Veröffentlichte Werke
Auszüge aus „Die Geburt der Tragoedie“, „Schopenhauer als Erzieher“, „Menschliches, Allzumenschliches“, „Morgenröthe“, „Die fröhliche Wissenschaft“, „Also sprach Zarathrustra“, „Jenseits von Gut und Böse“, „Genealogie der Moral“ und „Götzendämmerung“
Von Friedrich Nietzsche
Die Geburt der Tragödie oder Griechenthum und Pessimismus (1872)
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
1
[…] [24] Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des „Scheines“, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche. […]
3
[…] [33] Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort „naiv“ in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen müssten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau’s sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte. Wo uns das „Naive“ in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: welche immer erst ein Titanenreich zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muss. Aber wie selten wird das Naive, jenes völlige Verschlungensein in der Schönheit des Scheines, erreicht! Wie unaussprechbar erhaben ist deshalb Homer, der sich, als Einzelner, zu jener apollinischen Volkscultur verhält, wie der einzelne Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt. Die homerische „Naivetät“ ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solche Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt: nach diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch unsre Täuschung. In den Griechen wollte der „Wille“ sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen; um sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichenswerth empfinden, sie mussten sich in einer höheren [34] Sphäre wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische „Wille“ gegen das dem künstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des Leidens: und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive Künstler.
4
[…] [37] Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden, was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das Dionysische und das Apollinische in immer neuen auf einander folgenden Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenische Wesen beherrscht haben: wie aus dem „erzenen“ Zeitalter, mit seinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilosophie, sich unter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes die homerische Welt entwickelt, wie diese „naive“ Herrlichkeit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und Weltbetrachtung [38] erhebt. […]
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[…] [99] Apollo steht vor mir, als der verklärende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Sein’s, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieser ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend aufthut, ist einem Einzigen der grossen Denker in dem Maasse offenbar geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen [100] Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I, p. 310). Auf diese wichtigste Erkenntniss aller Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit, seinen Stempel gedrückt, wenn er im „Beethoven“ feststellt, dass die Musik nach ganz anderen aesthetischen Principien als alle bildenden Künste und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer missleiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen Welt geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe, von der Musik eine ähnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu fordern, nämlich die Erregung des Gefallens an schönen Formen. […]
[104] Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie des Scheines und der Schönheit begriffen wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. […]
„Wir glauben an das ewige Leben“, so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare Idee dieses Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat die Kunst des Plastikers: hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit über das dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. […]
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[…] [123] Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere Aesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen „Schönheit“, nach dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musikgenius schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach der ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt werden wollen. Man mag sich nur diese Musikgönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen, wenn sie so unermüdlich Schönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich dabei wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht vielmehr für die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne empfindungsarme Nüchternheit einen aesthetischen Vorwand suchen: wobei ich z.B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag [124] sich der Lügner und Heuchler in Acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten aller unserer Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen: alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen.
Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher (1874)
[…] [376] Das sind jene wahrhaften Menschen, jene Nicht-mehr-Thiere, die Philosophen, Künstler und Heiligen; bei ihrem Erscheinen und durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudesprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dass sie verlernen müsse, Ziele zu haben und dass sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt habe. Sie verklärt sich bei dieser Erkenntniss, und eine milde Abendmüdigkeit, das, was die Menschen „die Schönheit“ nennen, ruht auf ihrem Gesichte. Was sie jetzt, mit diesen verklärten Mienen ausspricht, das ist die grosse Aufklärung über das Dasein; und der höchste Wunsch, den Sterbliche wünschen können, ist, andauernd und offnen Ohr’s an dieser Aufklärung theilzunehmen. […]
Menschliches, Allzumenschliches I (1878)
Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen
3.
[21] Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. — Es ist das Merkmal einer höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zunächst hat man gegen erstere den Hohn auf den Lippen, als könne hier gar nichts Gleichberechtigtes gegen einander stehen: so bescheiden, schlicht, nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend, berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das mühsam Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere Erkenntniss noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu halten ist männlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an. Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie sich endlich an die [22] höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. — Die Verehrer der Formen freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und Erhabenen, werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anfängt zur Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen hat oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich von ihm durchdrungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen nachmachen (und diess schlecht genug, wie es Jemand thut, dem nicht mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert; jener Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden; wie unsere Künste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt, was sinnlich wohltönend ist, als vor hundert Jahren: so werden auch die Formen unseres Lebens immer geistiger, für das Auge älterer Zeiten vielleicht hässlicher, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf, als der schönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk. […]
Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller
149.
[145] Der langsame Pfeil der Schönheit. — Die edelste Art der Schönheit ist die, welche nicht auf einmal hinreisst, welche nicht stürmische und berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich fortträgt und die Einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich aber, nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen, von uns ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thränen, unser Herz mit Sehn [146] sucht füllt. — Wonach sehnen wir uns beim Anblick der Schönheit? Darnach, schön zu sein: wir wähnen, es müsse viel Glück damit verbunden sein. — Aber das ist ein Irrthum.
218.
[180] Der Stein ist mehr Stein als früher. — Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höchstens das Grauen, — aber dieses Grauen war überall [181] die Voraussetzung. — Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.
Menschliches, Allzumenschliches II (1886)
Erste Abtheilung: Vermischte Meinungen und Sprüche
101.
[56] Was der Umweg zum Schönen ist. — Wenn das Schöne gleich dem Erfreuenden ist — und so sangen es ja einmal die Musen — so ist das Nützliche der oftmals nothwendige Umweg zum Schönen und kann den kurzsichtigen Tadel der Augenblicks-Menschen, die nicht warten wollen und alles [57] Gute ohne Umwege zu erreichen denken, mit gutem Recht zurückweisen.
102.
[57] Zur Entschuldigung mancher Schuld. — Das unablässige Schaffenwollen und Nach-Aussen-Spähen des Künstlers hält ihn davon ab, als Person schöner und besser zu werden, also sich selber zu schaffen — es sei denn, dass seine Ehrsucht gross genug ist, um ihn zu zwingen, dass er sich auch im Leben mit Andern der wachsenden Schönheit und Grösse seiner Werke immer entsprechend gewachsen zeige. In allen Fällen hat er nur ein bestimmtes Maass von Kraft: was er davon auf sich verwendet — wie könnte diess noch seinem Werke zu Gute kommen? — Und umgekehrt.
118.
[63] Pulchrum est paucorum hominum. — Die Historie und die Erfahrung sagt uns, dass die bedeutsame Ungeheuerlichkeit, welche die Phantasie geheimnissvoll anregt [64] und über das Wirkliche und Alltägliche fortträgt, älter ist und reichlicher wächst, als das Schöne in der Kunst und dessen Verehrung — und dass es sofort wieder in Ueberfülle ausschlägt, wenn der Sinn für Schönheit sich verdunkelt. Es scheint für die Mehr- und Ueberzahl der Menschen ein höheres Bedürfniss zu sein als das Schöne: wohl desshalb, weil es das gröbere Narcoticum enthält.
292.
[135] Entsagung im Willen zur Schönheit. — Um schön zu werden, darf ein Weib nicht für hübsch gelten wollen: das heisst, es muss in neunundneunzig Fällen, wo es gefallen könnte, es verschmähen und hintertreiben, zu gefallen, um Ein Mal das Entzücken Dessen einzuernten, dessen Seelenpforte gross genug ist, um Grosses aufzunehmen.
342.
