Nachgelassene Fragmente

Auszüge aus den Fragmenten der 1870er- und 1880er-Jahren

Von Friedrich NietzscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich Nietzsche

1870

5[25]
[102] […] Die Schönheit ist die Form, in der ein Ding unter einer Wahnvorstellung erscheint z.B. die Geliebte etc. […]

6[7]
[137] Das Logische hat als Ziel die Erkenntniß des „unlogischen Centrums“ der Welt: ebenso wie die Moral eine Art Logik ist. So wird durch diese Erkenntniß das Schöne nothwendig.
Das Logische ist die reine Wissenschaft der Erscheinung und bezieht sich nur auf den Schein. Bereits das Kunstwerk liegt außer ihr. Das Schöne als Spiegelung des Logischen. Die Gesetze der Logik sind das Objekt der Gesetze des Schönen.

7[1]
[145] Das Schöne in jeder Kunst beginnt erst, wo das rein Logische überwunden wird. Z.B. zeigt die Entwicklung der Harmonie eine solche Durchbrechung des physiologisch-Schönen zu einem höheren Schönen, eine immer entfleischtere Form des Schönen.
In jeder Sprache entwickelt sich der Begriff des Schönen aus einer verschiedenen Urbedeutung, z.B. aus dem „Reinen“ oder „dem Leuchtenden“ (Gegensätze „das Schmutzige“ und „das Dunkle“).

7[24]
[151] Bei der Pflanze bricht der Schönheitssinn durch, sobald sie dem wilden Existenzkampfe entrückt ist. Der Staat ist beim Menschen eines der Mittel, den Kampf ums Dasein zu beseitigen (indem der Kampf in höherer Potenz fortgeführt wird, als Staatenkrieg — wird der Einzelne frei). Die Natur pflanzt mittelst der Schönheit fort: diese ist ein Lockmittel im Dienste der Generation. — Die Natur pflanzt immer die höchsten Exemplare fort und hat auf sie das Auge.

7[27]
[151] Was ist das Schöne? — eine Lustempfindung, die uns die eigentlichen Absichten, die der Wille in einer Erscheinung [152] hat, verbirgt. Wodurch wird nun die Lustempfindung erregt? Objektiv: das Schöne ist ein Lächeln der Natur, ein Überschuß von Kraft und Lustgefühl des Daseins: man denke an die Pflanze. Es ist der Jungfrauenleib der Sphinx. Der Zweck des Schönen ist das zum Dasein Verführen. Was ist nun eigentlich jenes Lächeln, jenes Verführerische? Negativ: das Verbergen der Noth, das Wegstreichen aller Falten und der heitre Seelenblick des Dinges.
„Sieht Helena in jedem Weibe“ die Gier zum Dasein verbirgt das Unschöne. Negation der Noth, entweder wahrhafte oder scheinbare Negation der Noth ist das Schöne. Der Laut der Muttersprache im fremden Land ist schön. Das schlechteste Tonstück kann noch als schön empfunden werden im Vergleich zu widerlichem Geheul, während es anderen Tonstücken gegenüber als häßlich empfunden wird. So steht es auch mit der Schönheit der Pflanze usw. Es muß sich entgegenkommen das Bedürfniß der Negation der Noth und der Anschein einer solchen Negation.
Worin besteht nun dieser Anschein. Das Ungestüme, die Gier, das Sichdrängen, das verzerrte Sich-ausrecken darf nicht bemerkbar sein. Die eigentliche Frage ist: wie ist dies möglich? Bei der schrecklichen Natur des Willens? Nur durch eine Vorstellung, subjektiv: durch ein vorgeschobenes Wahngebilde, das das Gelingen des gierigen Weltwillens vorspiegelt; das Schöne ist ein glücklicher Traum auf dem Gesichte eines Wesens, dessen Züge jetzt in Hoffnung lächeln. Mit diesem Traum, dieser Ahnung im Kopfe sieht Faust „Helena“ in jedem Weibe. Wir erfahren also, daß der Individualwille auch träumen kann, ahnen kann, Vorstellungen und Phantasiebilder hat. Der Zweck der Natur in diesem schönen Lächeln seiner Erscheinungen ist die Verführung anderer Individuen zum Dasein. Die Pflanze ist die schöne Welt des Thieres, die gesammte Welt die des Menschen, das Genie die schöne Welt des Urwil [153] lens selbst. Die Schöpfungen der Kunst sind das höchste Lustziel des Willens.
Jede griechische Statue kann belehren, daß das Schöne nur Negation ist. — Den höchsten Genuß hat der Wille bei der dionysischen Tragödie, weil hier selbst das Schreckensgesicht des Daseins durch ekstatische Erregungen zum Weiterleben reizt.

7[121]
[175] Die Pflanze, die es im rastlosen Kampfe um das Dasein nur zu verkümmerten Blüthen bringt, blickt uns, nachdem sie durch ein glückliches Verhängniß diesem Kampfe enthoben ist, plötzlich mit dem Auge der Schönheit an. Was die Natur mit diesem [176] überall und sofort durchbrechenden Willen der Schönheit uns zu sagen hat, das ist erst an späterer Stelle zu besprechen: hier genüge uns auf diesen Trieb selbst aufmerksam gemacht zu haben, weil wir aus ihm etwas über den Zweck des Staates zu lernen haben. Die Natur strengt sich an zur Schönheit zu kommen: ist diese irgendwo erreicht, dann sorgt sie für die Fortpflanzung derselben: wozu sie einen höchst künstlichen Mechanismus zwischen Thier- und Pflanzenwelt braucht, wenn es gilt die schöne einzelne Blüthe zu perpetuiren […] .

