Nachgelassene Schriften

Auszüge aus „Die dionysische Weltanschauung“, „Die Geburt des tragischen Gedankens“ und „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“

Von Friedrich NietzscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich Nietzsche

Die dionysische Weltanschauung

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[…] [46] In welchem Sinne konnte nun Apollo zum Kunstgotte gemacht werden? Nur, insofern er der Gott der Traumesvorstellungen ist. Er ist der „Scheinende“ durch und durch: in tiefster Wurzel Sonnen- und Lichtgott, der sich im Glanze offenbart. Die „Schönheit“ ist sein Element: ewige Jugend ihm zugesellt. Aber auch der schöne Schein der Traumwelt ist sein Reich: die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit erheben ihn zum wahrsagenden Gotte, aber eben so gewiß zum künstlerischen Gotte. Der Gott des schönen Scheines muß zugleich der Gott der wahren Erkenntniß sein. Aber jene zarte Grenze, die das Traumbild nicht überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, wo der Schein nicht nur täuscht sondern betrügt, darf auch nicht im Wesen des Apoll fehlen: jene maßvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene Weisheit und Ruhe des Bildnergottes. Sein Auge muß „sonnenhaft“ ruhig sein: auch wenn es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm.
Die dionysische Kunst dagegen beruht auf dem Spiel mit dem Rausche, mit der Verzückung. Zwei Mächte vornehmlich sind es, die den naiven Naturmenschen zur Selbstvergessenheit des Rausches steigern, der Frühlingstrieb und das narkotische Getränk. Ihre Wirkungen sind in der Figur des Dionysos symbolisiert. […]
[48] Je kräftiger nun der apollinische Kunstgeist heranwuchs, um so freier entwickelte sich der Bruder-gott Dionysos: zur selben Zeit als der erste zum vollen gleichsam unbeweglichen Anblick der Schönheit kam, in der Zeit des Phidias, deutete der andere in der Tragödie die Welträthsel und Weltschrecken und sprach in der tragischen Musik den innersten Naturgedanken, das Weben des „Willens“ in und über allen Erscheinungen aus. […]
[50] Es war das apollinische Volk, das den übermächtigen Instinkt in die Fesseln der Schönheit schlug: es hat die gefährlichsten Elemente der Natur, ihre wildesten Bestien in das Joch gespannt. […]