[154] Allzuschönes und Menschliches. — „Die Natur ist zu schön für dich armen Sterblichen“ — so empfindet man nicht selten: aber ein paarmal, bei einem innigen Anschauen alles Menschlichen, seiner Fülle, Kraft, Zartheit, Verflochtenheit, war es mir zu Muthe, als ob ich sagen müsste, in aller Demuth: „auch der Mensch ist zu schön für den betrachtenden Menschen!“ — und zwar nicht etwa nur der moralische Mensch, sondern jeder.
Zweite Abtheilung: Der Wanderer und sein Schatten (1880)
96.
[234] Der grosse Stil. — Der grosse Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.
201.
[279] Falsche Berühmtheit. — Ich hasse jene angeblichen Naturschönheiten, welche im Grunde nur durch das Wissen, namentlich das geographische, Etwas bedeuten, an sich aber dem schönheitsdurstigen Sinne dürftig bleiben: zum Beispiel die Ansicht des Montblanc von Genf aus — etwas Unbedeutendes ohne die zu Hülfe eilende Gehirnfreude des Wissens; die näheren Berge dort sind alle schöner und ausdrucksvoller, — aber „lange nicht so hoch“, wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung, hinzufügt. Das Auge widerspricht dabei dem Wissen: wie soll es sich im Widersprechen wahrhaft freuen können!
Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1887)
25.
[32] Sitte und Schönheit. — Zu Gunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, dass bei jedem, der sich ihr völlig und von ganzem Herzen und von Anbeginn an unterwirft, die Angriffs- und Vertheidigungsorgane — die körperlichen und geistigen — verkümmern: das heisst, er wird zunehmend schöner! Denn die Übung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es, welche hässlich erhält und hässlicher macht. Der alte Pavian ist darum hässlicher, als der junge, und der weibliche junge Pavian ist dem Menschen am ähnlichsten: also am schönsten. — Hiernach mache man einen Schluss auf den Ursprung der Schönheit der Weiber!
161.
[145] Schönheit gemäss dem Zeitalter. — Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wollen, so müssen sie die Schönheit gedunsen, riesenhaft und nervös bilden: so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maasses, [146] die Schönheit als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir sollten ihn eigentlich hässlich nennen! Aber die albernen „Classicisten“ haben uns um alle Ehrlichkeit gebracht!
170.
[152] Andere Perspective des Gefühles. — Was ist unser Geschwätz von den Griechen! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele — die Leidenschaft für die männliche nackte Schönheit ist! — Erst von da aus empfanden sie die weibliche Schönheit. So hatten sie also für sie eine völlig andere Perspective, als wir. Und ähnlich stand es mit ihrer Liebe zum Weibe: sie verehrten anders, sie verachteten anders.
190.
[162] Die ehemalige deutsche Bildung. — […] [163] Man sehe sich heute einmal nach Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Hegel, Schelling um, man lese ihre Briefwechsel und führe sich in den grossen Kreis ihrer Anhänger ein: was ist ihnen gemeinsam, was an ihnen wirkt auf uns, wie wir jetzt sind, bald so unausstehlich, bald so rührend und bemitleidenswerth? Einmal die Sucht, um jeden Preis moralisch erregt zu erscheinen; sodann das Verlangen nach glänzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten), — leider „schön“ nach einem schlechten verschwommenen Geschmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rühmte. Es ist ein weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus, welcher vor Allem edel verstellte Gebärden und edel verstellte Stimmen haben will, ein Ding, ebenso anmaasslich als harmlos, beseelt vom herzlichsten Widerwillen gegen die „kalte“ oder „trockene“ Wirklichkeit, gegen die Anatomie, gegen die vollständigen Leidenschaften, gegen jede Art philosophischer Enthaltsamkeit und Skepsis, zumal aber gegen die Naturerkenntniss, sofern sie sich nicht zu einer religiösen Symbolik gebrauchen liess. Diesem Treiben der deutschen Bildung sah Goethe zu, in seiner Art: danebenstehend, mild widerstrebend, schweigsam, sich auf seinem eignen, besseren Wege immer mehr bestärkend. Dem sah etwas später [164] auch Schopenhauer zu, — ihm war viel wirkliche Welt und Teufelei der Welt wieder sichtbar geworden, und er sprach davon ebenso grob als begeistert: denn diese Teufelei hat ihre Schönheit! — Und was verführte im Grunde die Ausländer, dass sie dem nicht so zusahen, wie Goethe und Schopenhauer, oder einfach davon absahen? Es war jener matte Glanz, jenes räthselhafte Milchstrassen-Licht, welches um diese Bildung leuchtete: dabei sagte sich der Ausländer „Das ist uns sehr, sehr ferne, da hört für uns Sehen, Hören, Verstehen, Geniessen, Abschätzen auf; trotzdem könnten es Sterne sein! Sollten die Deutschen in aller Stille eine Ecke des Himmels entdeckt und sich dort niedergelassen haben? Man muss suchen, den Deutschen näher zu kommen.“ Und man kam ihnen näher: während kaum viel später die selben Deutschen sich zu bemühen anfiengen, den Milchstrassen-Glanz von sich abzustreifen; sie wussten zu gut, dass sie nicht im Himmel gewesen waren, — sondern in einer Wolke!
282.
[219] Gefahr in der Schönheit. — Diese Frau ist schön und klug: ach, wie viel klüger aber würde sie geworden sein, wenn sie nicht schön wäre!
433.
[270] Mit neuen Augen sehen. — Gesetzt, dass unter Schönheit in der Kunst immer die Nachbildung des Glücklichen zu verstehen ist — und so halte ich es für die Wahrheit —, je nachdem eine Zeit, ein Volk, ein grosses in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glücklichen vorstellt: was giebt dann der sogenannte Realismus der jetzigen Künstler über das Glück unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft seine Art von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu geniessen wissen. Folglich muss man wohl glauben, das jetzige uns eigene Glück liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung des Wirklichen, nicht also in der Realität, sondern im Wissen um die Realität? So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, dass die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen „Seligkeiten“ an sich geworden sind!
468.
[284] Das Reich der Schönheit ist grösser. — Wie wir in der Natur herumgehen, listig und froh, um die Allem eigene Schönheit zu entdecken und gleichsam auf der That zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein, bald bei gewitterhaftem Himmel, bald in der bleichsten Dämmerung einen Versuch machen, jenes Stück Küste mit Felsen, Meerbuchten, Ölbäumen und Pinien so zu sehen, wie es zu seiner Vollkommenheit und Meisterschaft kommt: so sollten wir auch unter den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspäher, Gutes und Böses ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schönheit sich offenbare, welche bei Diesem sonnenhaft, bei Jenem gewitterhaft und bei einem Dritten erst in der halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn verboten, den bösen Menschen als eine wilde Landschaft zu geniessen, die ihre eigenen kühnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn der selbe Mensch, solange er sich gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung und Carricatur erscheint und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht? — Ja, es ist verboten: bisher war es nur [285] erlaubt, im Moralisch-Guten nach Schönheit zu suchen, — Grund genug, dass man so Wenig gefunden und sich so viel nach imaginären Schönheiten ohne Knochen hat umthun müssen! — So gewiss es hundert Arten von Glück bei den Bösen giebt, von denen die Tugendhaften Nichts ahnen, so giebt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit: und viele sind noch nicht entdeckt.
513.
[302] Schranke und Schönheit. — Suchst du Menschen mit schöner Cultur? Aber dann musst du dir, wie wenn du schöne Gegenden suchst, auch beschränkte Aussichten und Ansichten gefallen lassen. — Gewiss giebt es auch panoramatische Menschen, gewiss sind sie, wie die panoramatischen Gegenden, lehrreich und erstaunlich: aber nicht schön.
515.
