23.-24.12.2018 – Morgen war Weihnachten

 

23.12.2018

Morgen war Weihnachten.
Das sag ich noch einmal und dann nimmermehr.
Mein letztes Mondjahr beginnt.

Wie zum Beweis hat sich der Kugelmond kurz sehen lassen. Und dann ließen er und die Gedanken, die Gedanken, mich nicht schlafen. Meine Tochter fliegt gegen Morgen nach Lissabon. Unser Weihnachten ist vorbei, wir sind glücklich über die Bücher, die wir uns geschenkt haben. Altes Land habe ich bis ein Uhr gelesen, als ich schlafen wollte, war ich hellwach.

Wie lasse ich 2018 zu Ende gehen, wie fange ich 2019 an? Fest steht, dass nach dreimal zwölf Monden zu Ende geht, was ohnesinn angefangen hat. Drei Jahre – habe ich gesagt.
Dass es inzwischen eine Ordnung gibt, macht es schwer. Oder leicht? Weil der Anfang vom Ende schweben kann? Kann er das?

Ouaga 1995

16.11.1995

Vergiß Weihnachten. Deshalb.
Ich bin vor Weihnachten auf und davon.
Nie mehr Weihnachten, habe ich gesagt. Weihnachten nie mehr da, wo sie Kind war. Die Hoffnung, du kriegst sie groß in ein Leben, das leben will. Ein Leben mit Freude.
Vergiß

Die Störche sind schon da. Alle. Ich habe sie eingeholt.

Aller Anfang ist leer. Und dann.
Eine Woche vor dem ersten Todestag bin ich wieder hier.
Nicht an ihrem Grab, nicht bei dem Hochhaus, nicht bei mir. Hier.
Das Flugzeug ließ die tote Landschaft unter sich zurück. So sollte es sein. Man mußte es sich schon sehr warm machen, um dem etwas entgegenzusetzen. Ich konnte das nicht. Hier muß ich es nicht. Es ist alles schon da, ich muß es nur fühlen. Das ist alles.
Die Augen aufmachen und eine Welt sehen, die unberührt von mir ist. Den süßen Duft der blühenden Bäume riechen. Die Akazien sind es diesmal nicht, ich glaube, es sind die Mangoblüten. Irgendein Baum hat immer Frühling am Winteranfang, aber vielleicht sind es auch die kleinen gelben Blüten eines fast dürren Strauches, die diesen starken Duft verbreiten. Und die vielen zarten Vogelstimmen hören, die besonders gegen Abend und in der Nacht die Ohren verwirren.
Und für Wärme brauche ich nicht zu sorgen, ich muß mich ihr nur aussetzen.
Der Wärme der Luft und der Wärme der Menschen. Ich habe immer das Gefühl, daß sie sich freuen, wenn sie mir eine Freude machen kön­nen. Wenn ich komme und sage: ich brauche dieses oder jenes, und denke, das gibt es hier bestimmt nicht, haben sie sofort eine Idee, wie sie mir dazu verhelfen können. Sie sind so erfinderisch mit ihren bescheidenen Mitteln.
So aufgenommen bin ich da und werde es bleiben. Das ist keine Frage mehr.
Mein Dasein bedarf keiner Rechtfertigung. 