1875

6[48]
[…] [193] – Denn was ist Schönheit, wenn nicht das von uns erblickte Spiegelbild einer ausserordentlichen Freude der Natur, darüber dass eine neue fruchtbare Möglichkeit des Lebens entdeckt ist? Und was ist Hässlichkeit, wenn nicht ihr Missmuth über sich selbst, ihr Zweifel, ob sie die Kunst zum Leben zu verführen, wirklich noch verstehe? […]

8[8]
[206] Es bedarf keineswegs des „schönen Wetters“, damit die Natur schön erscheine. Manche Natur bedarf sogar dazu des schlechten.

1876

23[81]
[527] Bei dem Ursprunge der Kunst hat man nicht von aesthetischen Zuständen und dergleichen auszugehen; das sind späte Resultate, ebensowie der Künstler. Sondern der Mensch wie das Thier sucht die Lust und ist darin erfindsam. Die [528] Moralität entsteht, wenn er das Nützliche sucht d.h. das was nicht sogleich oder gar nicht Lust gewährt, aber Schmerzlosigkeit verbürgt, namentlich im Interesse Mehrerer. Das Schöne und die Kunst geht auf das direkte Erzeugen möglichst vieler und mannichfaltiger Lust zurück. Der Mensch hat die thierische Schranke einer Brunstzeit übersprungen; das zeigt ihn auf der Bahn der Lust-Erfindung. Viele Sinnenfreuden hat er von den Thieren her geerbt (der Farbenreiz bei den Pfauen, die Gesangfreude bei den Singvögeln). Der Mensch erfand die Arbeit ohne Mühe, das Spiel, die Bethätigung ohne vernünftigen Zweck. Das Schweifen der Phantasie, das Ersinnen des Unmöglichen, ja des Unsinnigen macht Freude, weil es Thätigkeit ohne Sinn und Zweck ist. Mit den Armen und Beinen sich bewegen ist ein Embryo des Kunsttriebs. Der Tanz ist Bewegung ohne Zweck; Flucht vor der Langeweile ist die Mutter der Künste. Alles Plötzliche gefällt, wenn es nicht schadet, so der Witz, das Glänzende, Starktönende (Licht Trommellärm). Denn eine Spannung löst sich, dadurch daß es aufregt und doch nicht schadet. Die Emotion an sich wird erstrebt, das Weinen, der Schrecken (in der Schauergeschichte) die Spannung: alles was aufregt, ist angenehm, also die Unlust im Gegensatz zur Langeweile als Lust empfunden.

23[112]
[539] Das Erhabne wirkt als Reizmittel und Pfeffer auf Ermüdete, das Schöne bringt Beruhigung für die Erregten — das ist ein Hauptunterschied. Der Erregte scheut sich vor dem Erhabnen, der Ermüdete langweilt sich bei dem Schönen. Übrigens ist das Erhabne, wenn es vom Schönen disjungirt wird, identisch mit dem Hässlichen (d.h. allem Nicht-Schönen); und wie es eine Kunst der schönen Seele giebt, so auch eine Kunst der hässlichen Seele.

23[129]
[545] Der hochentwickelte Mensch thut die Natürlichkeiten des Daseins wie Essen Trinken usw. einfach ab, ohne viel Reden und falsche Verschönerung, welche frühere Culturstufen lieben. Ebendahin gehört auch die Geselligkeit, die Ehe; auf alle solche Dinge fällt nicht mehr jener starke Accent, welchen andere Zeiten dafür haben. Gut, es mag „formloser“ sein, unschöner zum Ansehen, der religiöse Anschein ist von diesen Dingen gewichen und damit viel „Poesie“. Indessen diese Einbussen werden reichlich compensirt, vor allem viel Energie gespart, Zeit gespart (wie bei unserer Kleidung) und der ganze Sinn nicht auf diese Äusserlichkeiten gerichtet. Jemand der es in etwas zur Meisterschaft bringen will, erhebt sich zu einer vornehmen Art zu sein durch sein Ziel. — Wie wir in den Künsten durch Vergeistigung eine Menge des Hässlichen mit in’s Reich der Kunst hinübergetragen haben, so auch im Leben; man muss fühlen, was in diesen auf den ersten Blick unschönen Lebensformen pulsirt, welche neuen und höheren Gewalten, da erschliesst sich dem Blick eine höhere Schönheit.

1878

32[18]
„In der Natur ist alles zum Nutzen, alles schön.“ Aber zu allerletzt, von Oben gesehen, beim Menschen auch. Schönheit ist da, nur das Auge fehlt, sie zu sehen. Wenigstens jene Natur-Schönheit, welche zugleich Nützlichkeit ist.