[303] Zunahme der Schönheit. — Warum nimmt die Schönheit mit der Civilisation zu? Weil bei dem civilisirten Menschen die drei Gelegenheiten zur Hässlichkeit selten und immer seltener kommen: erstens die Affecte in ihren wildesten Ausbrüchen, zweitens die leiblichen Anstrengungen des äussersten Grades, drittens die Nöthigung, durch den Anblick Furcht einzuflössen, welche auf niederen und gefährdeten Culturstufen so gross und häufig ist, dass sie selbst Gebärden und Ceremoniell festsetzt und die Hässlichkeit zur Pflicht macht.
550.
[324] Erkenntniss und Schönheit. — Wenn die Menschen, so wie sie immer noch thun, ihre Verehrung und ihr Glücksgefühl für die Werke der Einbildung und der Verstellung gleichsam aufsparen, so darf es nicht Wunder nehmen, wenn sie sich beim Gegensatz der Einbildung und Verstellung kalt und unlustig finden. Das Entzücken, welches schon beim kleinsten sicheren endgültigen Schritt und Fortschritt der Einsicht entsteht und welches aus der jetzigen Art der Wissenschaft so reichlich und schon für so Viele herausströmt, — dieses Entzücken wird einstweilen von allen Denen nicht geglaubt, welche sich daran gewöhnt haben, immer nur beim Verlassen der Wirklichkeit, beim Sprung in die Tiefen des Scheins entzückt zu werden. Diese meinen, die Wirklichkeit sei hässlich: aber daran denken sie nicht, dass die Erkenntniss auch der hässlichsten Wirklichkeit schön ist, ebenso dass wer oft und viel erkennt, zuletzt sehr ferne davon ist, das grosse Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer Glück gab, hässlich zu finden. Giebt es denn etwas „an sich Schönes“? Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger; die Erkenntniss legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; […]
Die Fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“) (1887)
105.
[138] Die Deutschen als Künstler. — [139] […] Die Ahnung davon, auf welcher Höhe erst die Schönheit ihren Zauber selbst über Deutsche ausgiesst, treibt die deutschen Künstler in die Höhe und Ueberhöhe und in die Ausschweifungen der Leidenschaft: ein wirkliches tiefes Verlangen also, über die Hässlichkeit und Ungeschicktheit hinauszukommen, mindestens hinauszublicken — hin nach einer besseren, leichteren, südlicheren, sonnenhafteren Welt. Und so sind ihre Krämpfe oftmals nur Anzeichen dafür, dass sie tanzen möchten: diese armen Bären, in denen versteckte Nymphen und Waldgötter ihr Wesen treiben — und mitunter noch höhere Gottheiten!
109.
[145] Hüten wir uns! – [146] […] Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen. Von unserer Vernunft aus geurtheilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heissen darf, — und zuletzt ist selbst das Wort „verunglückter Wurf“ schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich schliesst. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben! Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will Nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urtheile getroffen! Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es kennt auch keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. Es giebt nur Nothwendigkeiten: da ist Keiner, der befiehlt, Keiner, der gehorcht, Keiner, der übertritt. Wenn ihr wisst, dass es keine Zwecke giebt, so wisst ihr auch, dass es keinen Zufall giebt: denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort „Zufall“ einen Sinn. Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene Art. — Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es giebt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein eben solcher Irrthum, wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!
339.
[248] Vita femina. — Die letzten Schönheiten eines Werkes zu sehen — dazu reicht alles Wissen und aller guter Wille nicht aus; es bedarf der seltensten glücklichen Zufälle, damit einmal der Wolkenschleier von diesen Gipfeln für uns weiche und die Sonne auf ihnen glühe. Nicht nur müssen wir gerade an der rechten Stelle stehen, diess zu sehen: es muss gerade unsere Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen haben und eines äusseren Ausdruckes und Gleichnisses bedürftig sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer selber mächtig zu bleiben. Diess Alles aber kommt so selten gleichzeitig zusammen, dass ich glauben möchte, die höchsten Höhen alles Guten, sei es [249] Werk, That, Mensch, Natur, seien bisher für die Meisten und selbst für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes gewesen: — was sich aber uns enthüllt, das enthüllt sich uns Ein Mal! — Die Griechen beteten wohl: „Zwei und drei Mal alles Schöne!“ Ach, sie hatten da einen guten Grund, Götter anzurufen, denn die ungöttliche Wirklichkeit giebt uns das Schöne gar nicht oder Ein Mal! Ich will sagen, dass die Welt übervoll von schönen Dingen ist, aber trotzdem arm, sehr arm an schönen Augenblicken und Enthüllungen dieser Dinge. Aber vielleicht ist diess der stärkste Zauber des Lebens: es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheissend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib!
Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und Keinen. Zweiter Theil (1883)
Von den Erhabenen.
[147] […] Noch hat seine Erkenntniss nicht lächeln gelernt und ohne Eifersucht sein; noch ist seine strömende Leidenschaft nicht stille geworden in der Schönheit.
[148] Wahrlich, nicht in der Sattheit soll sein Verlangen schweigen und untertauchen, sondern in der Schönheit! Die Anmuth gehört zur Grossmuth des Grossgesinnten.
Den Arm über das Haupt gelegt: so sollte der Held ausruhn, so sollte er auch noch sein Ausruhen überwinden.
Aber gerade dem Helden ist das Schöne aller Dinge Schwerstes. Unerringbar ist das Schöne allem heftigen Willen.
Ein Wenig mehr, ein Wenig weniger: das gerade ist hier Viel, das ist hier das Meiste.
Mit lässigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem Willen: das ist das Schwerste euch Allen, ihr Erhabenen!
Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in’s Sichtbare: Schönheit heisse ich solches Herabkommen.
Und von Niemandem will ich so als von dir gerade Schönheit, du Gewaltiger: deine Güte sei deine letzte Selbst-Überwältigung.
Alles Böse traue ich dir zu: darum will ich von dir das Gute.
Wahrlich, ich lachte oft der Schwächlinge, welche sich gut glauben, weil sie lahme Tatzen haben!
Der Säule Tugend sollst du nachstreben: schöner wird sie immer und zarter, aber inwendig härter und tragsamer, je mehr sie aufsteigt.
Ja, du Erhabener, einst sollst du noch schön sein und deiner eignen Schönheit den Spiegel vorhalten.
Dann wird deine Seele vor göttlichen Begierden schaudern; und Anbetung wird noch in deiner Eitelkeit sein!
Diess nämlich ist das Geheimniss der Seele: erst, wenn sie der Held verlassen hat, naht ihr, im Traume, — der Über-Held.
Also sprach Zarathutra.
Von der unbefleckten Erkenntniss.
[153] […] — Oh, ihr empfindsamen Heuchler, ihr Lüsternen! Euch fehlt die Unschuld in der Begierde: und nun verleumdet ihr drum das Begehren!
Wahrlich, nicht als Schaffende, Zeugende, Werdelustige liebt ihr die Erde!
Wo ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen.
Wo ist Schönheit? Wo ich mit allem Willen wollen muss; wo ich lieben und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe. […]
Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886)
Siebtes Hauptstück: unsere Tugenden.
232.
[177] […] was liegt dem Weibe an Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit, — seine grosse Kunst ist die Lüge, seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. Gestehen wir es, wir Männer: wir ehren und lieben gerade diese Kunst und diesen Instinkt am Weibe: wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu unsrer Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen, Blicken und zarten Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe wie eine Thorheit erscheint. […]
Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887)
Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes
18.
