Ein Schwellentext
Der Aufsatz „Kritische Literaturwissenschaft, Trivialliteratur und Manipulationstheorie“ aus dem Jahr 1971
Von Helmut Lethen
Der Aufsatz Kritische Literaturwissenschaft, Trivialliteratur und Manipulationstheorie aus dem Jahr 1971 ist ein Schwellentext. Er „vibriert“ einerseits noch aufgrund der Impulse der Kritischen Theorie, die unsere Köpfe in den 60er-Jahren durchgerüttelt hatten; er steht andererseits am Beginn einer bleiernen Zeit, in der ich fünf Jahre lang Kader einer maoistischen Partei war. Scharfsinnig finde ich nach wie vor die Analyse der widerspruchsvollen Situation, in der wir uns befanden. Einerseits wollten wir „den Zugriff des Kapitals“ auf die „feudalen Reservate“ autonomer Forschung abwehren; andererseits wollten wir gerade sie zerstören, um die darin geübte Weltinterpretation ins „sozialtechnische Ingenieursdasein“ zu überführen. Im Rückblick entdecke ich mit Schaudern, dass der Bologna-Prozess, in dem das Feuer der Revolte endgültig zum Erlöschen gebracht wurde, beides miteinander verbindet.
Die Wucht unseres Willens zur Umwandlung der Germanistik stammte, wie der Text zurecht sagt, nicht aus einer immanenten Wissenschaftskritik auf der Ebene von Doktoranden-Kolloquien, er stammte aber auch nicht direkt aus den Straßenaktionen oder einer innigen Verbindung mit der Arbeiterschaft, wie der Text suggeriert. Wir vergaßen leicht, dass wir durch Theorien der Revolution wateten, Raubdrucke fraßen ‒ wir waren Textarbeiter, die in der Studentenbewegung lernten, im Kollektiv zu arbeiten und Bewegungsimpulse der Straßenaktionen mit dem Aufbrechen der Archive der schweigenden Väter zu verbinden. Kein Zweifel, dass die Theorien der Frankfurter Schule uns dabei geholfen hatten; denn ihnen entnahmen wir ein anarchistisches Moment. In den 60er-Jahren hatten wir einen Mann entdeckt, der unsere Aktionen zu legitimieren schien. Von Walter Benjamins Kunstfigur des „destruktiven Charakters“ holten wir uns die Einsicht, „wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird“. Es sind die Unerbittlichen, ergänzt Benjamin in seinem Essay Erfahrung und Armut, die den Ruf, Barbaren zu sein, nicht scheuen, weil es ihnen erst einmal darauf ankommt, „reinen Tisch“ zu machen. Sie wollen nämlich einen sauberen „Zeichentisch haben“, auf dem sie die neue Gesellschaft konstruieren können. Das war Benjamins Botschaft, die mich 1962 wie ein Pfeil traf. Davon ist im Schwellentext von 1971 nichts mehr zu spüren. Auf dem Schluss des Artikels lastet der Schatten eines Kaders, der zusammen mit Friedrich Rothe im Oberbaumverlag 18 Bände proletarisch-revolutionärer Literatur herausgab.[1] Auch das war eine Arbeit, in der Erkenntnisse gewonnen werden konnten: Eine vom Bildungsbürgertum völlig verdunkelte Landschaft des Arbeiterlebens erhielt eine Aufmerksamkeit, die die Germanistik bis dahin nicht gekannt hatte.
Nicht schlecht finde ich nach wie vor das Miniaturbild von Keynes vergrabenen Flaschen und der Melancholie der hermeneutischen Flaschengräber. Das könnte man immer noch als Emblem einer bestimmten Situation der Wissenschaftspraxis verwenden. Nur scheint mir heute rätselhaft, warum wir das Studium in der Vereinzelung verteufeln mussten. Von dort kamen wir, unsere neuen Kollektive waren so lebendig, weil sie ein Netz von Vereinzelungen bildeten.
Der Abschnitt über die „Psychoanalyse der Bildzeitung“ scheint mir bis heute von analytischem Gewinn. Waren wir so naiv gewesen, anzunehmen, die Medienmogule, die wir bekämpften, wüssten nicht, was sie tun, wenn sie den „autoritären Charakter“ mit ihren Erzeugnissen füttern? Rührte der „Schock“ nicht eher von der enttäuschen Liebe, als wir erkannten, dass die Analysen der Frankfurter Schule nicht vor Missbrauch geschützt waren? Tiefer drang die Erkenntnis, dass die Manipulationstheorie auch der Frankfurter von der Passivität der „Massen“ ausging und dass die jetzt beginnende Beschäftigung der Germanistik mit der Massenliteratur sich vom Konzept der leicht manipulierbaren Massen nicht trennte. Dass wir einmal mit der Forderung nach Soziolinguistik einen Germanistenkongress sprengen konnten, wirkt heute grotesk. Aber es war so.
Interpretation braucht Zeit, wir aber redeten uns ein, keine Zeit zu haben. Heute können wir gelassen zurückblicken auf die erstickten Impulse der Revolte, die wissenschaftstheoretischen Irrwege, den verblassten Hoffnungsschimmer. Aber, sieh da, selbst einen besonnenen Rückblick scheint die Zunft zu scheuen.
[1] Friedrich Rothe, ein enger Freund von mir in den 60er-Jahren, war einer der ersten Promovenden von Peter Szondi. Er promovierte mit einer Arbeit über Wedekinds Kindertragödien. Mit ihm zusammen gab ich die Reihe Proletarisch-revolutionäre Romane (1970‒1976) heraus. Später gründete er die Galerie am Savignyplatz, in der auch die politisch-maoistischen Grafiken von Immendorff und Bilder und Plakate der mexikanischen Revolution erstmals ausgestellt wurden. Leider verloren wir uns in den 90er-Jahren aus den Augen. Werner Girnus war ein Student von uns, er wurde Studienrat. Die Geschichte des Oberbaumverlags ist verwickelt, sie müsste noch geschrieben werden.
Anhang (pdf-Datei): Helmut Lethen: Kritische Literaturwissenschaft, Trivialliteratur und Manipulationstheorie (3. Aufl. 1973)
Quellennachweis: Helmut Lethen: Kritische Literaturwissenschaft, Trivialliteratur und Manipulationstheorie – Etappen der „linken Germanistik“ 1967–1970, in: Werner Girnus, Helmut Lethen, Friedrich Rothe, Von der kritischen zur historisch-materialistischen Literaturwissenschaft. Vier Aufsätze (Materialistische Wissenschaft; 2), 3. Aufl. [9.–11 Tausend] Berlin: Oberbaumverlag 1973, S. 7‒29; 1. Aufl. [1.–4 Tausend] 1971, 2. Aufl. [5.–8 Tausend] 1972.