Die Pest im Mittelalter – alte Kamellen?

Vorbemerkungen zur Sonderausgabe

Von Robin KuhnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robin Kuhn

Als sich die Lehrenden am Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters der Philipps-Universität Marburg im letzten Jahr zusammensetzten, um das Schwerpunktthema für das kommende Wintersemester zu erarbeiten, hätte wohl kaum jemand der Beteiligten erahnen können, dass ihre Wahl so zeitgemäß wie nie sein beziehungsweise werden würde: Mit Krankheiten, Seuchen und das Weltende eröffnete man ein breit gefächertes Feld, dessen Elemente – zunächst noch von der nüchternen wissenschaftlichen Betrachtung mittelalterlicher Textzeugen getragen – sich mit dem Fortlauf des Semesters immer weiter in das eigene Leben hineinschlichen. So wurden gegen Ende der Vorlesungszeit in den Veranstaltungen bereits die ersten Vergleiche zum neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 gezogen, und nicht selten war auch eine gewisse Unsicherheit von Seiten der Studierenden zu vernehmen, die mit den allmählich stärker werdenden Einschränkungen im universitären Betrieb in reale Prüfungs- und Existenzängste umschlugen.

Einem Impuls von Thomas Anz verdankt sich die Idee, aufgrund dieser besonderen Umstände eine von der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg unter der Leitung von Jürgen Wolf und Robin Kuhn betreute Sonderausgabe Die Pest im Mittelalter zu erstellen. Diese Sonderausgabe will umfassend über die große Pestwelle von 1348–1352 informieren, die allein in Europa 30 bis 40 % der Gesamtbevölkerung das Leben kostete; speziell soll verdeutlicht werden, wie die Menschen mit der bislang unbekannten Krisensituation einer alles infrage stellenden Pandemie umgingen und welche tiefgreifenden Umwälzungen der Gesellschaft(en) daraus erwuchsen. In diesem Rahmen sollen mittelalterliche Zeitzeugen zu Wort kommen, deren vielseitige Texte Alltag und Stimmung so einzufangen vermögen, dass wir auch heute noch ein authentisches Bild der damaligen Geschehnisse erhalten. Zudem werden moderne Betrachtungen aus geschichts-, literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive eingebunden, die mit weiteren passenden Textsorten, Überblicken, Skizzen und Bewertungen angereichert werden. Im Laufe der Zeit soll dieses Vorhaben dann immer feiner ausgearbeitet und ergänzt werden.

Den Anfang machen zwei Texte, die – ihrer zeitlichen Differenz zum Trotz – mehr miteinander gemeinsam haben, als man auf den ersten Blick vielleicht annehmen mag. Giovanni Boccaccio (1313–1375), der den Ausbruch der Pest in seiner Heimatstadt Florenz selbst erlebte, bietet gleich zu Beginn seines berühmten Dekameron einen der wohl ergreifendsten Pestberichte, die uns literarisch überliefert sind. Mit großer Erzählkunst und Feinfühligkeit, aber auch schonungsloser Drastik zeigt der Autor, der mit Dante Alighieri und Francesco Petrarca zu den drei großen Dichtern des Trecento gehört, die mannigfaltigen Formen von Grauen und Schrecken der Pestwelle auf, die wir uns heutzutage kaum noch vorzustellen vermögen, und regt dabei zum Nachdenken über so unterschiedliche Themenfelder wie Gemeinschaft, Glauben, Vergänglichkeit und Menschenwürde an. Seine Worte könnten als Einleitung für unsere Textsammlung kaum geeigneter sein.

Dem realitätsnahen Bericht gegenüber steht ein deutlich moderneres fiktionales Werk. In expliziter Anlehnung an Boccaccios bewegende Bilder zeichnet Edgar Allan Poe in seiner 1842 erschienenen Erzählung Die Maske des roten Todes eindrucksvoll menschliche Furcht und Ohnmacht wie auch maßlose Verschwendung und Überheblichkeit im Angesicht einer undefinierbaren Bedrohung nach – zeitlose Entitäten also, deren Ausbildungen damals wie heute aktuell waren beziehungsweise sind. Man kann diese Geschichte sicherlich ohne weiteres Nachdenken als einfache Horror-Story lesen, deren Gattung sie maßgeblich beeinflusst hat. Doch ist sie zugleich viel mehr: Poes Gedanken bilden die Überführung realer Ereignisse in ein literarisch-theoretisches Konstrukt, dessen Gültigkeit sich im Angesicht der verschiedensten Krisen immer wieder zu bestätigen scheint und das gerade in der gemeinsamen Lektüre mit Boccaccio seine besondere Wirkungskraft entfaltet.

Wir hoffen, dass die Sonderausgabe mit der detaillierten Aufarbeitung der Pest dazu beiträgt, ein besseres Verständnis der mittelalterlichen Vergangenheit und der aktuellen Zeitgeschichte zugleich zu entwickeln. Dabei geht es weniger darum, die Krankheiten COVID-19 und Pest miteinander zu vergleichen, sondern vor allem um Betrachtungen zum Umgang mit ihnen und zu ihren Nachwirkungen. Dazu gehören einerseits dramatische Beschreibungen der Realität, verstörende Einsichten zur ebenso verzweifelten wie irrationalen Suche nach den Ursachen und den vermeintlich Schuldigen, woraus die Geißlerbewegungen ebenso erwuchsen wie die Judenpogrome mit Tausenden von Ermordeten. Dazu gehören andererseits aber auch ganz rationale Beschreibungen der Seuche und ihrer Folgen bis hin zu komplexen Strategien, dem Unerhörten zu entfliehen oder es zu überwinden und Neues daraus erwachsen zu lassen: Die Jahrzehnte nach der Großen Pest werden die Welt in enormem Tempo komplett verändern. Städte und Gesellschaften entwickeln sich rasant; religiöse Strukturen brechen auf; neue Erfindungen wie der Buchdruck mit beweglichen Lettern oder die Entdeckungsfahrten rund um Afrika und nach Indien – das sich dann als neuer Kontinent Amerika erweisen wird – haben hier ihren Ursprung und weisen in die Neuzeit.

Kluge Reflexion vorausgesetzt, lässt sich so im Gewesenen erkennen, wie aus zunächst katastrophalen Krisen ganz neue, oft positiv veränderte Gesellschaften hervorgehen können, indem nicht zuletzt starre gesellschaftliche Ordnungen hinterfragt und reformiert werden. Entgegen den üblichen Vorurteile zeigen die Menschen des Mittelalters gerade in der Zeit nach der Pest keine Rückständigkeit, sondern beweisen, dass auch die scheinbar größte Katastrophe nicht das allumfassende dystopische Ende bedeuten muss. Letztendlich können wir das Resultat dieser immer wieder erfolgenden massiven Veränderungen, von denen die Pest eine ist, heute tagtäglich selbst erfahren.

Die LeserInnen und MitarbeiterInnen von literaturkritik.de sind herzlich eingeladen, sich an der Sonderausgabe zu beteiligen. Die Mittelalter-Redaktion ist für interessante Vorschläge und Zusendungen stets dankbar.