[341] Man hüte sich, von diesem ganzen Phänomen deshalb schon gering zu denken, weil es von vornherein hässlich und schmerzhaft ist. Im Grunde ist es ja dieselbe aktive Kraft, die in jenen Gewalt-Künstlern und Organisatoren grossartiger am Werke ist und Staaten baut, welche hier, innerlich, kleiner, kleinlicher, in der Richtung nach rückwärts, im „Labyrinth der Brust“, um mit [342] Goethe zu reden, sich das schlechte Gewissen schafft und negative Ideale baut, eben jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht): nur dass der Stoff, an dem sich die formbildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft auslässt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes thierisches altes Selbst ist — und nicht, wie in jenem grösseren und augenfälligeren Phänomen, der andre Mensch, die andren Menschen. Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit, diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese unheimliche und entsetzlich-lustvolle Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich leiden macht, aus Lust am Leidenmachen, dieses ganze aktivische „schlechte Gewissen“ hat zuletzt — man erräth es schon — als der eigentliche Mutterschooss idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Bejahung an’s Licht gebracht und vielleicht überhaupt erst die Schönheit… Was wäre denn „schön“, wenn nicht erst der Widerspruch sich selbst zum Bewusstsein gekommen wäre, wenn nicht erst das Hässliche zu sich selbst gesagt hätte: „ich bin hässlich“?… Zum Mindesten wird nach diesem Winke das Räthsel weniger räthselhaft sein, in wiefern in widersprüchlichen Begriffen, wie Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung, Selbstopferung ein Ideal, eine Schönheit angedeutet sein kann; und Eins weiss man hinfort, ich zweifle nicht daran —, welcher Art nämlich von Anfang an die Lust ist, die der Selbstlose, der Sich-selbst-Verleugnende, Sich-selber-Opfernde empfindet: diese Lust gehört zur Grausamkeit. — Soviel vorläufig zur Herkunft des „Unegoistischen“ als eines moralischen Werthes und zur Absteckung des Bodens, aus dem dieser Werth gewachsen ist: erst das schlechte Gewissen, erst der Wille zur Selbstmisshandlung [343] giebt die Voraussetzung ab für den Werth des Unegoistischen. —
Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?
6.
[364] Schopenhauer hat sich die Kantische Fassung des ästhetischen Problems zu Nutze gemacht, — obwohl er es ganz gewiss nicht mit Kantischen Augen angeschaut hat. Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte, welche die Ehre der Erkenntniss ausmachen: Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit. Ob dies nicht in der Hauptsache ein Fehlgriff war, ist hier nicht am Orte zu verhandeln; was ich allein unterstreichen will, ist, dass Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom „Zuschauer“ aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unvermerkt den „Zuschauer“ selber in den Begriff „schön“ hinein bekommen hat. Wäre aber wenigstens nur dieser „Zu [365] schauer“ den Philosophen des Schönen ausreichend bekannt gewesen! — nämlich als eine grosse persönliche Thatsache und Erfahrung, als eine Fülle eigenster starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen, Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen! Aber das Gegentheil war, wie ich fürchte, immer der Fall: und so bekommen wir denn von ihnen gleich von Anfang an Definitionen, in denen, wie in jener berühmten Definition, die Kant vom Schönen giebt, der Mangel an feinerer Selbst-Erfahrung in Gestalt eines dicken Wurms von Grundirrthum sitzt. „Schön ist, hat Kant gesagt, was ohne Interesse gefällt.“ Ohne Interesse! Man vergleiche mit dieser Definition jene andre, die ein wirklicher „Zuschauer“ und Artist gemacht hat — Stendhal, der das Schöne einmal une promesse de bonheur nennt. Hier ist jedenfalls gerade Das abgelehnt und ausgestrichen, was Kant allein am ästhetischen Zustande hervorhebt: le désintéressement. Wer hat Recht, Kant oder Stendhal? — Wenn freilich unsre Aesthetiker nicht müde werden, zu Gunsten Kant’s in die Wagschale zu werfen, dass man unter dem Zauber der Schönheit sogar gewandlose weibliche Statuen „ohne Interesse“ anschauen könne, so darf man wohl ein wenig auf ihre Unkosten lachen: — die Erfahrungen der Künstler sind in Bezug auf diesen heiklen Punkt „interessanter“, und Pygmalion war jedenfalls nicht nothwendig ein „unästhetischer Mensch“. Denken wir um so besser von der Unschuld unsrer Aesthetiker, welche sich in solchen Argumenten spiegelt, rechnen wir es zum Beispiel Kanten zu Ehren an, was er über das Eigenthümliche des Tastsinns mit landpfarrermässiger Naivetät zu lehren weiss! — Und hier kommen wir auf Schopenhauer zurück, der in ganz andrem Maasse als Kant den Künsten nahestand und doch nicht aus dem Bann der Kantischen Definition herausgekommen ist: wie kam das? Der Umstand ist wunderlich genug: das Wort „ohne Interesse“ interpretirte er sich in der allerpersönlichsten Weise, aus einer Erfahrung heraus, die bei ihm zu den regelmässigsten gehört haben muss. Über wenig Dinge [366] redet Schopenhauer so sicher wie über die Wirkung der ästhetischen Contemplation: er sagt ihr nach, dass sie gerade der geschlechtlichen „Interessirtheit“ entgegenwirke, ähnlich also wie Lupulin und Kampher, er ist nie müde geworden, dieses Loskommen vom „Willen“ als den grossen Vorzug und Nutzen des ästhetischen Zustandes zu verherrlichen. Ja man möchte versucht sein zu fragen, ob nicht seine Grundconception von „Willen und Vorstellung“, der Gedanke, dass es eine Erlösung vom „Willen“ einzig durch die „Vorstellung“ geben könne, aus einer Verallgemeinerung jener Sexual-Erfahrung ihren Ursprung genommen habe. (Bei allen Fragen in Betreff der Schopenhauer’schen Philosophie ist, anbei bemerkt, niemals ausser Acht zu lassen, dass sie die Conception eines sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist; so dass sie nicht nur an dem Spezifischen Schopenhauer’s, sondern auch an dem Spezifischen jener Jahreszeit des Lebens Antheil hat.) Hören wir zum Beispiel eine der ausdrücklichsten Stellen unter den zahllosen, die er zu Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat (Welt als Wille und Vorstellung I 231), hören wir den Ton heraus, das Leiden, das Glück, die Dankbarkeit, mit der solche Worte gesprochen worden sind. „Das ist der schmerzlose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries; wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still“… Welche Vehemenz der Worte! Welche Bilder der Qual und des langen Überdrusses! Welche fast pathologische Zeit-Gegenüberstellung „jenes Augenblicks“ und des sonstigen „Rads des Ixions“, der „Zuchthausarbeit des Wollens“, des „schnöden Willensdrangs“! — Aber gesetzt, dass Schopenhauer hundert Mal für seine Person Recht hätte, was wäre damit für die Einsicht in’s Wesen des Schönen gethan? Schopenhauer hat Eine Wirkung des Schönen beschrieben, die willen-calmirende, — ist sie auch nur eine regelmässige? Stendhal, wie gesagt, eine nicht weniger sinnliche, aber glücklicher [367] gerathene Natur als Schopenhauer, hebt eine andre Wirkung des Schönen hervor: „das Schöne verspricht Glück“, ihm scheint gerade die Erregung des Willens (des „Interesses“) durch das Schöne der Thatbestand. Und könnte man nicht zuletzt Schopenhauern selber einwenden, dass er sehr mit Unrecht sich hierin Kantianer dünke, dass er ganz und gar nicht die Kantische Definition des Schönen Kantisch verstanden habe, — dass auch ihm das Schöne aus einem „Interesse“ gefalle, sogar aus dem allerstärksten, allerpersönlichsten Interesse: dem des Torturirten, der von seiner Tortur loskommt?… Und, um auf unsre erste Frage zurückzukommen „was bedeutet es, wenn ein Philosoph dem asketischen Ideale huldigt?“, so bekommen wir hier wenigstens einen ersten Wink: er will von einer Tortur loskommen. —
27.