18.11.1995

Überhaupt weiß ich alles wieder. Daß es das Beste war, was mir passieren konnte: nach ihrem Tod wieder nach Afrika zu gehen. Ich habe das oft gesagt, ohne zu wissen warum.
Jetzt weiß ich es: Weil es niemanden gab im Haus und in den Straßen und überall und irgendwo, der davon wußte.
Weil niemand mich hätte fragen können: Wie geht es dir jetzt? – und es nicht tat. Das war wie eine Freiheit. Die Leere eines Anfangs. Die ungesehenen Bilder einer anderen Welt fanden darin Platz.
Ich bin froh, alles wiederzufinden, als hätte ich gefürchtet, es sei eine Fata Morgana gewesen. Eine Spiegelung in der Luft der weiten Auffahrt zu unserem Gästehaus.
Und als dann die Fledermäuse aus den Bäumen fielen, wie sie es immer tun in der Stunde zwischen Hund und Wolf, da hätte ich in die Hände klatschen mögen vor Freude. Es gibt sie! Es gibt mich. Ich bin da.
Den großen Bananenbaum vor meinem Fenster gibt es nicht mehr. An seiner Stelle stehen zwei kleine junge Pflanzen, die eine hat zwei Blätter, die andere erst eines. Die Fenster sind so schmal und so hoch wie immer. Wenn ich im Bett liege, füllen sie gerade meine schmerzenden halbgeschlossenen Augen. Die Schatten noch so lang und schon so heiß!
Die Ohnmacht vor der Sonne fühlen und den Genuß der Ohnmacht. Du kannst nicht ausweichen. Sie trifft dich ganz. Den immer nassen Körper. So kennst du ihn nicht. Es ist deiner und er ist es nicht. Dein afrikanischer Körper. Zwei Tage wird er überleben, wenn du gehst.

So weit muß mein Afrika sein. So weit wie hier. Mein Blick soll sich im Dunst vor dem Horizont verlieren, damit ich nicht sehe, wo ein Ende ist. Die Menschen ziehen manchmal mit ihren schwerbeladenen Rädern auf unsichtbaren Wegen leise Linien durch das Bild. Ihre Schritte sind schnell, als wäre ihr Ziel immer sehr, sehr weit entfernt. Und die Stimmen sollen unverständlich bleiben. Weißsein heißt Draußensein. So stimmt es wieder. Draußen und da.

Das was man Selbstwertgefühl nennt, und von dem ich niemals viel hatte, fehlt mir seit ihrem Tod ganz. Jeder Tod eines geliebten Menschen ist ein Verlassenwerden, das meine Liebe disqualifiziert und zurückstößt. Mich ganz und gar entwertet.
Um wieviel mehr noch muß das so ein gezielter Tod tun.
Da bleibt nichts zurück, was man lieben könnte. Ich glaube keinem mehr.
In einem blitzhaften Durchblick habe ich das schon sehr bald gewußt. Daß ich Zeichen von Zuneigung nun immer verkennen würde. Daß ich damit jeden, der mir näherkommen wollte, verletzen würde durch meine Ungläubigkeit. Ich würde nicht glauben können, daß mich einer mag, ich würde mißtrauisch prüfen und wehtun, wenn ich es überhaupt an mich herankommen ließ. 

24.12.1995

Nachtmarkt an der Avenue Charles de Gaulle: die Frauen lachen, als ich vor einem Auto erschrecke, das mir auf dem Fußweg entgegenkommt. Als ich auf dem Rückweg wieder vorbeigehe, machen sie mein Erschrecken lachend nach. Die ersten Mangos sind da.
Von allen Seiten wird geknallt. Von wegen stille Nacht. Weihnachten ist hier überhaupt nicht still. Die Schafe blöken, die Ziegen schreien auf den Dächern der Busse, auf die sie mit zusammengebundenen Füßen geworfen worden sind, unter ihnen hängen die bunten runden Rücken der Menschen aus den Fenstern, so viele wollen heute noch von hier nach dort.
Ich fahre hinter einem Widder her, er hat es verhältnismäßig gut: Man hat ihn mit einem Brett auf den Sattel des Mofas gebunden, so hängen seine Füße und sein Kopf nicht herunter auf seiner letzten Fahrt. Ich suche seinen Blick. Der ist schwarz und geht überall hin, auch zu mir.
Eine Frau trägt eine riesige Schüssel voller Hähne auf ihrem Kopf in die Stadt. Die roten Kämme schauen rundherum über den Schüsselrand. Die werden auch nicht mehr krähen. Wie die, die büschelweise und in Trauben an den Fahrrad- oder Mofalenkern hängen, wenn der Sattel an keiner Seite noch ein einziges mehr fassen kann. Kein Huhn gackert, wenn ihm die Füße gebunden sind und der Kopf nach unten hängt, man hört sie überhaupt nicht. Anders die Schafe und Ziegen. Oft höre ich es jämmerlich blöken und schreien, und wenn ich mich suchend umsehe, entdecke ich sie auf einem Sattel oder Autodach.