32[22]
„Veredelung des Luxus, nicht Abschaffung“ erstreben die Künstler — klagen die Idealisten. Aber das was man Abschaffung nennt (Verflüchtigung Sublimirung ist es) geschieht doch auf jenem Wege. Das Überflüssige ist die Voraussetzung alles Schönen.

1880

4[281]
[499] Die Liebe phantasirt über den Anderen: ihr geheimer Impuls ist, im Anderen so viel Schönes als möglich zu entdecken, oder ihn sich so schön als möglich zu denken. Die Illusion ist hier also eher ein Vortheil. Die Furcht will errathen, was [499] der Andere ist, was er kann und will: die Illusion wäre der größte Nachtheil. Also die Erkenntniß des wahren Menschen ist viel mehr durch Furcht als durch Liebe (Mitleid) gefördert worden.

4[296]
[503] Die Kunst hat auch die Phantasie-Befriedigung: und es ist diese unschuldiger und harmloser als sonst, weil die Schönheit den Maaßstab des Maaßes mitbringt, sodann weil die Musen sagen: „wir lügen“.

6[326]
[610] „Die Alten haben nichts gethan, um zu schmücken, und das Schöne ist bei ihnen nur la saillie de l’utile.“

6[331]
[611] Das Schöne scheint uns zuletzt nur ein Zustand, den das allseitig Nützliche hervorbringt: ein tiefes Wohlergehen, welches aus allen Linien und Bewegungen unserer Handlungen Worte hervorbricht: eine Harmonie vieler Nützlichkeiten, die zum Klingen kommt.

6[450]
[644] Wenn wir ein Buch nicht um des Anderen Willen zu lesen wissen, wie arm wird es sein! Wir müssen es empfinden wie der Autor — ist das moralisch? — Die ganze Küste mit Gebirge Meer und Oelbäumen und bezaubernden einsamen Pinien, alles [645] müssen wir entdecken. Und so aus uns herausgehend können wir auch mit den Menschen umgehen, als ihre Bereiser und Entdecker, Gutes und Böses ihnen erweisen, damit sie die ihnen eigene Schönheit zeigen, sonnenhaft oder gewitterhaft.
Bleiben wir in uns hängen, woran sollen wir wachsen und reicher werden! Zur Nahrung haben wir die Lust an Fremdem, eben an der Nahrung nöthig. Die Lust am Menschen ist unserer Nahrung wegen nöthig —

7[41]
[656] Die prachtvollen Leiber der antiken Statuen erscheinen schön, weil angenehm, weil nützlich (immer der Gedanke an Krieg!)

7[150]
[678] So lange ihr die Schönheit im Apollo findet, müßt ihr die dazu gehörige Moral suchen: jene Schönheit paßt nicht zur christlichen!

7[187]
[685] Man denke ja nicht, daß etwa Gesundheit ein festes Ziel sei: was hat das Christenthum die Krankheit vorgezogen und mit guten Gründen! Gesund ist fast ein Begriff wie „schön“ „gut“ — höchst wandelbar! Denn das Sich-wohl-fühlen tritt [686] in Folge langer Gewohnheit bei entgegengesetzten Zuständen des Leibes ein!

7[214]
[692] Apollo und die Moral der Mäßigkeit gehören zusammen: wer Wagner’s ideale Schönheit fände, würde sie gedunsen riesenhaft und nervös machen müssen.

7[242]
[697] Plato hat den Erkenntnißtrieb als idealisirten aphrodisischen Trieb geschildert: immer dem Schöneren nach! Das höchste Schöne offenbart sich dem Denker! Dies ist doch ein psychologisches Faktum: er muß beim Anblick und Denken seiner Allgemeinheiten einen sinnlichen Genuß gehabt haben, der ihn an den aphrodisischen erinnerte.

7[255]
[700] Für viele Maler war schön der Ausdruck der Frömmigkeit. Und da eine gewisse Armut an Fleisch, eine peinliche Haltung an den Frommen zu sehen war, übertrug diese die Empfindung des Schönen auch gerade auf diese Formen. Eine sehr lange und strenge Gewohnheit würde zuletzt sogar den Geschlechtssinn irre führen: der sehr fern davon ist, unbewußte Zweckmäßigkeiten zu Gunsten des zu Erzeugenden zu verfolgen.

7[295]
[710] Ihr glaubt nicht mehr Leidenschaft für etwas empfinden zu können, weil es nur kurz lebt oder weil es relativ werthvoll ist! Denkt doch an die Liebe zu einem Weibe! Zu Geld! Zu Ehrenstellen! Wenn es auch keinen ewigen Geschmack, keine ewige Schönheit und Tugend giebt, so kann das kurz Geltende erst recht Entzücken erregen, um es umarmen, es so gut es geht, dem Strom zu entreißen! Es mischt sich von nun an die Zärtlichkeit für das Hinfällige hinein!! NB.

8[100]
[734] Schön: jeder nennt das schön, was entweder der sichtbare Ausdruck dessen ist, was ihm angenehm (nützlich) ist oder die Erinnerung daran erweckt oder gewöhnlich mit ihm verbunden erscheint.

