Moral und Ästhetik

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Im Oktober 1990 nahm der sich in verschiedene Richtungen und Problemkomplexe ausweitende Streit um den „exempla­rischen Fall“ Christa Wolf eine überraschende und von den Teilnehmern in ihren Widersprüchen kaum durchschaute Kehrtwendung. Er mündete in grundsätzliche Diskussionen über die gesamte deutsche Literatur der Nachkriegszeit ein.

Einige von denen, die Christa Wolf vor allem wegen ihrer moralischen Haltung, ihres Charakters oder ihrer politischen Gesinnung angegriffen und eher beiläufig über die ästhetische Qualität ihrer Werke geschrieben hatten, stellten nun die dominante Literatur und Kritik der Nachkriegszeit mit dem Argument in Frage, ihr sei es in erster Linie um die richtige Gesinnung gegangen. „Christa Wolf interessiert nicht als künstlerischer Fall“, hatte Schirrmacher noch in der FAZ vom Juni 1990 geschrieben (siehe S. 77). In einem zum Abschluß der Buchmesse erschienenen Leitartikel auf der ersten Seite der FAZ vom 8. Oktober 1990 warf er nun seinen Gegnern und ihrem „kulturellen Milieu“, gemeint war das linksintellektuelle, ihr „Ersetzen der ästhetischen und rationalen Kriterien durch solche der Gesinnung“ vor. „Die literarischen Repräsentanten und deren Anhang sind immer die Guten“, die sich „unbeirrt auf der Seite der Freiheit und Menschlichkeit, der Opfer und Verlierer, des Fortschritts und der Geschichte“ wissen.

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Aus Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Marburg 2019 (siehe Verlagsseite)