Plädoyer gegen die Preisgabe der DDR -Kultur

Fünf Forderungen an die Intellektuellen im geeinten Deutschland

Von Walter JensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Jens

„Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils – kurz gesagt dessen, was man die künstlerische Meisterschaft nennt.“ Es gibt kein Diktum in der Geschichte der DDR, das von Schriftstellern, Malern, Bildhauern, Architekten und Musikern so penibel interpretiert, so besessen, Wort für Wort, abgeklopft und mit soviel Scharfsinn, unter Beihilfe hohen semantischen Raffinements, untersucht worden ist, wie die Weisung, die Erich Honecker im Dezember 1971 den Kunstschaffenden in seiner programmatischen Rede vor dem Zentralkomitee der SED mit auf den Weg gab: Was, fragten die Betroffenen, hatte der Vorsitzende mit seinem apokryphen Einerseits-Andererseits, dem Wechselspiel von harscher Prämisse und liberalem Sich-gehen-Lassen, gemeint? Was war im Politbüro vorgegangen, anno 1971, zwischen dem VIII. Parteitag im Juni und dem 4. Plenum des ZK im Dezember? Glaubten die Kommandeure, parteiliches Engagement und Anerkennung der Methoden des sozialistischen Realismus von seiten einer aufgeklärten Künstlerschaft hätten mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das es erlaube, neue Formen, Stile und Themen zu entwickeln? Wollten sie sagen, die sozialistische Gesellschaft habe sich derart solide entfaltet und das vorgegebene Zusammenleben sei so unantastbar, daß die Künstler, das Prestige des Landes fördernd, getrost ein wenig experimentieren dürften?

Fragen über Fragen: Worauf – so die allgemeine Diskussion über die Jahre hinweg – hatte der leitende Überwacher den Schwerpunkt gelegt: auf die „feste Position des Sozialismus“ oder auf die Tabufreiheit artistischen Tuns? Und weiter: Hatte die Prämisse Floskelcharakter oder stand, bevor erlaubt werden konnte, rigides Überprüfen an? Ging es um einen Generalpardon von seiten der Spitze oder wurden, bei konsequentem Bestehen auf einem unverzichtbaren Leitungsprinzip, lediglich die Rahmenbedingungen freundlicher als bisher ausgelegt? Und doch, ließ sich nicht Hoffnung schöpfen – und zwar die größte! – aus den zwei Worten „meines Erachtens“? So persönlich und einschränkungsweise hätte Ulbricht gewiß nicht gesprochen!

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Aus Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Marburg 2019 (siehe Verlagsseite)