Günter Kunert, der Dichter des Zwecklosen und Sinnvollen

(1980; unter diesem Titel 1985)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Partir, c‘est un peu mourir; abreisen, das bedeutet immer auch ein wenig sterben.[1] An diesen französischen Befund mag Günter Kunert gedacht haben, als er im Oktober 1979, von der Mark Brandenburg nach Schleswig-Holstein ziehend, die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland überquerte. Was sich hier abspielte, war ungleich mehr als ein Umzug, mehr als ein Abschied. Wie sollte man es nennen? Vielleicht: ein Abtötungsverfahren. So jedenfalls hat Kunert seinen ersten nach jener Grenzüberschreitung veröffentlichten Gedichtband betitelt, einen Band, der eine Anzahl noch in der DDR geschriebener Gedichte mit den schon im Westen entstandenen verbindet.[2]

Aber was ist denn mit der Vokabel „Abtötungsverfahren“ gemeint? Da alles, was entsteht, abstirbt und zugrunde geht, kann man dieses beinahe bürokratisch anmutende Wort als ein düsteres und makabres Bild für die Vergänglichkeit des Daseins begreifen: Leben wäre also ein einziges Abtötungsverfahren, dem wir alle fortwährend ausgeliefert sind. Doch kann man den Titel auch anders deuten, ihm einen weniger passiven Sinn geben. Das Abtötungsverfahren wäre dann nicht ein Prozeß, dem wir unausweichlich unterworfen sind, sondern einer, den wir selber in Gang setzen: Abtötung somit als Beseitigung von Vergiftetem, von Krankheitserregern, als Heilung und Regeneration.

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Aus Marcel Reich-Ranicki: Über Günter Kunert. Hg. von Thomas Anz. Marburg 2019 (weitere Informationen auf der Verlagsseite).