Jetzt streichen die Kinder ihre Krippen aus Lehm. Basil ist mit der weißen Farbe schon fertig, seine Hände sind weiß, er hat Spritzer im Gesicht und auf Armen und Beinen. Jetzt sucht er nach einem Schwamm oder Lappen, mit dem er das matte, helle Rotbraun auf das Dach reiben kann. Ein graues Pulver, das im Wasser weiß wird, ein braunes und ein dunkelblaues liegen auf auseinandergefaltetem Zeitungspapier vor der Krippe. Ob sie die Farben gekauft hätten, frage ich. Nein, sie sind nicht gekauft, sondern man könne sie finden. Wo? Überall. Überall sind es die gleichen Farben: das Weiß, das helle Rotbraun und das leuchtende Blau. Mit dem Blau, das er im Wasser aufgelöst hat, beginnt Basil nun, die Krippe zu bemalen. Mit einem Hölzchen, das er für jeden Punkt aufs Neue in die Farbe tauchen muß, malt er Blumen und Tiere auf seine kleine Kirche, zuletzt einen Elefanten. Aus seinem Rüssel wächst eine Sprechblase: Ich wünsche frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr. 

Basil ist immer so ernst, daß ich ihn gerne einmal zum Lachen bringen würde. Als er den Elefanten reden läßt, schmunzelt er, taucht fix das Hölzchen ein, zweimal für jeden Buchstaben und schreibt und schreibt. Andere, die im Besitz eines Pinsels sind, haben es da leichter, da genügt es, für ein ganzes großes Wort nur einmal einzutauchen. Natürlich werden ihre Linien klarer, schärfer. Das sind schon die Profis. Dazwischen liegen die stumpfen, kurzen, abgestoßenen und harten Pinsel. Auch gefunden. Oder die Buchstaben, die als Schablonen geschnitten sind. Basil hat das alles nicht, er nimmt sich Zeit. Am frühen Morgen hat er angefangen, nachmittags ist er fertig. Da fangen andere erst an.

Am Abend komme ich noch einmal. Ich bin noch nie bei Nacht in Tangin gewesen. Als ich vom Mofa steige und kein Licht mehr habe, fürchte ich mich. Wovor? Vor einem Griff aus dem Dunkel? Stimmen, Lachen, man hat mich schon lange gesehen.
Es ist mir unheimlich, daß selbst das, was mir inzwischen so vertraut geworden ist, einfach nicht mehr zu sehen ist. Die Stimmen in den Höfen sind lebhaft, wechseln, es geht hin und her. Reden sie miteinander, ohne sich zu sehen? Oder sehen sie mehr als ich?
Die Nacht macht uns nicht gleicher. Sie werden schwärzer, ich werde weißer. Ich kann nichts erkennen, sie sehen mich sofort. Stehen plötzlich neben mir, ich erkenne ihre Stimmen, sehe ihre Zähne, denke: Das muß die oder der von der einen oder der anderen Krippe sein. Wenn sie mir so nahe gekommen sind, habe ich keine Angst mehr. Es ist ja auch noch immer so warm, warum sollte ich da Angst haben. Unheimlich ist es nur, solange das Schwarze sich nicht bewegt und nicht spricht.
Habt ihr hier kein Licht? frage ich einen der Jungen, die ich regelmäßig besucht habe, und er antwortet: eins. Er verschwindet im Dunkeln und kommt mit einer Petroleumlampe zurück, die stellt er vor seine Krippe. Jetzt sehe ich die Bemalung, die er am Nachmittag noch gemacht haben muß. Viel gröber und größer als bei Basil und nur das Blau auf dem Weiß.
Ob ich ein Bild machen wolle? Warum nicht. Ich halte den Sucher in ihre Richtung und drücke ab. Einmal, zweimal, dreimal, sicherheitshalber.
Wieder einmal fotografiere ich ewas, das ich nicht sehe. Schwarze Weihnachten. Ihr Fest ist morgen.

