Hildegard Emmel (1911‒1996)

„… sie ging als Germanistin in die Welt“

Von Petra BodenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Boden

 

Nachruf aus: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 4, 1997, S. 270‒273. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Petra Boden und der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat.

Die hier als Motto gewählte Äußerung Hildegard Emmels über eine amerikanische Kollegin kann nicht treffender über das Leben dieser in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Frau selbst gestellt werden. Sie war die erste deutsche Ordinaria für Neuere deutsche Literaturgeschichte, und es sagt viel, wenn nicht Wesenliches über die Germanistik an deutschen Universitäten aus, daß Hildegard Emmel den größten Teil ihrer akademischen Laufbahn im Ausland verbracht hat.

Geboren wurde sie am 23. Juli 1911 in Frankfurt am Main, und sie wuchs auf im geistigen Klima des aufgeklärten liberalen Frankfurter Bürgertums. Der Vater war ein Reformpädagoge, die Mutter stammte aus einer Frankfurter Intellektuellenfamilie.

1931 schrieb sich Hildegard Emmel an der Universität ihrer Heimatstadt für das Studium der Germanistik und Geschichte ein. Nach zwei Semestern folgte sie ihrem Lehrer Hans Naumann, der einen Ruf nach Bonn angenommen hatte. Bereits während der folgenden zwei Semester mischte sich in die Hochachtung vor dem Gelehrten starkes Befremden über dessen unverhohlene Symphatie für den Nationalsozialismus. Als sie 1933 nach Frankfurt zurückkehrte, um dort ihr Studium fortzusetzen, schockierte es sie, in welcher Weise die NS-Diktatur bald den universitären Alltag prägte. Der zunehmenden Gleichschaltung verweigerte sich Hildegard Emmel. Bald stand ihr Entschluß fest, als Lehrerin im Ausland zu arbeiten. Nachdem sie das Studium 1935 mit ihrer preisgekrönten Dissertation „Das Verhältnis von ere und triuwe im Nibelungenlied und bei Hartmann und Wolfram“ abgeschlossen, die Referendarzeit in Sontra und Eger absolviert hatte, unterrichtete sie von 1941 bis 1945 an der Deutschen Oberschule in Den Haag. Nach dem Ende des Krieges bemühte sie sich um Habilitation und eine universitäre Anstellung. Doch blieb dies in den westlichen Besatzungszonen, trotz großem Bedarfs an qualifiziertem Lehrpersonal, vergeblich. Frauen hatten hier (noch) keine Chance. Schließlich nahm sie 1947 eine Stelle an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften an. Ein Jahr später konnte sie mit Unterstützung des Altphilologen Wolfgang Schadewaldt eine Stelle in der Hamburger Abteilung des Goethe-Wörterbuchs antreten, die zur Berliner Akademie gehörte. Wenngleich Hildegard Emmel diese Arbeiten für die Vorbereitung geplanter Publikationen nutzen konnte, einer Frau mit ihrer Vitalität, Neugier und Offenheit für Probleme, ihrer Lust auf Arbeit mit jungen Menschen waren hier doch zu enge Grenzen gesetzt. 1951 bot sich eine entsprechende Chance. Mit ihrer Untersuchung über „Mörikes Peregrinadichtung und ihre Beziehung zum Noltenroman“ habilitierte sie sich an der Universität Rostock und erhielt die venia legendi für das gesamte Gebiet der neueren deutschen Literaturgeschichte. Berührungsangst mit dem anderen politischen System war ihre Sache nicht. Mit Neugier und Selbstvertrauen stellte sie sich der Herausforderung, lehrte und publizierte. Bald waren ihre Vorlesungen überfüllt. In der DDR aber galt Germanistik spätestens ab 1952 als ein „ideologisches Kernfach“, und damit waren die Konflikte, in die Hildegard Emmel geriet, gewissermaßen vorprogrammiert. Hatte die erste politische Krise um den 17. Juni 1953 vorübergehend zu einem liberaleren Umgang mit den bürgerlichen Intellektuellen geführt, sofern sie sich der DDR gegenüber loyal verhielten, änderte sich dies grundsätzlich nach den revolutionären Erhebungen in Ungarn und Polen 1956. Mit einem loyalen Verhalten gegenüber der politischen Macht und ihrer Ideologie war es nun nicht mehr getan. Es wurden Bekenntnisse gefordert, und diese besonders von Angehörigen der bürgerlichen Intelligenz. Wie hart die Konfrontationen im Einzelnen verliefen, hing dabei durchaus vom Profil der Beteiligten ab. Die Angriffe auf ihre wissenschaftliche Arbeit, ja auf die Würde und Integrität ihrer Person, denen Hildegard Emmel ab jetzt ausgesetzt war, sind für die in Rede stehende Zeit ohne Beispiel an anderen Universitäten der damaligen DDR geblieben. 