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[52] Sein Dasein, wie es nun einmal ist, in einem verklärenden Spiegel zu sehn und sich mit diesem Spiegel gegen die Meduse zu schützen — das war die geniale Strategie des hellenischen „Willens“, um überhaupt leben zu können. Denn wie anders hätte jenes unendlich sensible, für das Leiden so glänzend befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe von einer höheren Glorie umflossen in seinen Göttern offenbart worden wäre! Derselbe Trieb, der die [53] Kunst in’s Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch die olympische Welt entstehen, eine Welt der Schönheit, der Ruhe, des Genusses.
[…] Bei allen diesen, vom Edelsten in das Gemeinste sich verirrenden Vorstellungen ist das Hellenenthum zu roh und einfach genommen und gewissermaßen nach dem Bilde unzweideutiger, gleichsam einseitiger Nationen (z.B. der Römer) geformt worden. Man sollte doch das Bedürfniß nach künstlerischem Schein auch in der Weltanschauung eines Volkes vermuthen, das, woran es rührt, in Gold zu verwandeln pflegt. Wirklich auch begegnen wir, wie schon angedeutet, einer ungeheuren Illusion in dieser Weltanschauung, derselben Illusion, deren sich die Natur zur Erreichung ihrer Zwecke so regelmäßig bedient. Das wahre Ziel wird [54] durch ein Wahnbild verdeckt: nach diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch diese Täuschung. In den Griechen wollte der Wille sich selbst zum Kunstwerk verklärt anschauen: um sich zu verherrlichen, mußten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichenswerth empfinden, sie mußten sich in einer höheren Sphäre wiedersehen, gleichsam in’s Ideale emporgehoben, ohne daß diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympier, erblicken. Mit dieser Waffe kämpfte der hellenische Wille gegen das dem künstlerischen correlative Talent, zum Leiden und zur Weisheit des Leidens. Aus diesem Kampfe und als Denkmal seines Sieges ist die Tragödie geboren.
[…] Von dieser Götterwelt muß, wenn sie nicht ganz, wie ein sträfliches Geheimniß verhüllt werden kann, der Blick durch die danebengestellte glänzende Traumgeburt der olympischen Welt abgezogen werden: darum steigert sich die Gluth ihrer Farben, die Sinnlichkeit ihrer Gestalten, um so höher, je stärker die Wahrheit oder das Symbol derselben sich geltend macht. Nie war aber der Kampf zwischen Wahrheit und Schönheit größer als bei der Invasion des Dionysosdienstes: in ihm enthüllte sich die Natur und sprach von ihrem Geheimniß mit entsetzlicher Deutlichkeit, mit dem Ton, dem gegenüber der verführerische Schein fast seine [55] Macht verlor. Aus Asien entsprang dieser Quell: aber er mußte in Griechenland zum Strome werden, weil er hier zum ersten Male fand, was ihm Asien nicht geboten hatte, die reizbarste Sensibilität und Leidensfähigkeit gepaart mit der leichtesten Besonnenheit und Scharfsichtigkeit. Wie rettete Apollo das Hellenenthum? Der neue Ankömmling wurde in die Welt des schönen Scheins, in die Olympierwelt, hinübergezogen: es wurde ihm viel von den Ehren der angesehnsten Gottheiten, des Zeus z.B. und des Apollo, geopfert. Man hat nie mit einem Fremdling mehr Umstände gemacht: dafür war er auch ein furchtbarer Fremdling (hostis in jedem Sinne), mächtig genug das gastliche Haus zu zertrümmern. Eine große Revolution begann in allen Lebensformen: überall hin drang Dionysos, auch in die Kunst.
[…] [56] Der Bilderdienst der apollinischen Kultur, ob diese sich nun im Tempel, in der Statue oder im homerischen Epos äußerte, hatte sein erhabenes Ziel in der ethischen Forderung des Maaßes, welche der aesthetischen Forderung der Schönheit parallel läuft. Das Maaß als Forderung hingestellt ist nur dann möglich, wo das Maß, die Grenze als erkennbar gilt. Um seine Grenzen einhalten zu können, muß man sie kennen: daher die apollinische Mahnung γνῶϑι σεαυτόν[1]. Der Spiegel aber, in dem sich der apollinische Grieche allein sehen d. h. erkennen konnte, war die olympische Götterwelt: hier aber erkannte er sein eigenstes Wesen wieder, umhüllt vom schönen Scheine des Traumes. Das Maaß, unter dessen Joch sich die neue Götterwelt (gegenüber einer gestürzten Titanenwelt) bewegte, war das der Schönheit: die Grenze, die der Grieche innezuhalten hatte, war die des schönen Scheins. Der innerste Zweck einer auf den Schein und das Maaß hingewendeten Kultur kann ja nur die Verschleierung der Wahrheit sein: [57] dem unermüdlichen Forscher in ihrem Dienste wurde eben so wie dem übermächtigen Titanen das warnende μηδὲν ἄγαν[2] zugerufen. In Prometheus wird dem Griechenthum ein Beispiel gezeigt, wie die übergroße Förderung menschlicher Erkenntniß für den Förderer und den Geförderten gleich verderblich wirkt. Wer mit seiner Weisheit vor dem Gotte bestehen will, der muß wie Hesiod μέτρον ἔχειν σοφίης.[3]