25.12.95

Ich habe meinen Schlüssel ins Zimmer gesperrt am Heiligen Abend. Kein Fortkommen mehr. Kein Fortgehen. Gar kein Fest. Ausgesperrt von allem. Ich habe mich ausgesperrt eingesperrt.

Gegen Mittag habe ich mein Mofa beladen. Kekse, Bonbons, Kugelschreiber und Stifte für die Kinder und T-Shirts für die Baumeister und für Nadeche. Und natürlich die Fotos. Kaum abgestiegen bin ich schon umringt. Ich mache meine gewohnte Runde, um die Kinder zu den Bildern zu finden. Das gelingt mir nicht immer, vieles wird mir entrissen. Irgendwann habe ich nichts mehr. Fini. Schluss.
Dieses Fini wird hier doch eigentlich immer verstanden. Aber heute ist es nicht so.
Warum hat der die Fotos? Er gibt sie nicht her! Ich habe noch nichts! Sein T-shirt ist schöner. Warum habe ich keines bekommen? Die anderen Stifte sind besser. Noch Stunden später kommt René und möchte seinen Kugelschreiber gegen einen anderen tauschen.
Da habe ich etwas falsch gemacht. Ich wollte ihnen eine Freude machen, und jetzt streiten sie sich. Sehen mißmutig und unzufrieden aus. Ich habe kein Glück gebracht.
Vergiß Weihnachten.

Für Cynthia habe ich eine kleine Plastikpuppe im Supermarkt gekauft. Es ist eine Weiße, andere gab es nicht. Cynthia machte einen Satz und hüpfte abwechselnd auf dem einen und dem anderen Bein durch den Hof. Dann lief sie zu ihrer Mutter und wollte etwas von ihr, ihre drängenden Gesten verrieten es. Die Mutter ist mit einem verschämten Lächeln aufgestanden, ins Haus gegangen und mit einem Tuch wiedergekommen. Das hat sie Cynthia um Brust und Bauch gebunden, so daß sie ihre Puppe auf dem Rücken tragen kann.
Für mich habe ich bei den behinderten Frauen eine schwarze Stoffpuppe gefunden, mit einer aus Wolle geflochtenen Frisur, die ein Baby fest in eine Pagne, einen Streifen Stoff, gewickelt auf dem Rücken hat. Am liebsten würde ich ihr jedes Mal, wenn ich an ihr vorbeigehe, einen Kuß auf den gestickten Mund drücken.

Wenn sie mich fragen werden, wie viele Kinder ich habe, werde ich sagen: ich hatte zwei.
Jetzt habe ich nur noch eine Tochter. Ihre ältere Schwester hat sich umgebracht, als sie 29 Jahre alt war. Vor einem Monat und einem Jahr. 

Ernte der Schlaflosigkeit.
Ich muss in den Wald hinauf. Weit hinauf und noch weiter, so weit nach Süden, wie ich noch nie gegangen bin. Endlich dann nach Westen, nach Hause, irgendwie.
Der Weg hört mitten im Wald auf, eine schmale Spur führt durchs Gebüsch und den Fichtenwald weiter und hinunter. Es ist kein Weg, es ist die Spur von Mountainbikes, die hier über Schanzen springen. Macht Mühe, ich atme auf, als ich unten bin. Geschafft.