[426] — Genug! Genug! Lassen wir diese Curiositäten und Complexitäten des modernsten Geistes, an denen ebensoviel zum Lachen als zum Verdriessen ist: gerade unser Problem kann deren entrathen, das Problem von der Bedeutung des asketischen Ideals, — was hat dasselbe mit Gestern und Heute zu thun! Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter angefasst werden (unter dem Titel „Zur Geschichte des europäischen Nihilismus“; ich verweise da [427] für auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwerthung aller Werthe). Worauf es mir allein ankommt hier hingewiesen zu haben, ist dies: das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch Eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern: das sind die Komödianten dieses Ideals, — denn sie wecken Misstrauen. Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals — der populäre Ausdruck für diese Abstinenz ist „Atheismus“ —: abgerechnet seines Willens zur Wahrheit. Dieser Wille aber, dieser Rest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, esoterisch ganz und gar, alles Aussenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern. Der unbedingte redliche Atheismus (— und seine Luft allein athmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäss nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlussformen und inneren Folgerichtigkeiten, — er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet. (Derselbe Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner Unabhängigkeit, und deshalb Etwas beweisend; dasselbe Ideal zum gleichen Schlusse zwingend; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer: schon mit der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha popularisirt und zur Religion gemacht.) Was, in aller Strenge gefragt, hat eigentlich über den christlichen Gott gesiegt? Die Antwort steht in meiner „fröhlichen Wissenschaft“ S. 290: „die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden [428] Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretiren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlussabsichten; die eigenen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Femininismus, Schwachheit, Feigheit, — mit dieser Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung“… Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen „Selbstüberwindung“ im Wesen des Lebens, — immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: „patere legem, quam ipse tulisti.“ Dergestalt gieng das Christenthum als Dogma zu Grunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muss nun auch das Christenthum als Moral noch zu Grunde gehn, — wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt „was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?“… Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine unbekannten Freunde (— denn noch weiss ich von keinem Freunde): welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewusstsein gekommen wäre?… An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an — daran ist kein Zweifel — die Moral zu Grunde: jenes grosse Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s [429] aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele…
28.
Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Thier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; „wozu Mensch überhaupt?“ — war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem grossen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch grösseres „Umsonst!“ Das eben bedeutet das asketische Ideal: dass Etwas fehlte, dass eine ungeheure Lücke den Menschen umstand, — er wusste sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Thier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage „wozu leiden?“ Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Thier, verneint an sich nicht das Leiden: er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, dass man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag, — und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! Es war bisher der einzige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn; das asketische Ideal war in jedem Betracht das „faute de mieux“ par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leiden ausgelegt; die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Thür schloss sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung — es ist kein Zweifel — brachte neues Leiden mit sich, tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der Schuld… Aber trotzalledem — der Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des [430] Unsinns, des „Ohne-Sinns“, er konnte nunmehr Etwas wollen, — gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet. Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Thierische, mehr noch gegen das Stoffliche, dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, diese Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst — das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille!… Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen…
Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (1888)
6.
[17] — Ich gestatte mir wieder eine Erheiterung. Ich setze den Fall, dass der Erfolg Wagner’s leibhaft würde, Gestalt annähme, dass er, verkleidet zum menschenfreundlichen Musikgelehrten, sich unter junge Künstler mischte. Wie meinen Sie wohl, dass er sich da verlautbarte? —
Meine Freunde, würde er sagen, reden wir fünf Worte unter uns. Es ist leichter, schlechte Musik zu machen als gute. Wie? wenn es ausserdem auch noch vortheilhafter wäre? wirkungsvoller, überredender, begeisternder, zuverlässiger? Wagne [18] rischer?… Pulchrum est paucorum hominum. Schlimm genug! Wir verstehn Latein, wir verstehn vielleicht auch unsern Vortheil. Das Schöne hat seinen Haken: wir wissen das. Wozu also Schönheit? Warum nicht lieber das Grosse, das Erhabne, das Gigantische, Das, was die Massen bewegt? — Und nochmals: es ist leichter, gigantisch zu sein als schön; wir wissen das…
Wir kennen die Massen, wir kennen das Theater. Das Beste, was darin sitzt, deutsche Jünglinge, gehörnte Siegfriede und andre Wagnerianer, bedarf des Erhabenen, des Tiefen, des Überwältigenden. So viel vermögen wir noch. Und das Andre, das auch noch darin sitzt, die Bildungs-Cretins, die kleinen Blasirten, die Ewig-Weiblichen, die Glücklich-Verdauenden, kurz das Volk — bedarf ebenfalls des Erhabenen, des Tiefen, des Überwältigenden. Das hat Alles einerlei Logik. „Wer uns umwirft, der ist stark; wer uns erhebt, der ist göttlich; wer uns ahnen macht, der ist tief.“ — Entschliessen wir uns, meine Herrn Musiker: wir wollen sie umwerfen, wir wollen sie erheben, wir wollen sie ahnen machen. So viel vermögen wir noch.
Was das Ahnen-machen betrifft: so nimmt hier unser Begriff „Stil“ seinen Ausgangspunkt. Vor Allem kein Gedanke! Nichts ist compromittirender als ein Gedanke! Sondern der Zustand vor dem Gedanken, das Gedräng der noch nicht geborenen Gedanken, das Versprechen zukünftiger Gedanken, die Welt, wie sie war, bevor Gott sie schuf, — eine Recrudescenz des Chaos… Das Chaos macht ahnen…
In der Sprache des Meisters geredet: Unendlichkeit, aber ohne Melodie.