1881

11[302]
[455] Das Großartige in der Natur, alle Empfindungen des Hohen Edlen Anmuthigen Schönen Gütigen Strengen Gewaltigen Hinreißenden, die wir in der Natur und bei Mensch und Geschichte haben, sind nicht unmittelbare Gefühle, sondern Nachwirkungen zahlloser uns einverleibter Irrthümer, — es wäre alles kalt und todt für uns, ohne diese lange Schule. Schon die sicheren Linien des Gebirgs, die sicheren Farbenabstufungen, die verschiedene Lust an jeder Farbe sind Erbstücke: irgendwann war diese Farbe weniger mit gefahrdrohenden Erscheinungen verknüpft als eine andere und allmählich wirkte sie beruhigend (wie das Blau).

12[34]
[480] Meine Aufgabe: alle die Schönheit und Erhabenheit, die wir den Dingen und den Einbildungen geliehen, zurückfordern als Eigenthum und Erzeugniß des Menschen und als schönsten Schmuck, schönste Apologie dessen. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Macht, als Mitleid. O über seine königliche Freigebigkeit, womit er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und elend zu fühlen! Das ist seine größte „Selbstlosigkeit“, wie er bewundert und anbetet und nicht weiß und wissen will, daß er schuf, was er bewundert. — Es sind die Dichtungen und Gemälde der Urmenschheit, diese „wirklichen“ Naturscenen — damals wußte man noch nicht anders zu dichten und zu malen, als indem man in die Dinge etwas hineinsah. Und diese Erbschaft haben wir gemacht. — Es ist diese erhabene Linie, die Gefühl von trauernder Größe, dies Gefühl des bewegten Meeres alles erdichtet von unseren Vorfahren. Dieses Fest- und Bestimmtsehen überhaupt!

12[95]
[491] Nach dem periodischen Stile greifen alle, wie nach einem Gewande, welche sich nicht nackt zeigen wollen — sei es nun, daß sie ungestaltet sind, sei es, daß sie sich allzu schamhaft gewöhnt haben. Ihre Gedanken sind scheu und linkisch ohne Hülle — das Wenige von Anmuth, dessen sie fähig sind, zeigt sich erst, wenn die Falten der Periode ihnen Muth und Glauben an die eigene Würde geben. Dies wollen wir an ihnen ertragen und selbst gutheißen: nur bitten wir diese Mantelträger und Faltenreichen aus sich kein Gesetz der Moral und Schönheit zu machen: der periodische Stil ist und bleibt ein Nothbehelf und — — —

1882

3[1]
[85] 268. Der Mensch des Erhabenen wird beim Anblick des Erhabenen frei, fest, breit, ruhig, heiter: aber der Anblick des vollkommenen Schönen erschüttert ihn und wirft ihn um: vor ihm verneint er sich selber.

1883

7[18]
[251] Seit Kant ist alles Reden von Kunst, Schönheit, Erkenntniß, Weisheit vermanscht und beschmutzt durch den Begriff „ohne Interesse“.
Mir gilt als schön (historisch betrachtet): was an den verehrtesten Menschen einer Zeit sichtbar wird, als Ausdruck des Verehrungs-Würdigsten.

7[133]
[294] Unser Leib ist etwas viel Höheres Feineres Complicirteres Vollkommneres Moralischeres als alle uns bekannten menschlichen Verbindungen und Gemeinwesen: die Kleinheit seiner Werkzeuge und Diener ist kein billiges Argument dagegen! Was Schönheit betrifft, so steht seine Leistung am höchsten: und [295] unsre Kunstwerke sind Schatten an der Wand gegen diese nicht nur scheinende, sondern lebendige Schönheit!

7[151]
[300] 25) Schönheit des Leibes — das ist von den Künstlern zu oberflächlich gefaßt worden: dieser Oberflächen-Schönheit müßte eine Schönheit im ganzen Getriebe des Organismus nachfolgen — insofern reizen die höchsten Bildner zur Erschaffung schöner Menschen: das ist der Sinn der Kunst — sie macht unzufrieden, wer sich vor ihr beschämt fühlt, und schaffenslustig, wer Kraft genug hat. Die Folge eines Dramas ist: „so will ich auch sein, wie dieser Held“ — Anregung der schöpferischen, auf uns selber gewendeten Kraft!
Epicur verhält sich zur Stoa, wie Schönheit zur Erhabenheit: aber man müßte mindestens Stoiker sein, um diese Schönheit überhaupt erst erblicken zu können! um auf sie neidisch sein zu können!

7[154]
[301] Gegen Kant. Natürlich bin ich auch mit dem Schönen, das mir gefällt, durch ein Interesse verbunden. Aber es liegt nicht nackt vor. Der Ausdruck von Glück Vollkommenheit Stille, selbst das Schweigende, Sich-Beurtheilen-Lassende des Kunstwerks — redet alles zu unsren Trieben. — Zuletzt empfinde ich nur als „schön“, was einem Ideal („dem Glücklichen“) meiner eigenen Triebe entspricht z.B. Reichthum, Glanz, Frömmigkeit, Machtausströmung, Ergebung kann verschiedenen Völkern zum Gefühle „schön“ werden.