SMS aus Lissabon. Meine Tochter schreibt aus der Sonne, dass sie in ihrer Manteltasche den Reserveschlüssel meines Autos gefunden hat, und dass ich nicht suchen soll. Ich antworte, dass es der Drittschlüssel ist, den ich ihr überlassen habe für irgendwelche Fälle. Welche Fälle eigentlich? Dass ich mit meinem Schlüssel irgendwo gestrandet wäre und mein Auto heimgefahren werden müsste? Wer denkt sich bloß sowas aus.

24.12.2018

Es ist so weit und bald vorbei! Dieser Gedanke lässt mich fröhlich aufstehen, nachdem ich die ganze Nacht stündlich wach geworden bin. Viel kann nicht mehr passieren, die Gefahr des Enttäuschens und enttäuscht Werdens ist vorbei. Komisch, dass die noch immer in der Luft liegt. Wo ich doch nun schon so lange übe, mir die Angst davor abzugewöhnen. Nur nach Ouaga, wo die Weihnachtsdekoration das ganze Jahr über den Straßen hängt, und nach Timbuktu und nach Namibia ist sie mir nicht gefolgt. Die Angst konnte nicht fliegen.  Windhuk 24.12.2003: Weihnachten kann vergehen, ohne Weihnachten zu sein. Trotz der Tannenbäume auf dem Laufband im Flughafen.

Ouaga 1996 

     21.12.96

Die Blätter fallen laut. Sie knallen vor Trockenheit. Irgendein Baum hat immer auch Herbst. Herbst und Frühling zugleich. Früchte und Blüten. Süße Blüten und süße Früchte.
Ein schwarzer Vogel mit einem weißen Häubchen, so wunderschön, wie man sie bei uns nur im Märchen oder im Käfig kennt, hackt wie besessen auf sein Spiegelbild im Autodach ein. Er kann nicht davon lassen, immer wenn er sich ein Stückchen entfernt hat, kehrt er zurück, um weiterzuhacken. 

Es ist gut, wenn die Auffahrt zum Haus so lang ist, daß man die Kommenden schon von Weitem erkennt und ihrer Ankunft in Ruhe entge­gensehen kann.
Als ich hinausgehe, sehe ich die unsichtbaren Wege: um jeden Baum führt ein hartgetretener Pfad. Ein Netz nach überallhin.

22.12.96

Wintersonnwende: Sonnenaufgang 6.20, Sonnenuntergang 17.45. Sagt ein Fernsehapparat.
Es wird einen Vollmond geben.

23.12.96

Freiheit von Hoffnung ist auch eine Freiheit. Mit der hüpfe ich über die schrägen Sonnenstrahlen und durch sie hindurch.
Morgen war Weihnachten! Auf diesen Satz freue ich mich jedes Jahr wieder. Morgen war.
Und ich werde überallhin gehen können, mich wird keiner erwarten und – was noch wichtiger ist – ich werde keinen erwarten. Es kann ein Flugzeug vom Himmel fallen und es kann es bleiben lassen, was das Wahrscheinlichere ist. Der Schnee kann nach Ouagadougou kommen und er kann es ebenso bleiben lassen, was sicher ist.
Und sie wäre ein glückliches Kind. 

Glücklichsein beginnt immer ein Stückchen über der Erde.

Der Gecko nickt mir aufmunternd zu, rennt weiter, kommt wieder, schaut mich an und nickt wieder. Uralt sieht er aus mit seiner stumpfen faltigen Haut. Aber die Eidechsen sind jung. Zwei Eidechsen kämpfen miteinander. Umkreisen sich. Greifen sich an. Halten still. Fallen blitzartig übereinander her. Ihre blau und grün gestreifte Haut glänzt in der Sonne. 

Wenn die Sonne den Mond verdeckt, was wir eine Mondfinsternis nennen, dann sagen sie: Die Katze greife den Mond an, sie überfalle ihn. Und man muß die Katze mit viel Lärm erschrecken, damit sie den Mond wieder losläßt. Deshalb schreien und trommeln sie, so laut sie können, bis die Katze den Mond wieder freigibt. Hätten sie nicht so laut geschrieen und getrommelt, so hätten wir den Mond niemals wiedergesehen. 