Was, zuzweit, das Umwerfen angeht, so gehört dies zum Theil schon in die Physiologie. Studiren wir vor Allem die Instrumente. Einige von ihnen überreden selbst noch die Eingeweide (— sie öffnen die Thore, mit Händel zu reden), andre bezaubern das Rückenmark. Die Farbe des Klangs entscheidet hier; was erklingt, ist beinahe gleichgültig. Raffiniren [19] wir in diesem Punkte! Wozu uns sonst verschwenden? Seien wir im Klang charakteristisch bis zur Narrheit! Man rechnet es unserm Geiste zu, wenn wir mit Klängen viel zu rathen geben! Agaçiren wir die Nerven, schlagen wir sie todt, handhaben wir Blitz und Donner, — das wirft um…
Vor Allem aber wirft die Leidenschaft um. — Verstehen wir uns über die Leidenschaft. Nichts ist wohlfeiler als die Leidenschaft! Man kann aller Tugenden des Contrapunktes entrathen, man braucht Nichts gelernt zu haben, — die Leidenschaft kann man immer! Die Schönheit ist schwierig: hüten wir uns vor der Schönheit!… Und gar die Melodie! Verleumden wir, meine Freunde, verleumden wir, wenn anders es uns ernst ist mit dem Ideale, verleumden wir die Melodie! Nichts ist gefährlicher als eine schöne Melodie! Nichts verdirbt sicherer den Geschmack! Wir sind verloren, meine Freunde, wenn man wieder schöne Melodien liebt!…
Grundsatz: die Melodie ist unmoralisch. Beweis: Palestrina. Nutzanwendung: Parsifal. Der Mangel an Melodie heiligt selbst…
Und dies ist die Definition der Leidenschaft. Leidenschaft — oder die Gymnastik des Hässlichen auf dem Seile der Enharmonik. — Wagen wir es, meine Freunde, hässlich zu sein! Wagner hat es gewagt! Wälzen wir unverzagt den Schlamm der widrigsten Harmonien vor uns her! Schonen wir unsre Hände nicht! Erst damit werden wir natürlich…
Einen letzten Rath! Vielleicht fasst er Alles in Eins. — Seien wir Idealisten! — Dies ist, wenn nicht das Klügste, so doch das Weiseste, was wir thun können. Um die Menschen zu erheben, muss man selbst erhaben sein. Wandeln wir über Wolken, haranguiren wir das Unendliche, stellen wir die grossen Symbole um uns herum! Sursum! Bumbum! — es giebt keinen besseren Rath. Der „gehobene Busen“ sei unser Argument, das „schöne Gefühl“ unser Fürsprecher. Die Tugend behält Recht noch gegen den Contrapunkt. „Wer uns verbessert, [20] wie sollte der nicht selbst gut sein?“ so hat die Menschheit immer geschlossen. Verbessern wir also die Menschheit! — damit wird man gut (damit wird man selbst „Klassiker“: — Schiller wurde „Klassiker“). Das Haschen nach niederem Sinnesreiz, nach der sogenannten Schönheit hat den Italiäner entnervt: bleiben wir deutsch! Selbst Mozart’s Verhältniss zur Musik — Wagner hat es uns zum Trost gesagt! — war im Grunde frivol… Lassen wir niemals zu, dass die Musik „zur Erholung diene“; dass sie „erheitere“; dass sie „Vergnügen mache“. Machen wir nie Vergnügen! — wir sind verloren, wenn man von der Kunst wieder hedonistisch denkt… Das ist schlechtes achtzehntes Jahrhundert… Nichts dagegen dürfte räthlicher sein, bei Seite gesagt, als eine Dosis — Muckerthum, sit venia verbo. Das giebt Würde. — Und wählen wir die Stunde, wo es sich schickt, schwarz zu blicken, öffentlich zu seufzen, christlich zu seufzen, das grosse christliche Mitleiden zur Schau zu stellen. „Der Mensch ist verderbt: wer erlöst ihn? was erlöst ihn?“ — Antworten wir nicht. Seien wir vorsichtig. Bekämpfen wir unsern Ehrgeiz, welcher Religionen stiften möchte. Aber Niemand darf zweifeln, dass wir ihn erlösen, dass unsre Musik allein erlöst… (Wagner’s Aufsatz „Religion und Kunst“.)
Nachschrift.
[37] […] Wagner war nie besser inspirirt als am Ende. Das Raffinement im Bündniss von Schönheit und Krankheit geht hier so weit, dass es über Wagner’s frühere Kunst gleichsam Schatten legt: — sie erscheint zu hell, zu gesund. Versteht ihr das? Die Gesundheit, die Helligkeit als Schatten wirkend? als Einwand beinahe? […]
Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (1889)
19.
[117] Schön und hässlich. — Nichts ist bedingter, sagen wir beschränkter, als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst von der Lust des Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und Boden unter den Füssen. Das „Schöne an sich“ ist bloss ein Wort, nicht einmal ein Begriff. Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der Vollkommenheit; in ausgesuchten Fällen betet er sich darin an. Eine Gattung kann gar nicht anders als dergestalt zu sich allein Ja sagen. Ihr unterster Instinkt, der der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung, strahlt noch in solchen Sublimitäten aus. Der Mensch glaubt die Welt selbst mit Schönheit überhäuft, — er vergisst sich als deren Ursache. Er allein hat sie mit Schönheit beschenkt, ach! nur mit einer sehr menschlich-allzumenschlichen Schönheit… Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft: das Urtheil „schön“ ist seine Gattungs-Eitelkeit… Dem Skeptiker nämlich darf ein kleiner Argwohn die Frage in’s Ohr flüstern: ist wirklich damit die Welt verschönt, dass gerade der Mensch sie für schön nimmt? Er hat sie vermenschlicht: das ist Alles. Aber Nichts, gar Nichts verbürgt uns, dass gerade der Mensch das Modell des Schönen abgäbe. Wer weiss, wie er sich in den Augen eines höheren Geschmacksrichters ausnimmt? Vielleicht gewagt? vielleicht selbst erheiternd? vielleicht ein wenig arbiträr?… „Oh Dionysos, Göttlicher, warum ziehst du mich an den Ohren?“ fragte Ariadne einmal bei einem jener berühmten Zwiegespräche [118] auf Naxos ihren philosophischen Liebhaber. „Ich finde eine Art Humor in deinen Ohren, Ariadne: warum sind sie nicht noch länger?“
20.
Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön: auf dieser Naivetät ruht alle Aesthetik, sie ist deren erste Wahrheit. Fügen wir sofort noch deren zweite hinzu: Nichts ist hässlich als der entartende Mensch, — damit ist das Reich des ästhetischen Urtheils umgrenzt. — Physiologisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche den Menschen. Es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht; er büsst thatsächlich dabei Kraft ein. Man kann die Wirkung des Hässlichen mit dem Dynamometer messen. Wo der Mensch überhaupt niedergedrückt wird, da wittert er die Nähe von etwas „Hässlichem“. Sein Gefühl der Macht, sein Wille zur Macht, sein Muth, sein Stolz — das fällt mit dem Hässlichen, das steigt mit dem Schönen… Im einen wie im andern Falle machen wir einen Schluss: die Prämissen dazu sind in ungeheurer Fülle im Instinkte aufgehäuft. Das Hässliche wird verstanden als ein Wink und Symptom der Degenerescenz: was im Entferntesten an Degenerescenz erinnert, das wirkt in uns das Urtheil „hässlich“. Jedes Anzeichen von Erschöpfung, von Schwere, von Alter, von Müdigkeit, jede Art Unfreiheit, als Krampf, als Lähmung, vor Allem der Geruch, die Farbe, die Form der Auflösung, der Verwesung, und sei es auch in der letzten Verdünnung zum Symbol — das Alles ruft die gleiche Reaktion hervor, das Werthurtheil „hässlich“. Ein Hass springt da hervor: wen hasst da der Mensch? Aber es ist kein Zweifel: den Niedergang seines Typus. Er hasst da aus dem tiefsten Instinkte der Gattung heraus; in diesem Hass ist Schauder, Vorsicht, Tiefe, Fernblick, — es ist der tiefste Hass, den es giebt. Um seinetwillen ist die Kunst tief…
21.
[119] Schopenhauer. — Schopenhauer, der letzte Deutsche, der in Betracht kommt (— der ein europäisches Ereigniss gleich Goethe, gleich Hegel, gleich Heinrich Heine ist, und nicht bloss ein lokales, ein „nationales“), ist für einen Psychologen ein Fall ersten Ranges: nämlich als bösartig genialer Versuch, zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die grossen Selbstbejahungen des „Willens zum Leben“, die Exuberanz-Formen des Lebens in’s Feld zu führen. Er hat, der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der „Verneinung“ oder der Verneinungs-Bedürftigkeit des „Willens“ interpretirt — die grösste psychologische Falschmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Geschichte giebt. Genauer zugesehn ist er darin bloss der Erbe der christlichen Interpretation: nur dass er auch das vom Christenthum Abgelehnte, die grossen Cultur-Thatsachen der Menschheit noch in einem christlichen, das heisst nihilistischen Sinne gutzuheissen wusste (— nämlich als Wege zur „Erlösung“, als Vorformen der „Erlösung“, als Stimulantia des Bedürfnisses nach „Erlösung“…)
22.
