Ein deutscher Dichter
Zum Tod von Erich Fried (1988)
Von Marcel Reich-Ranicki
Erich Fried ist am Dienstagabend im Alter von 67 Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Er gehörte zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikern nach 1945. Und zu den erfolgreichsten: Mehr als zwanzig Gedichtbände hat er veröffentlicht mit einer Auflage von über 300 000 Exemplaren. Die Ossietzky-Medaille (1987) und der Büchner-Preis (1987) waren späte Auszeichnungen für einen Autor, dessen Gedichte manch konservativer Politiker noch vor wenigen Jahren „lieber verbrannt“ gesehen hätte.
Überzeugungskraft besaß er vor allem durch das persönliche Argument. Nicht selten und durchaus wirkungsvoll pflegte er sich bei seinen vielen öffentlichen Auftritten auch auf die eigene Lebensgeschichte zu berufen. Wer mochte es ihm verdenken? Eine Szene gab es, die er niemals ausließ, wenn er aus seiner Kindheit erzählte. Sie ereignete sich am 24. Mai 1938 in Wien, an dem Tag, als man seinen jüdischen Vater aus vierwöchiger Gestapo-Haft nach Hause entließ: ein Wrack, auf die perfideste Weise gefoltert und so schwer misshandelt, dass er am gleichen Abend stirbt. Die „Begabung für den großen Zorn“, die man dem Dichter Fried nachsagte, hat dort ihre Wurzeln. In seiner Erzählung „Die grüne Garnitur“, enthalten im Band „Das Unmaß aller Dinge“ (1982), kommt er auf das furchtbare Trauma seiner Jugendjahre noch einmal zu sprechen, verhalten in Klage und Anklage, gedämpft im Zorn – der erschütternde Versuch, Abstand und Überblick zu gewinnen.
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