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[…] [59] Vor allem galt es jene Ekelgedanken über das Entsetzliche und das Absurde des Daseins in Vorstellungen umzuwandeln, mit denen sich leben läßt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Lächerliche als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Diese beiden mit einander verflochtenen Elemente werden zu einem Kunstwerk vereint, das den Rausch nachahmt, das mit dem Rausche spielt.
Das Erhabene und das Lächerliche ist ein Schritt über die Welt des schönen Scheins hinaus, denn in beiden Begriffen wird ein Widerspruch empfunden. Andererseits decken sie sich keineswegs mit der Wahrheit: sie sind eine Umschleierung der Wahrheit, die zwar durchsichtiger als die Schönheit, aber doch noch eine Umschleierung ist. Wir haben in ihnen also eine Mittelwelt zwischen Schönheit und Wahrheit: in ihr ist eine Vereinigung von Dionysos und Apollo möglich. Diese Welt offenbart sich in einem Spiel mit dem Rausche, nicht in einem völligen Verschlungensein durch denselben.

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[…] [65] Der Schauspieler dagegen stellt das Symbol wirklich, nicht nur zum Scheine, dar: aber seine Wirkung auf uns beruht nicht auf dem Verstehen desselben: wir versenken uns vielmehr in das symbolisirte Gefühl und bleiben nicht bei der Lust am Schein, beim schönen Schein stehen.
So erregt im Drama die Dekoration gar nicht die Lust des Scheines, sondern wir fassen sie als Symbol und verstehen das damit angedeutete Wirkliche. Wächserne Puppen und wirkliche Pflanzen sind uns hier neben lauter gemalten ganz zulässig, zum Beweise, daß wir hier uns Wirklichkeit, nicht kunstvollen Schein vergegenwärtigen. Wahrscheinlichkeit, nicht mehr Schönheit ist hier die Aufgabe.
Was aber ist Schönheit? — „Die Rose ist schön“ heißt nur: die Rose hat einen guten Schein, sie hat etwas gefällig Leuchtendes. Über ihr Wesen soll damit nichts ausgesagt sein. Sie gefällt, sie erregt Lust, als Schein: d.h. der Wille ist durch ihr Scheinen befriedigt, die Lust am Dasein ist dadurch gefördert. Sie ist — ihrem Scheine nach — ein treues Abbild ihres Willens: was identisch ist mit dieser Form: sie entspricht nach ihrem Scheine der Gattungsbestimmung. Je mehr sie das thut, um so schöner ist : wenn sie ihrem Wesen nach jener Bestimmung entspricht, so ist sie „gut“.
„Ein schönes Gemälde“ bedeutet nur: die Vorstellung, die wir von einem Gemälde haben, ist hier erfüllt: wenn wir aber ein Gemälde „gut“ nennen, so bezeichnen wir unsre Vorstellung von einem Gemälde als die dem Wesen des Gemäldes entsprechende. [66] Zumeist aber wird unter einem schönen Gemälde ein Gemälde verstanden, das etwas Schönes darstellt: es ist das Urtheil der Laien. Diese genießen die Schönheit des Stoffes; so sollen wir die bildenden Künste im Drama genießen, nur daß es hier nicht Aufgabe sein kann, nur Schönes darzustellen: es ist genug, wenn es wahr scheint. Das dargestellte Objekt soll möglichst sinnlich lebendig aufgefaßt werden; es soll als Wahrheit wirken: eine Forderung, deren Gegentheil bei jedem Werke des schönen Scheins beansprucht wird. — […]

Die Geburt des tragischen Gedankens (1870)