Ich nehme einen einzelnen Fall. Schopenhauer spricht von der Schönheit mit einer schwermüthigen Gluth, — warum letzten Grundes? Weil er in ihr eine Brücke sieht, auf der man weiter gelangt, oder Durst bekommt, weiter zu gelangen… Sie ist ihm die Erlösung vom „Willen“ auf Augenblicke — sie lockt zur Erlösung für immer… Insbesondere preist er sie als Erlöserin vom „Brennpunkte des Willens“, von der Geschlechtlichkeit, — in der Schönheit sieht er den Zeugetrieb verneint…Wunderlicher Heiliger! Irgend Jemand wider [120] spricht dir, ich fürchte, es ist die Natur. Wozu giebt es überhaupt Schönheit in Ton, Farbe, Duft, rhythmischer Bewegung in der Natur? was treibt die Schönheit heraus? — Glücklicherweise widerspricht ihm auch ein Philosoph. Keine geringere Autorität als die des göttlichen Plato (— so nennt ihn Schopenhauer selbst) hält einen andern Satz aufrecht: dass alle Schönheit zur Zeugung reize, — dass dies gerade das proprium ihrer Wirkung sei, vom Sinnlichsten bis hinauf in’s Geistigste…
47.
[142] Die Schönheit kein Zufall. — Auch die Schönheit einer Rasse oder Familie, ihre Anmuth und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet: sie ist, gleich dem Genie, das Schlussergebniss der accumulirten Arbeit von Geschlechtern. Man muss dem guten [143] Geschmacke grosse Opfer gebracht haben, man muss um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben — das siebzehnte Jahrhundert Frankreichs ist bewunderungswürdig in Beidem —, man muss in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort, Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muss Schönheit dem Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben. Oberste Richtschnur: man muss sich auch vor sich selber nicht „gehen lassen“. — Die guten Dinge sind über die Maassen kostspielig: und immer gilt das Gesetz, dass wer sie hat, ein Andrer ist, als wer sie erwirbt. Alles Gute ist Erbschaft: was nicht ererbt ist, ist unvollkommen, ist Anfang… In Athen waren zur Zeit Cicero’s, der darüber seine Überraschung ausdrückt, die Männer und Jünglinge bei weitem den Frauen an Schönheit überlegen: aber welche Arbeit und Anstrengung im Dienste der Schönheit hatte daselbst das männliche Geschlecht seit Jahrhunderten von sich verlangt! — Man soll sich nämlich über die Methodik hier nicht vergreifen: eine blosse Zucht von Gefühlen und Gedanken ist beinahe Null (— hier liegt das grosse Missverständniss der deutschen Bildung, die ganz illusorisch ist): man muss den Leib zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit Menschen zu leben, die sich nicht „gehen lassen“, genügt vollkommen, um bedeutend und gewählt zu werden: in zwei, drei Geschlechtern ist bereits Alles verinnerlicht. Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, dass man die Cultur an der rechten Stelle beginnt — nicht an der „Seele“ (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester und Halb-Priester war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus… Die Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte — sie wussten, sie thaten, was Noth that; das Christenthum, das den Leib verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit. —
Editorische Notiz
Publikationsvorlage: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Berlin/ New York 1967. Diese Ausgabe seiner Werke, nachgelassenen Schriften und Fragmente dient als Referenz für die „Digitale Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und Briefen“ (eKGBW), herausgegeben von Paolo d‘lorio und publiziert von Nietzsche Source, welche auf http://www.nietzschesource.org/ zugänglich ist (Stand 20.07.2010). Die hier veröffentlichten Textauszüge sind zunächst dieser digitalen Ausgabe entnommen, dann mit der gedruckten Ausgabe verglichen und vereinzelt zugunsten der letzteren korrigiert worden. Sie entstammen folgenden Bänden der gedruckten Kritischen Gesamtausgabe: „Die Geburt der Tragödie“ (Abtlg. III, Bd. 1. 1972. S. 24, 33, 34, 37, 38, 99, 100, 104, 123, 124); „Schopenhauer als Erzieher“ (Abtlg. III, Bd. 1. 1972. S. 376); „Menschliches, Allzumenschliches I“ (Abtlg. IV, Bd. 2. 1967. S. 21, 22, 145, 146, 180, 181); „Menschliches, Allzumenschliches II“ (Abtlg. IV, Bd. 3. 1967. S. 56, 57, 63, 64, 135, 234, 279); „Morgenröthe“ (Abtlg. V, Bd. 1. 1971. S. 32, 145, 146, 162, 163, 164, 219, 270, 284, 285, 302, 303, 324); „Die Fröhliche Wissenschaft“ (Abtlg. V, Bd. 2. 1973. S. 138, 145, 146, 147, 248, 249); „Also sprach Zarathustra“ (Abtlg. VI, Bd. 1. 1968. S. 146, 147, 148, 152, 153); „Jenseits von Gut und Böse“ (Abtlg. VI, Bd. 2. 1968. S. 177); „Genealogie der Moral“ (Abtlg. VI, Bd. 2. 1968. S. 341, 342, 343, 364, 365, 366, 367, 426, 427, 428, 429, 430); „Der Fall Wagner“ (Abtlg. VI, Bd. 3. 1969. S. 17, 18, 19, 20, 37); „Götzendämmerung“ (Abtlg. VI, Bd. 3. 1969. S. 117, 118, 119, 120, 142, 143). Die in dieser Edition hinzugefügten, nummerischen Angaben in eckigen Klammern beziehen sich auf die Paginierung der gedruckten Kritischen Gesamtausgabe. – Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert, fett gedruckte Ausdrücke fett übernommen, gesperrt gedruckte Hervorhebungen kursiviert.
Kommentar
Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat keine einheitliche Ästhetik verfasst. Seine Reflektionen zum Schönen sind über das gesamte Lebenswerk verteilt und bieten weder ein konsistentes Begriffssystem noch eine eindeutige Positionierung Nietzsches. Vielmehr zeichnet sich sein Zugang zum Schönen durch eine fluktuierende Perspektivierung aus – wiederholt erfahren spezifische Aspekte zu späterer Zeit eine Umwertung, werden revidiert oder partiell relativiert. Bemerkenswert ist zudem, dass Nietzsches Texte den von Imagination geprägten Lektürevorgang des Lesers einkalkulieren und somit selbst ästhetisch interpretierbar sind.
Die in dieser Edition vorgenommene Dreiteilung ist daher keine definite Trennung seiner Werke in verschiedene Sinnabschnitte oder Schaffensperioden, sondern der Versuch, die inhomogene Fülle seiner ästhetischen Überlegungen in ihrer Komplexität einigermaßen strukturiert darzustellen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich dabei auf die Gesamtheit der hier präsentierten Textausschnitte, ohne den Anspruch zu erheben, dass diese sich darin erschöpften.
Charakteristisch für Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Schönen ist die antithetische Beziehung, die er zwischen dem Bildner Apollo – Gott eines harmonisch-geordneten Weltbildes – und dem Musiker Dionysos – Gott der Form- und Zügellosigkeit – aufbaut. Besonders in „Die Geburt der Tragödie“ (1872) und in der nachgelassenen Schrift „Die dionysische Weltanschauung“ expliziert er diesen Antagonismus. Er verortet dabei klassische Schönheit in der apollinischen Sphäre des Scheins und bricht mit der Annahme von einer Koinzidenz des Schönen mit dem Wahren. Nicht selten setzt er das Schöne gar mit der Lüge gleich. Schönheitsvorstellungen vor Nietzsche orientieren sich seiner Ansicht nach maßgeblich am apollinischen Ideal des Maßes, oberstes Organ der ästhetischen Wahrnehmung ist das Auge. Als schön gilt das, was visuell als schön empfunden wird und immer eine gewisse Distanz zwischen Betrachter und Objekt aufrecht erhält. Jene Sinne der Nähe (akustische, gustatorische, olfaktorische oder haptische Wahrnehmung), die potenziell disharmonisch sind, fallen als solche in die Sphäre des Rausches, des Dionysischen, und werden infolgedessen disqualifiziert.
