Euthanasie im nationalsozialistischen Staat
Hellmuth Ungers Roman „Sendung und Gewissen“ und der Film „Ich klage an“
Von Walter Müller-Seidel
Vorbemerkung des Herausgebers: Der Titel des folgenden Beitrags steht im Inhaltsverzeichnis von Walter Müller-Seidels letztem Entwurf zu der von ihm geplanten Sammlung seiner Schriften über „Literatur und Medizin“. Er wird hier erstmals auf der Basis eines Vortragsmanuskripts mit demselben Titel aus seinem Nachlass veröffentlicht. Anna Axtner-Borsutzky, die am Institut für Deutsche Philologie der Universität München an einer Dissertation über Müller-Seidels Autobiographie-Projekt arbeitet, hat es 2018 transkribiert, kommentiert und dem Herausgeber für seine Bearbeitung zur Veröffentlichung hier zur Verfügung gestellt. Ihre Anmerkungen im Text zu den von Müller-Seidel handschriftlich vorgenommenen Korrekturen oder Kürzungen wurden dabei zum Teil übernommen. Sie sind jeweils in eckige Klammern gesetzt. Unter dem Text stehen editorischen Hinweise von Anna Axtner-Borsutzky (A.A.-B.).
Die Aktualität des Themas, über das hier gesprochen werden soll und das den Begriff Euthanasie im Titel des Vortrags nennt, ist wohl kaum zu bestreiten. Wir begegnen ihm auf Katholischen wie Evangelischen Akademien, in Talkshows und Streitgesprächen der verschiedensten Art; wir finden es, fast täglich, in den Feuilletons der Tagespresse erörtert, und die wissenschaftliche Literatur ist längst nur noch schwer überschaubar geworden. „Sterbehilfe“, „humanes Sterben“ oder „Gnadentod“ – das sind einige der vielfach verschleiernden, um nicht zu sagen: lügnerischen Begriffe, mit denen wir uns konfrontiert sehen, ob wir es wünschen oder nicht. Um Rückfälle in eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, um Wiederaufnahme der Denkmuster und Praktiken des Tötens im nationalsozialistischen Staat, handelt es sich keineswegs, jedenfalls nicht unmittelbar. In England wie in Amerika gibt es Euthanasie-Bewegungen seit Beginn der dreißiger Jahre, und Versuche, die gesetzlichen Euthanasie-Regelungen zugunsten aktiver Euthanasie zu durchbrechen hat es seither, obschon zumeist ohne Erfolg, wiederholt gegeben, die Niederlande ausgenommen. Tod auf Verlangen bei vorausgesetzter Freiwilligkeit und mit bestimmten Einschränkungen wurde hier vor einigen Jahren legalisiert. Aber frischer Wind kommt, von uns aus gesehen, aus dem fernsten unserer Kontinente, und es ist der in Australien lehrende Moralphilosoph Peter Singer, der ihn entfacht. Eine seiner Schriften ist in deutscher Sprache unter dem Titel „Praktische Ethik“, erschienen 1984, leicht zugänglich. Man kann sie als Reclamheft erwerben. Tötung von mißgebildeten Kindern, denen aufgrund einer bestimmten Auffassung von Personalität das Menschsein abgesprochen wird, wird hier bejaht, nicht nur unmittelbar nach der Geburt, sondern auch später noch. Er bekennt in dieser Schrift einleitend, was er vom Utilitarismus hält, nämlich sehr viel, und schreibt: „Der klassische Utilitarismus betrachtet eine Handlung als richtig, wenn sie ebensoviel oder mehr Zuwachs an Glück für alle Betroffenen produziert, als irgendeine alternative Haltung, und als schlecht, wenn sie das nicht tut.“ Mit einem zweiten, zusammen mit Helga Kuhse verfaßten Buch desselben Moralphilosophen gab es Schwierigkeiten. Der Rowohlt-Verlag sah sich Widerständen ausgesetzt und verzichtet auf Publikation. Nun ist sie 1993 in einem Erlanger Verlag dennoch erschienen. Der englische Titel ist dieser: „Should the baby live“. In der deutschen Übersetzung wird mit dem Titel noch etwas deutlicher gesagt, was man meint. Es sind, den Untertitel eingerechnet, die folgenden Informationen: „Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener“. Aber der Wind, den Peter Singer in Deutschland entfachte, war mehr als das; es war ein Orkan. Als er in philosophischen Seminaren deutscher Universitäten sprechen sollte, wurde er, zumeist von Behinderten, beim Reden gestört. In der Wochenschrift „Die Zeit“ kam es zu unabsehbaren Irritationen: ein zeitweiliger Redakteur hatte sich zum warmherzigen Fürsprecher des Australiers gemacht, und die Herausgeberin wie die leitende Redakteurin waren alsbald um Schadensbegrenzung bemüht. Die Methoden pränataler Diagnostik in der heutigen Medizin haben gegenüber der Rassenhygiene im nationalsozialistischen Staat einen anderen Hintergrund. Aber gänzlich unvergleichbar sind sie nicht, wenn Selektion als einer der Schlüsselbegriffe dieser Rassenhygiene wiederkehrt: als Selektion vor der Geburt. Altes und Neues sind also, was diese Fragen angeht, aufs engste miteinander verknüpft. Hier aber, in diesem Vortrag, geht es nicht um den Stand der heutigen Diskussion in Fragen der Euthanasie aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, wofür ich auch keine Zuständigkeit beanspruchen könnte. Es handelt sich vielmehr um eine historische Betrachtung, um eine Aufarbeitung dessen, was es in der Zeit des Nationalsozialismus neben der Todesstrafe an neuartigen Formen staatlichen Tötens gegeben hat und geben konnte, wenn man die Vorgeschichte einbezieht.
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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)