7[192]
[311] Das Stille-werden vor dem Schönen ist ein tiefes Erwarten, ein Hören-wollen auf die feinsten, fernsten Töne — wir benehmen uns einem Menschen ähnlich, der ganz Ohr und Auge wird: die Schönheit hat uns etwas zu sagen, deshalb werden wir stille und denken an nichts, an was wir sonst denken. Die Stille, jenes Beschauliche, Geduldige ist also eine Vorbereitung, nicht mehr! So steht es mit aller Contemplation: —
Aber die Ruhe darin, das Wohlgefühl, die Freiheit von Spannung? Offenbar findet ein sehr gleichmäßiges Ausströmen von unserer Kraft dabei statt: wir passen uns dabei gleichsam den hohen Säulengängen an, in denen wir gehen, und geben unsrer Seele solche Bewegungen, welche durch Ruhe und Anmuth Nachahmungen dessen sind, was wir sehen. So wie uns eine edle Gesellschaft Inspiration zu edlen Gebärden giebt.

8[6]
[337] […] Bei den Thieren sind die Weibchen nicht geschmückt, die Schönheit gehört den Männchen zu — die Begehrenden und Kämpfenden werden schön.
das Weib macht bei uns „Eroberungen“
[338] Die höhere Schönheit der Weiber unter Menschen beweist, daß die Weiber hier die kämpfenden und begehrenden sind; sie verstehen sich leicht darauf, den Mann zu erobern. […]

9[23]
[364] […] Wenn Schönheit nicht zu eurer Nothdurft gehört, was ist mir eure Sucht zum Schönen!
Nicht die Sattheit, sondern die Schönheit soll das Ende des Verlangens sein. […]

Zarathustra‘s heilige Gelächter

13[1]
[447] […] Voraus wirft die Vollendung ihren Schatten: Schönheit heiße ich diesen Schatten — das Leichteste und Stillste aller Dinge kam zu mir als Schatten des Übermenschen. [449]  […] Hinweg über euch Menschen lockt mich alle Schönheit: fort von allen Göttern lockt mich alle Schönheit: so warf ich Anker auf offenem Meere und sagte: „hier sei einst die Insel des Übermenschen!“
Und wenn eure Schönheit nicht selber Buße predigt, was wird euer Wort vermögen!

16[11]
[528] […] Haß gegen den Kantischen Obscurantismus, gegen die Kantische Lehre vom interesselosen Wohlgefallen und Schweigen des Willens.

1884

25[101]
[31] Von den Mitteln der Verschönerung. Eine Albernheit, die dem alten Kant zur Last zu legen ist: „es gefällt ohne Interesse.“ Und da weist Mancher noch mit Stolz darauf hin, daß er beim Anblick einer griechischen Venus usw. Dagegen habe ich den Zustand beschrieben, den das Schöne hervorbringt: das Wesentlichste ist aber vom Künstler auszugehn. Sich den Anblick der Dinge erträglich zu machen, sie nicht zu fürchten, und ein scheinbares Glück in sie hineinlegen — Grundempfindung, daß der glückliche, Sich selber Liebende Mensch kein Wehethäter ist. — Dieses Umdeuten des Thatsächlichen in’s Glückliche „Göttliche“ hat nun der Mensch auch auf sich verwandt: diese Mittel der Selbst-Verschönerung und der Verschönerung des Menschen überhaupt ist Moral. Darin ist: 1) Wegsehn 2) Sehen, was gar nicht da ist — Zusammenfassen Vereinfachen 3) Sich verstellen, so daß Vieles nicht sichtbar wird 4) sich verstellen, so daß das Sichtbarwerdende einen falschen Schluß ergiebt. — Das Produkt ist der „gute Mensch“, wozu immer eine Gesellschaft gehört. Es ist also im Wesen der Moral Etwas, das wider die Redlichkeit geht: weil sie Kunst ist. Wie ist es nun möglich, daß es eine „Redlichkeit“ giebt, welche die Moral selber zersetzt? — 1) Diese Redlichkeit muß aus dem Thatsachen-Sinn abzuleiten sein: nämlich man hat zu viel Schaden gehabt von dieser Heuchelei der Verschönerung, die Geschädigten reißen die Maske herunter 2) es giebt einen Genuß des Häßlichen, wenn es furchtbar ist: die Emotion des furchtbaren Anblicks der wahren [32] menschlichen Natur ist oft gesucht worden von den Moralisten 3) der christliche Affekt der Selbst-Zerstörung, der Widerspruch gegen alles Verschönernde hat gearbeitet: die Lust der Grausamkeit. 4) der alte Sklaven-Sinn, welcher sich niederwerfen will und schließlich vor der nackten „Thatsache“ niederwirft, nachdem nichts übrig geblieben ist, Vergötterung der facta, der Gesetze usw. ein Ausruhen nach langer Arbeit der Zerstörung von Göttern, Aristokratien, Vorurtheilen usw., und Folge eines Blicks ins Leere)
Das Gesammt-Resultat aller Moralisten: der Mensch ist böse — ein Raubthier. Die „Verbesserung“ geht nicht auf den Grund, und ist mehr äußerlich, das „Gute“ ist wesentlich Decoration, oder Schwäche.
Dabei aber standen die Moralisten selber unter der Nachwirkung der moral Urtheile, oder des Christenthums, der Welt-Verneinung: Niemand noch hat ein Vergnügen an diesem Resultat gehabt. Das heißt: sie haben die Werthschätzung der „Guten“ selber!
„Man muß den Menschen verschönern und erträglich machen“: dagegen sagte das Christenthum und der Buddh — man muß ihn verneinen. Es hat also im Grunde nichts so gegen sich als den guten Menschen: den haßt es am meisten. Deshalb suchen die Priester Selbst-Zerstörung des Genusses an sich mit allen Mitteln.
Die griechischen Philosophen suchten nicht anders „Glück“ als in der Form, sich schön zu finden: also aus sich die Statue zu bilden, deren Anblick wohlthut (keine Furcht und Ekel erregt)
Der „häßlichste Mensch“ als Ideal weltverneinender Denkweisen. Aber auch die Religionen sind noch Resultate jenes Triebs nach Schönheit (oder es aushalten zu können): die letzte Consequenz wäre — die absolute Häßlichkeit des Menschen zu fassen, das Dasein ohne Gott, Vernunft usw. — reiner Buddhismus. Je häßlicher, desto besser.