Nietzsche hat diese restriktive Definition des Schönen bedeutend extensiviert. Er rehabilitiert das Reservoir des Dionysischen und stellt somit eine Verbindung zwischen dem Hässlich-Dissonanten und dem Schönen her. Dies zeigt nicht zuletzt Nietzsches frühe Begeisterung für die Musik Richard Wagners (1813-1883). Auch der Einfluss Arthur Schopenhauers (1788-1860) spiegelt sich in der apollinisch-dionysischen Duplizität. Dessen These von der „Welt als Wille und Vorstellung“, als Widerstreit zwischen einem metaphysischen Weltwillen des Ganzen und der Sicht des Einzelnen, der die Welt aufgrund des Individuationsprinzips nur oberflächlich wahrnehmen kann, transferiert Nietzsche auf das Wechselspiel des Rausches mit dem Traum, des Wahren mit dem Schein. Auch versucht er, beispielsweise in „Die Geburt des tragischen Gedankens“ (1870) oder in den nachgelassenen Fragmenten aus dem Jahr 1882, diese Kategorien mit der Differenz von Erhabenheit (dionysisch) und Schönheit (apollinisch) wirkungsästhetisch zu fixieren.
Ein weiterer Aspekt bei Nietzsches Beschäftigung mit dem Schönen ist seine Inversion des kant’schen „interesselosen Wohlgefallens“, etwa in „Also Sprach Zarathustra“ (1883), in der „Genealogie der Moral“ (1887) oder der „Götzendämmerung“ (1889). Mit Bezug auf Platon (428/427-348/347 v. Chr.) verortet er den Ursprung des Schönen auch und besonders im Eros. Überhaupt entspricht es der Diktion Nietzsches, dass er das Schöne über seinen Ursprung beschreibt. In Abgrenzung zu Schopenhauers pessimistischem Weltbild, aufgrund dessen dieser die Negierung des individuellen Willens fordert, postuliert Nietzsche ein lebensbejahendes Bekenntnis zum eigenen Willen, das sich sehr deutlich zum Beispiel in den nachgelassenen Fragmenten von 1885-1887 niederschlägt. Dieser „Wille zur Macht“ ist die Motivation des Künstlers, schöne Dinge zu kreieren. Indem Nietzsche das eigene Schaffen des Künstlers anvisiert, folgt er einem stark produktionsästhetischen Ansatz, wenngleich in seinem Spätwerk wirkungsästhetische Aspekte an Gewicht gewinnen. Auch diese sind jedoch in letzter Konsequenz Ausdruck des Schaffenswillens, der produktiven Selbststeigerung, die für Nietzsche den höchsten ästhetischen Wert darstellt. Teilweise geht er in seiner „Artistenmetaphysik“ so weit, dass er das Dasein selbst nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sieht. Kunst stellt hier für ihn die höchste Form der Erkenntnis dar, die der zweckrationalen Vernunft gegenübersteht. Im schönen Kunstwerk schließlich artikuliert sich der „Wille zur Macht“, die Triebfeder des Lebens, wodurch es immer einen Rückbezug zu selbigem aufweist. Dieser Rückbezug ist es, mit dem Nietzsche das Schöne auch des Hässlichen, Furchtbaren und Kranken legitimiert.
Nietzsche konstatiert indes, dass (solche) Schönheit nur die Sache von wenigen Menschen ist, wie er es in „Der Fall Wagner“ (1888) und „Menschliches, Allzumenschliches II“ (1886) formuliert. Nur der Starke vermag, auch in den furchtbaren Dingen das Schöne zu sehen, der Schwache resigniert vor der Grausamkeit des Daseins. Ebenso schwierig ist das Erlangen von Schönheit, etwa durch die Ästhetisierung des eigenen Körpers. Während in der klassischen Ästhetik primär der „Geist“ Gegenstand ästhetischer Bestrebungen war, bezieht Nietzsche auch den Körper ausdrücklich in seine ästhetischen Überlegungen mit ein. Kunst, Ästhetik und Physiologie sind bei ihm interdependente Kategorien, wiewohl nicht zwangsläufig kausal miteinander verknüpft.
Überträgt man Nietzsches ästhetische Vorstellungen auf politische Belange, so zeigt sich, dass Nietzsche eine Diskrepanz zwischen Kunst und Demokratie provoziert. Seine Grundfigur der sublimierenden Selbsterhaltung durch ästhetisches Schaffen impliziert eine Entfaltung des Individuums – wenn nötig gegen alles, was dieser im Wege steht –, die unwillkürlich an den hobbes’schen Kampf im Naturzustand erinnert. Im Gegensatz zu Thomas Hobbes (1588-1679) sieht Nietzsche allerdings nicht die Unmöglichkeit der Stabilisierung, die ein solches Lebenskonzept evoziert. Auch seine pathetische Vision des „Übermenschen“, die vornehmlich eine ästhetische ist, fügt sich dieser Deutung. An dieser Stelle scheint Nietzsche stark am Modell der Antike ausgerichtet, das materiell im Wesentlichen auf Sklavenarbeit beruht.
Obwohl sich Nietzsche für eine produktive Rezeption der griechischen Antike einsetzt, sind ihm die mit hyperhellenischen Idealen ausgestatteten Klassizisten seiner Zeit verhasst. Mit der Sprengkraft des Dionysischen zerstört er nicht nur die Kunstaxiome des Apollinischen, sondern kritisiert die plumpe Nachahmung von Schönheitsidealen in toto. Er polemisiert, beispielsweise in der „Morgenröthe“ (1887), gegen alle Arten der Vereinfachung, Stilisierung und eskapistischen Idealisierung, die dem analytischen und sensualistischen Zugriff auf das Schöne nicht gerecht werden. Er betont hingegen – neben der Zufälligkeit ästhetischer Erfahrung überhaupt – die Wandelbarkeit dominierender Schönheitsnormen, die er am Apoll von Belvedere exemplifiziert. Gleichwohl insistiert Nietzsche darauf, sich von gerade diesen zu befreien, um die subjektiven Begehren, die sich hinter jeder Schönheitsempfindung verbergen, zu entfesseln.
Nietzsches Ausführungen weisen eine Doppeltendenz der Destruktion und des Entwurfes auf. Zwar übt er mit der Revitalisierung des Dionysischen Erkenntniskritik am Schönheitsideal des Apollinischen, an dem sich die deutsche Ästhetik seit den Anfängen bei Johann Joachim Winckelmann (1717-1786) orientiert. Nietzsche wird jedoch missverstanden, nimmt man an, er priorisiere deshalb das Erstere. Ganz im Gegenteil, und symptomatisch für Nietzsches Vorgehen insgesamt, bleibt diese elementare Ambivalenz in ihrer selbstkorrektiven Spannung erhalten. Dass es zuweilen scheint, als präferiere er das Dionysische, ist der bis dahin herrschenden Dominanz des Apollinischen geschuldet. Die notwendige Neuordnung des Chaos ist es, warum Nietzsche zuletzt gerade den Willen zum ästhetischen Schein prononciert.
Freilich bieten Nietzsches Ausführungen keine endgültige Definition des Schönen. Das unermüdliche Umkreisen ästhetischer Problemstellungen und Hinterfragen etablierter Wahrheiten ist es, was ihn antreibt und, trotz ihrer durchaus inhärenten Widersprüchlichkeiten, originäre Gedanken entwickeln lässt. Noch in der aktuellen Forschung werde diese als wegweisende Zäsur in der Geschichte der Ästhetik begriffen.
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Bearbeitet von: Benjamin Puls