[…] [73] In zwei Zuständen nämlich erreicht der Mensch das Wonnegefühl des Daseins, im Traum und im Rausch. Der schöne Schein der Traumwelt, in der jeder Mensch voller Künstler ist, ist der Vater aller bildenden Kunst und, wie wir sehen werden, auch einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es giebt nichts Unnöthiges und Gleichgültiges. Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins; erst wenn diese aufhört, beginnen die pathologischen Wirkungen, in denen der Traum nicht mehr erquickt, und die heilende Naturkraft seiner Zustände nachlässt. Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener Allverständigkeit uns vorführen: auch das Ernste, Traurige, Trübe, Finstere wird mit derselben Lust am Scheine angeschaut, nur dass eben auch hier der Schleier des Scheines in flatternder [74] Bewegung sein muss und die Grundformen des Wirklichen nicht völlig verhüllen darf. […]
[87] Das Erhabene und das Lächerliche ist ein Schritt über die Welt des schönen Scheins hinaus, denn in beiden Empfindungen liegt das Gefühl eines Widerspruchs eingeschlossen. Andernseits decken sie sich keineswegs mit der Wahrheit: sie sind eine Umschleierung der Wahrheit, die zwar durchsichtiger ist als [88] das festgewobene Gespinnst der Schönheit, aber doch noch eine Umschleierung ist. Wir haben in ihnen also eine Mittelwelt zwischen Wahrheit und Schönheit, in der eine Vereinigung von Dionysus und Apollo möglich ist. […]

Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

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[…] [383] Es giebt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch neben einander stehen, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraction; der letztere eben so unvernünftig, als der erstere unkünstlerisch ist. Beide begehren über das Leben zu herrschen: dieser, indem er durch Vorsorge, Klugheit, Regelmässigkeit den hauptsächlichsten Nöthen zu begegnen weiss, jener indem er als ein „überfroher Held“ jene Nöthe nicht sieht und nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real nimmt. Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen;

 

[1] [Gnōthi seautón] „Erkenne dich selbst!“ Dieser Ausspruch soll der Überlieferung nach auf den Säulen der Vorhalle des Apollontempels in Delphi gestanden haben. Er verweist auf die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens und warnt vor Selbstüberschätzung. Gleichwohl eröffnet er die Möglichkeit individueller Problembewältigung durch Selbstreflektion. In diesem Passus kritisiert Nietzsche, dass die Griechen bei der Einhaltung dieser Maxime scheiterten, da sie sich an der apollinischen Scheinwelt orientierten.

[2] [mēdén ágan] „Nichts im Übermass!“ Diese Maxime des Masses mahnt zur Bescheidenheit im eigenen Handeln und der individuellen Selbstkonzeption. Nietzsche polemisiert gegen die apollinische Schönheit als hellenisches Ideal dieses Masses, da die Griechen somit der Wahrheitsverschleierung erlägen.

[3] „Wer mit seiner Weisheit vor dem Gotte bestehen will, der muß wie Hesiod das richtige Maß an Weisheit halten.“

Editorische Notiz

Publikationsvorlage: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Berlin/ New York 1967. Diese Ausgabe der Werke, nachgelassenen Schriften und Fragmente Nietzsches dient als Referenz für die „Digitale Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und Briefen“ (eKGBW), herausgegeben von Paolo d‘lorio und publiziert von Nietzsche Source, welche auf http://www.nietzschesource.org/ zugänglich ist (Stand: 20.07.2011). Die hier veröffentlichten Textauszüge sind zunächst dieser digitalen Ausgabe entnommen, dann mit der gedruckten Ausgabe verglichen und vereinzelt zugunsten der letzteren korrigiert worden. Sie entstammen folgenden Bänden der gedruckten Kritischen Gesamtausgabe: „Die dionysische Weltanschauung“ (Abtlg. III, Bd. 2. 1973. S. 46, 50, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 59, 65, 66, 67); „Die Geburt des tragischen Gedankens“ (Abtlg. III, Bd. 2. 1973. S. 73, 74, 87, 88); „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ (Abtlg. III, Bd. 2. 1973. S. 383). Die in dieser Edition hinzugefügten, nummerischen Angaben in eckigen Klammern beziehen sich auf die Paginierung der gedruckten Kritischen Gesamtausgabe. Dem besseren Verständnis der griechischen Ausdrücke dienen die ebenfalls nachträglich angelegten Fußnoten. – Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert, fett gedruckte Ausdrücke fett übernommen, gesperrt gedruckte Hervorhebungen kursiviert.

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Bearbeitet von: Benjamin Puls