1885

43[1]
Entwurf.

[437] Das erste Problem ist: wie tief der „Wille zur Wahrheit“ in die Dinge hinein geht? Man ermesse den ganzen Werth der Unwissenheit im Verband der Mittel zur Erhaltung des Lebendigen, insgleichen den Werth der Vereinfachungen überhaupt und den Werth der regulativen Fiktionen, z.B. der logischen, man erwäge vor Allem den Werth der Ausdeutungen, und in wiefern nicht „es ist“, sondern „es bedeutet“ — — —
so kommt man zu dieser Lösung: der „Wille zur Wahrheit“ entwickelt sich im Dienste des „Willens zur Macht“: genau gesehen ist seine eigentliche Aufgabe, einer bestimmten Art von Unwahrheit zum Siege und zur Dauer zu verhelfen, ein zusammenhängendes Ganze von Fälschungen als Basis für die Erhaltung einer bestimmten Art des Lebendigen zu nehmen.
Problem: wie tief der Wille zur Güte hinab in das Wesen der Dinge geht. Man sieht überall, bei Pflanze und Thier, das Gegentheil davon: Indifferenz oder die Härte oder Grausamkeit. Die „Gerechtigkeit“ „die Strafe“. Die Entwicklung der Grausamkeit.
Lösung. Das Mitgefühl ist nur bei socialen Bildungen (zu denen der menschliche Leib gehört, dessen lebendige Einzelwesen mit einander fühlen) da, als Consequenz davon, daß ein größeres Ganze sich erhalten will gegen ein anderes Ganze, und wieder weil im Gesammt-Haushalt der Welt, wo es keine [438] Möglichkeit des Zugrundegehens und Verlierens giebt, Güte ein überflüssiges Princip würde.
Problem: wie tief die Vernunft dem Grunde der Dinge zukommt. Nach einer Kritik von Zweck und Mittel (— kein faktisches Verhältniß, sondern immer nur ein hineingedeutetes), der Charakter der Verschwendung, der Verrücktheit ist Gesammthaushalt normal. Die „Intelligenz“ erscheint als eine besondere Form der Unvernunft, beinahe als ihre boshafteste Caricatur.
Problem: wie weit der „Wille zum Schönen“ reicht. Rücksichtslose Entwicklung der Formen: die schönsten sind nur die stärksten: als die siegreichen halten sie sich fest, und werden ihres Typus froh, Fortpflanzung. (Platos Glaube, daß selbst Philosophie eine Art sublimer Geschlechts— und Zeugetrieb sei.)
Die Dinge also, welche wir bisher am Höchsten geschätzt haben: als das „Wahre“, „Gute“, „Vernünftige“, „Schöne“, erweisen sich als Einzelfälle der umgekehrten Mächte — ich zeige mit dem Finger auf diese ungeheure perspektivische Fälschung, vermöge deren die Species Mensch sich selber durchsetzt. Es ist ihre Lebensbedingung, daß sie an sich selber Lust deshalb hat (der Mensch hat Freude an den Mitteln seiner Erhaltung: und zu ihnen gehört es, daß der Mensch sich nicht will täuschen lassen, daß Menschen sich gegenseitig helfen, sich zu verstehen bereit ; daß im Ganzen die gelungenen Typen auf Unkosten der mißrathenen zu leben wissen). In dem Allen drückt sich der Wille zur Macht aus, mit seiner Unbedenklichkeit zu den Mitteln der Täuschung zu greifen: es ist ein boshaftes Vergnügen denkbar, daß ein Gott empfindet beim Anblick des sich selber bewundernden Menschen.
Also: der Wille zur Macht.
Consequenz: wenn uns diese Vorstellung feindselig ist, warum geben wir ihr nach? Heran mit den schönen Trugbildern! Seien wir Betrüger und Verschönerer der Menschheit! Thatsache, was eigentlich ein Philosoph ist.

