwärtig und obszön vor: In Düsseldorf, der angeblich reichsten Stadt der reichen Bundesrepublik Deutschland, in einem teuren Theaterneubau, der sich zwischen dem Bürohaus eines der größten Konzerne Europas und der Filiale einer der mächtigsten Banken des Erdballs befindet, wurde ein Stück aufgeführt, das die Weltrevolution rühmt und die Hinrichtung der bürgerlichen Gesellschaft fordert; und jene, die den Zuschauerraum füllen – ich war nicht in der Premiere, sondern in einer ganz gewöhnlichen Repertoireaufführung –, sind typische Vertreter eben dieser Gesellschaft, meist offenbar wohlhabende Düsseldorfer, die natürlich nichts weniger wünschen als die kommunistische Herrschaft an Rhein und Ruhr.
Dennoch habe ich nach keinem einzigen Satz dieses Stückes Widerspruch gehört – und auch keine Zustimmung; für dieses Publikum ist, was hier auf der Bühne geschieht, so wichtig wie etwa die Intrigen um Boris Godunow, ja, mir will scheinen, dass die Mitteilung des Lehárschen Zarewitsch, es stehe ein Soldat am Wolgastrand, bei den deutschen Stadttheaterabonnenten ungleich stärkere Reaktionen auslöst als Trotzkis Ruf nach der permanenten Revolution.
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