1956 hatte sie einen Ruf an die Universität Greifswald angenommen, wo sie neben Hans Friedrich Rosenfeld, dem die ältere Abteilung unterstand, den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte erhielt. Daß Studenten im Auftrag der SED ihre Vorlesungen boykottierten, war ihr keine neue Erfahrung mehr. Neu indessen war, daß es inzwischen Nachwuchswissenschaftler gab, die nicht nur politisch geschult, sondern auch auf die Übernahme der Lehrstühle vorbereitet waren. Zum Stein des Anstoßes wählte man Hildegard Emmels Buch „Weltklage und Bild der Welt in Goethes Dichtung“ (1957), das als Affront gegen ein affirmatives, die Machtverhältnisse in der DDR legitimierendes Goethe-Bild gelesen wurde. Die führende Rolle, die Hans Jürgen Geerdts, SED-Nachfolgekandidat für ihren Greifswalder Lehrstuhl, bei der Verunglimpfung von Werk und Person Hildegard Emmels spielte, ist ein Teil des Skandals. Der andere ist, daß es niemanden gab, der dies verhindert hat. Die betreffenden Protokolle von Fakultätssitzungen zum „Fall Emmel“, die im Archiv der Universität Greifswald zugänglich sind, dokumentieren neben der einschlägigen Tagespresse ein düsteres Kapitel der Geschichte der Universitätsgermanistik in der DDR. Am 9. Mai 1958 wurde die Wissenschaftlerin in einer Sitzung des Kulturbundes regelrecht verhört zu ihrem Goethe-Buch. Nach der Dramaturgie eines Schauprozesses waren die Rollen klar verteilt, das Ergebnis schon vorgefaßt: Am 14. Mai wurde in einer sechs Stunden dauernden Fakultätssitzung beschlossen, ihr die Lehrbefugnis zu entziehen. Hildegard Emmel hatte die längste Zeit für sich ausgeschlossen, was den meisten bürgerlichen Wissenschaftlern der einzige Weg schien, wenn sie sich von der internationalen scientific community ausgeschlossen und unter politischen Bekenntnisdruck gesetzt sahen: den Weg in die Bundesrepublik. 1960, da sich ihr alle Hoffnungen auf Entspannung der Lage, auf Versachlichung und Vernunft als trügerisch enthüllten, ging auch sie diesen Weg. Leicht gefallen ist ihr diese Entscheidung nicht. Noch immer waren die Aussichten auf akademische Ämter für Frauen in der Bundesrepublik denkbar schlecht. Für die Dauer eines Jahres, 1961 bis 1962, konnte sie einen Lehrstuhl in Oslo übernehmen. Im Anschluß daran versuchte die inzwischen fünfzigjährige Germanistin mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft ihre wissenschaftlichen Vorhaben in Deutschland weiterzuführen. Jedoch erwiesen sich die Voraussetzungen als unzureichend. Wegen schlechter Arbeitsbedingungen in den wissenschaftlichen Bibliotheken und ihrer wirtschaftlich unbefriedigenden Situation ging Hildegard Emmel für ein Jahr in die Schweiz. Bereits 1963 konnte in Bern ihr Buch „Das Gericht in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts“ erscheinen. Obwohl sie sich inzwischen mit fünf Büchern als eine profunde Kennerin der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart ausgewiesen und wichtige Forschungsergebnisse zur deutschen Literatur im europäischen Vergleich vorgelegt hatte, bot man ihr in Deutschland keinen Lehrstuhl an. Ohne Zögern und mit lebhaftem Interesse für das Leben in einem anderen Kulturkreis nahm Hildegard Emmel 1963 einen Ruf an die Universität Ankara an, an deren Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie ein Drittel der Professuren an Frauen vergeben waren. Dreieinhalb Jahre blieb sie dort. Schnell hatte sie erfaßt, wie die türkischen Germanistikstudenten für deutschsprachige Literatur zu begeistern waren. Als Hochschullehrerin war sie beliebt, geachtet und erfolgreich. Allein die Ausstattung der Bibliotheken behinderte die Ausführung einer schon länger geplanten Publikation zur Geschichte des deutschen Romans, die in Bern erscheinen sollte. Als Hildegard Emmel 1967 einen Ruf an die University of Connecticut erhielt, fiel ihr die Trennung zwar schwer, aber die Neugier auf den anderen Kontinent, die Aussicht auf hervorragende Arbeitsbedingungen in den berühmten amerikanischen Bibliotheken erleichterten die Entscheidung. Die Erfahrungen, die sie während der folgenden vierzehn Jahre mit dem amerikanischen Universitätssystem machte, waren der weltoffenen und engagierten Gelehrten befremdlicher, als sie es erwartet hatte. Jedoch lag das Gewicht ihrer University Professur stärker auf Forschung als auf Lehre, und so konnte sie sich in dieser den Kollegen gegenüber privilegierten Position mit der nötigen Energie auf ihr Buchprojekt konzentrieren. 1972, 1975 und 1978 erschienen die drei Bände ihrer „Geschichte des deutschen Romans“, die erste zusammenfassende Darstellung dieser Art und ein germanistisches Standardwerk, das 1984 ins Englische übersetzt wurde. Die Hochachtung, die sie bei ihren amerikanischen Schülern und Freunden genoß, fand Ausdruck in der Festschrift, die ihr 1981 anläßlich ihrer Emeritierung überreicht wurde. Im gleichen Jahr siedelte Hildegard Emmel in die Schweiz über.

Bis zu ihrem Tod am 6. Januar 1996 lebte sie in Bern. Mit der Autobiographie unter dem Titel „Die Freiheit hat noch nicht begonnen“ (1991) schildert sie ihr ungewöhnlich bewegtes Leben (siehe Besprechung in diesem Band). Mit dem Ehrendoktortitel, der ihr 1991 von der Universität Greifswald verliehen wurde, würdigte man ihre großen Verdienste als Literarhistorikerin und bekundete damit zugleich den Willen zur Wiedergutmachung des 1958 an ihr begangenen Unrechts.