1886

7[3]
[266] „Schönheit“ ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: — daß keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht — das ergötzt den Machtwillen des Künstlers. […]

1887

8[1]
[335] […] zur Genesis der Kunst. Jenes Vollkommen-machen, Vollkommen-sehen, welches dem mit geschlechtlichen Kräften überladenen cerebralen System zu eigen ist (der Abend zusammen mit der Geliebten, die kleinsten Zufälligkeiten verklärt, das Leben eine Abfolge sublimer Dinge, „das Unglück des Unglücklich-Liebenden mehr werth als irgend etwas“): andrerseits wirkt jedes Vollkommene und Schöne als unbewußte Erinnerung jenes verliebten Zustandes und seiner Art zu sehen — jede Vollkommenheit, die ganze Schönheit der Dinge erweckt durch contiguity die aphrodisische Seligkeit wieder. Physiologisch: der schaffende Instinkt des Künstlers und die Vertheilung des semen ins Blut… Das Verlangen nach Kunst und Schönheit ist ein indirektes Verlangen nach den Entzük [336] kungen des Geschlechtstriebes, welche er dem Cerebrum mittheilt. Die vollkommen gewordene Welt, durch „Liebe“ . . . […]

9[6]
Zur Aesthetik
[6] […] wo die Schönheit der Vollkommenheit sich zeigt, wird die Welt der Sinnlichkeit und des Rausches mit erregt, aus alter Verwachsenheit. Deshalb gehört zum religiösen Glück die Sinnlichkeit und der Rausch.
Und wesentlich insgleichen die sensualistische Erregbarkeit der Künstler.
schön“ wirkt entzündend auf das Lustgefühl; man denke an die verklärende Kraft der „Liebe“. Sollte nicht umgekehrt wiederum das Verklärte und Vollkommene die Sinnlichkeit sanft erregen, so daß das Leben als Wohlgefühl wirkt? —

10[167]
Aesthetica.
[220] Zur Entstehung des Schönen und des Häßlichen. Was uns instinktiv widersteht, aesthetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen als schädlich, gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der plötzlich redende aesthetische Instinkt (im Ekel z.B.) enthält ein Urtheil. Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werthe des Nützlichen, Wohlthätigen, Lebensteigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von Ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen d.h. der Vermehrung von Machtgefühl geben (— nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindung solcher Dinge oder ihre Symbole)
Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsere obersten Erhaltungswerthe. Davon abgesehn ein Schönes und ein Häßliches ansetzen wollen ist sinnlos. Das Schöne existirt so wenig als das Gute, das Wahre. Im Einzelnen handelt es sich wieder um die Erhaltungsbedingung einer bestimmten Art von Mensch: so wird der Heerdenmensch bei anderen Dingen das Werthgefühl des Schönen haben als der Ausnahme- und Über-mensch.
Es ist die Vordergrunds-Optik, welche nur die nächsten Folgen in Betracht zieht, aus der der Werth des Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt
Alle Instinkt-Urtheile sind kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie rathen an, was zunächst zu thun ist. Der Verstand ist wesentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagiren auf das Instinkt-Urtheil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger.
[221] Die Schönheits- und Häßlichkeits-Urtheile sind kurzsichtig — sie haben immer den Verstand gegen sich —: aber im höchsten Grade überredend; sie appelliren an unsere Instinkte, dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, bevor noch der Verstand zu Worte kommt…
Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen regen sich gegenseitig auf und an; wo der aesthetische Trieb einmal in Arbeit ist, krystallisirt sich um „das einzelne Schöne“ noch eine ganze Fülle anderer und anderswoher stammender Vollkommenheiten. Es ist nicht möglich, objektiv zu bleiben resp. die interpretirende, hinzugebende, ausfüllende dichtende Kraft auszuhängen (— letztere ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen selber) Der Anblick eines „schönen Weibes“…
Also: 1) das Schönheits-Urtheil ist kurzsichtig, es sieht nur die nächsten Folgen
2) es überhäuft den Gegenstand, der es erregt, mit einem Zauber, der durch die Association verschiedener Schönheits-Urtheile bedingt ist, — der aber dem Wesen jenes Gegenstandes ganz fremd ist.
Ein Ding als schön empfinden heißt: es nothwendig falsch empfinden… (— weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirath die gesellschaftlich unvernünftigste Art der Heirath ist —).