24.12.96

Mami, freust du dich auch so auf Weihnachten? Kinderfrage.
Ich weiß nicht, wie lange ich meiner Mutter mit dieser Frage auf die Nerven gefallen bin. Ihre Antwort war ein müdes trauriges Lächeln, das etwas verbergen sollte, was es verriet, und sie sagte: Ach weißt du, das ist ein Fest für die Kinder. Später ist das nicht mehr so. Warum? habe ich nicht gefragt. Warum habe ich nicht gefragt?
Ich habe es nicht geglaubt.
Dabei war es damals schon nicht so. 

Was es war: Ich habe einen Tag lang die Lamettafäden einzeln an die Tannennadeln des Baumes gehängt, der wieder einmal „schlecht gewachsen“ war. Der Vater hatte ihn gekauft. Ich habe die Kugeln verteilt und die Kerzen aufgesteckt und dabei darauf geachtet, daß keine Kerze unter einem Ast zu brennen kam. Wie war ich doch perfekt mit meinen neun oder zehn Jahren. Meine Kinder steckten die Kerzen immer gerade dahin, wo es ihnen einfiel. Wir hätten jedes Jahr einen Zimmerbrand haben können. Dann hatte ich die „bunten Teller“ für das Personal und für uns drei mit Apfelsinen, Mandarinen, Plätzchen, Nüssen, Schokolade und Marzipan vollzuladen – „die müssen überlaufen“, war die Anweisung meiner Mutter. Schließlich habe ich alles weggeräumt und den Raum verlassen. Wenn ich die Schiebetüre hinter mir zumachte, bildete ich mir ein, ich wäre es nicht gewesen. Und erwartete die Überraschung.
Dann habe ich wieder alles bekommen, was ich mir gewünscht hatte, mein „Wunschzettel“ war ein zuverlässiger Bestellzettel. In dem Jahr, als ich das Transistorradio bekam, ging ich weinend damit ins Bett und fühlte mich undankbar.

Ich habe mir vorgenommen, meinen Kindern nie alles zu geben, was sie sich gewünscht haben, und zu erraten, was sie sich wünschen könnten, woran sie selbst nicht dachten. Ich habe es auch darin zu einer gewissen Perfektion gebracht. Auch später wollten sie die Überraschungen lieber nicht durch Wünsche verbrauchen.

Ich wollte wieder einmal die für mich unvorstellbar beladenen Räder auf dem Weg zum Markt fotografieren. Zwei Ziegen auf einen Gepäckträger geschnürt. Bündel von zwanzig, dreißig Perlhühnern rechts und links an den Füßen zusammengebunden an die Lenkstange gehängt. Tonkugeln mit Dolo, dem selbstgebrauten Bier fest am Sattel und auf dem Gepäckständer verzurrt, nur der weiße Schaum ist nicht zu halten. Ich hatte mir schon seit Wochen einen Platz dafür ausgesucht. Aber heute war das Licht schlecht, und die erwarteten Hühner- und Ziegenverkäufer kamen nicht. Nur wenige Hühner oder kleine Hühnerbündel an den Lenkstangen kamen zurück, und einzelne Ziegen waren über die Schulter oder den Sattel gehängt. Advent ist halt doch nicht Ramadan, und Weihnachten nicht Tabaski, das große Hammelfest. 

Wer jetzt kein Huhn hat, findet keines mehr. Zum Häuserbauen aber eine gute Zeit – die Ziegel trocknen allenthalben in der Sonne.

Cold war war gut. Und gut ist, Bilder aus diesen Zeiten im Kopf zu haben, staunend, dass ich da schon immer dabei war. Nach dem heißen und in dem kalten Krieg.

Mit diesen Bildern im Kopf und den neuesten Känguruh-Geschichten im Auto fahre ich jetzt nach Coburg in meine Ferienfamilie.