10[168]
Aesthetica.
Es ist die Frage der Kraft (eines Einzelnen oder eines Volkes), ob und wo Urtheil „schön“ angesetzt wird. Das Gefühl der Fülle, der aufgestauten Kraft (aus dem es erlaubt ist, Vieles muthig und wohlgemuth entgegenzunehmen, vor dem dem Schwächling schaudert) — das Machtgefühl spricht das Urtheil schön noch [222] über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der Ohnmacht nur als hassenswerth als „häßlich“ abschätzen kann. Die Witterung dafür, womit wir ungefähr fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung, — diese Witterung bestimmt auch noch unser aesthetisches Ja: („das ist schön“ ist eine Bejahung)
Daraus ergiebt sich, in’s Große gerechnet, daß die Vorliebe für fragwürdige und furchtbare Dinge ein Symptom für Stärke ist: während der Geschmack am Hübschen und Zierlichen den Schwachen, den Delikaten zugehört. Die Lust an der Tragödie, kennzeichnet starke Zeitalter und Charaktere: ihr non plus ultra ist vielleicht die div com. Es sind die heroischen Geister, welche zu sich selbst in der tragischen Grausamkeit Ja sagen: sie sind hart genug, um das Leiden als Lust zu empfinden… Gesetzt dagegen, daß die Schwachen von einer Kunst Genuß begehren, welche für sie nicht erdacht ist, was werden sie thun, um die Tragödie sich schmackhaft zu machen? Sie werden ihre eigenen Werthgefühle in sie hinein interpretiren: z.B. den „Triumph der sittlichen Weltordnung“ oder die Lehre vom „Unwerth des Daseins“ oder die Aufforderung zur Resignation (— oder auch halb medizinische, halb moralische Affekt-Ausladungen à la Aristoteles) Endlich: die Kunst des Furchtbaren, insofern sie die Nerven aufregt, kann als stimulans bei den Schwachen und Erschöpften in Schätzung kommen: das ist heute z.B. der Grund für die Schätzung der W Kunst.
Es ist ein Zeichen von Wohl- und Machtgefühl, wie viel Einer den Dingen ihren furchtbaren, ihren fragwürdigen Charakter zugestehen darf; und ob er überhaupt „Lösungen“ am Schluß braucht, —
[223] — diese Art Künstler-Pessimismus ist genau das Gegenstück zum moralisch-religiösen Pessimismus, welcher an der „Verderbniß“ des Menschen, am Räthsel des Daseins leidet. Dies will durchaus eine Lösung, wenigstens eine Hoffnung auf Lösung… Die Leidenden, Verzweifelten, An-sich-Mißtrauischen, die Kranken mit Einem Wort, haben zu allen Zeiten die entzückenden Visionen nöthig gehabt, um es auszuhalten (der Begriff „Seligkeit“ ist dieses Ursprungs) — Ein verwandter Fall: die Künstler der décadence, welche im Grunde nihilistisch zum Leben stehn, flüchten in die Schönheit der Form… in die ausgewählten Dinge wo die Natur vollkommen ward, wo sie indifferent groß und schön ist…
— die „Liebe zum Schönen“ kann somit etwas Anderes als das Vermögen sein, ein Schönes zu sehn, das Schöne zu schaffen: sie kann gerade der Ausdruck von Unvermögen dazu sein.
— die überwältigenden Künstler, welche einen Consonanz-Ton aus jedem Conflikte erklingen lassen, sind die, welche ihre eigene Mächtigkeit und Selbsterlösung noch den Dingen zu Gute kommen lassen: sie sprechen ihre innerste Erfahrung in der Symbolik jedes Kunstwerkes aus, — ihr Schaffen ist Dankbarkeit für ihr Sein.

Die Tiefe des tragischen Künstlers liegt darin, daß sein aesthetischer Instinkt die ferneren Folgen übersieht, daß er nicht kurzfristig beim Nächsten stehen bleibt, daß er die Ökonomie im Großen bejaht, welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige rechtfertigt und nicht nur… rechtfertigt.

Editorische Notiz

Publikationsvorlage: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Berlin/ New York 1967. Diese Ausgabe der Werke, nachgelassenen Schriften und Fragmente Nietzsches dient als Referenz für die „Digitale Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und Briefen“ (eKGBW), herausgegeben von Paolo d‘lorio und publiziert von Nietzsche Source, welche auf http://www.nietzschesource.org/ zugänglich ist (Stand: 20.07.2011). Die hier veröffentlichten Textauszüge sind zunächst dieser digitalen Ausgabe entnommen, dann mit der gedruckten Ausgabe verglichen und vereinzelt zugunsten der letzteren korrigiert worden. Sie entstammen folgenden Bänden der gedruckten Kritischen Gesamtausgabe:1870 (Abtlg. III, Bd. 3. 1978. S. 102, 137, 145, 151, 152, 153, 175, 176); 1875 (Abtlg. IV, Bd 1. 1976. S. 193, 206); 1876 (Abtlg. IV, Bd. 2. 1967. S. 527, 528, 539, 545); 1880 (Abtlg. V, Bd. 1. 1971. S. 499, 500, 503, 610, 644, 645, 656, 678, 685, 686, 692, 697, 700, 710, 734); 1881 (Abtlg. V, Bd. 2. 1973. S. 455, 480, 491); 1882 (Abtlg. VII, Bd. 1. 1977. S. 85); 1884 (Abtlg. VII, Bd. 1. 1977. S. 251, 294, 295, 300, 301, 311, 337, 338, 364, 447, 449); 1884 (Abtlg. VII, Bd. 2. 1974. S. 31, 32); 1885 (Abtlg. VII, Bd. 3. 1974. S. 437, 438); 1886 (Abtlg. VIII, Bd. 1. 1974. S. 266); 1887 (Abtlg. VIII, Bd. 1. 1974. S. 335); 1887 (Abtlg. VIII, Bd. 2. 1970. S. 6, 220, 221, 222, 223). Die in dieser Edition hinzugefügten, nummerischen Angaben in eckigen Klammern beziehen sich auf die Paginierung der gedruckten Kritischen Gesamtausgabe. – Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert, fett gedruckte Ausdrücke fett übernommen, gesperrt gedruckte Hervorhebungen kursiviert.

Kommentar und Literaturhinweise zu allen Nietzsche-Texten finden Sie hier.

Bearbeitet von: Benjamin Puls